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Den Lomborg zum Gärtner machen

This article is misleading.

I think the article misrepresents statistics and cherry picks some facts to support its position while ignoring relevant ones.

The author misleads the audience with flawed logic, omission of important information, and cherry-picked examples.

The article contains numerous scientific errors, does not provide references for some of its key claims, and ignores much of the published literature on the subjects discussed.

Diese nicht gerade schmeichelhaften Urteile stammen von Professoren, Assistenzprofessoren, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und sie alle gelten Björn Lomborg.

Der Däne ist Politologe und Statistiker und schreibt immer wieder in verschiedenen englischsprachigen Medien Artikel zum Thema Klimawandel. Das führt wiederum zu Urteilen wie oben, die auf der Plattform “Climate Feedback” erscheinen, wo Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Medienberichte aus ihren Fachgebieten kommentieren und bewerten. Lomborgs Texte wurden durchweg als “biased” und “misleading” eingestuft. Diese Einschätzungen bestätigt auch der Abschnitt “Rezeption” seiner Wikipedia-Seite, die eine illustre Sammlung von kleineren und größeren wissenschaftlichen Katastrophen ist: Da findet man den Vorwurf, Lomborg nutze öfter nicht-peer-reviewte Arbeiten anstatt die entscheidende wissenschaftliche Literatur, er soll mit schiefen Vergleichen und irreführendem Zahlenmaterial soziale und ökologische Probleme verharmlosen und habe Daten erfunden.

Dieser Björn Lomborg schreibt jetzt für “Bild” und Bild.de. Das passt doch.

Screenshot Bild.de - Björn Lomborg versus Greta Thunberg - Forscher rechnet mit Klima-Greta ab

Nun könnte man erstmal auf den Kniff der Bild.de-Redaktion hinweisen, Lomborg auf der Startseite als “Forscher” zu bezeichnen und nicht etwa als Politologen oder Statistiker. “Forscher” erinnert im allgemeinen Sprachgebrauch vermutlich stärker an “Naturwissenschaftler”, der sich in Klimafragen auskennen könnte. Allerdings muss man auch sagen, dass in der Politikwissenschaft ebenfalls geforscht wird. Interessanter ist da eigentlich zu gucken, wie sehr Lomborg denn überhaupt forscht in einem wissenschaftlichen Sinne. Und da sieht es recht mau aus: Fast alle seiner Veröffentlichungen seien Meinungsstücke, die von anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern so gut wie nie zitiert werden, so die Kritik.

Unter der Überschrift “Ja, die Erderwärmung ist real, ABER …” stellt Björn Lomborg also heute in “Bild” die “Thesen von Greta Thunberg infrage”. Zum Beispiel so:

CO2 STEHT FÜR WOHLSTAND

Wir stoßen CO2 nicht aus Böswilligkeit aus. CO2 hat Menschen aus der Armut geholt. Noch vor 100 Jahren war unser Leben mit Knochenarbeit verbunden. Unsere Situation hat sich erheblich dadurch verbessert, dass große Mengen an Energie zur Verfügung stehen. Unsere Lebenserwartung hat sich verdoppelt. In den letzten 25 Jahren hat Energie mehr als eine Milliarde Menschen aus der Armut befreit.

Es ist ein rasanter Sprung, den Lomborg innerhalb von wenigen Zeilen hinlegt: Erst schreibt er von “CO2”, rasch ist er bei “Energie”, und schon wirkt es so, als wollte irgendjemand generell die Energiegewinnung statt den CO2-Ausstoß stoppen. Eine derartige Forderung von Vertretern von Fridays For Future, ernstzunehmenden Wissenschaftlerinnen oder seriösen Forschern ist uns nicht bekannt.

Weiter geht’s bei Lomborg mit:

WENIGER TODESFÄLLE

Tatsache ist, dass wetterbedingte Katastrophen vor 100 Jahren jedes Jahr eine halbe Million Menschen getötet haben. Aufgrund von zurückgehender Armut und besserer Klimaresistenz kommen heute nur 20 000 Menschen durch Dürren, Überflutungen und Hurrikans ums Leben.

Neben “zurückgehender Armut und besserer Klimaresistenz” dürften noch andere Gründe für den Rückgang verantwortlich sein, schreibt ein Klimawissenschaftler dazu, etwa das deutlich verbesserte weltweite Gesundheitswesen. Außerdem merkt er an, dass Todesfälle durch Hitzewellen durchaus steigen.

Nimmt man einen anderen Bezugspunkt als “vor 100 Jahren”, sieht es auch schon anders aus als in Lomborgs Darstellung: Einem UN-Bericht zufolge haben die Schäden durch klimabedingte Naturkatastrophen zwischen 1998 und 2017 im Vergleich zum vorangegangenen 20-Jahres-Zeitraum deutlich zugenommen.

Am Ende schreibt Björn Lomborg noch:

WAS MENSCHEN WIRKLICH WOLLEN

Als die UN zehn Millionen Menschen weltweit befragten, was ihre Prioritäten seien, waren die Antworten: Gesundheit, Bildung, Jobs und Nahrung. Das Klima wurde als letzte von 16 Antwortmöglichkeiten genannt. Nicht, weil es unwichtig ist, sondern weil für große Teile der Menschheit andere Themen viel dringlicher sind.

Wie in seinem gesamten “Bild”-Artikel gibt Lomborg auch hier keine Quelle an. Wir vermuten, er bezieht sich auf die MyWorld Survey der UN von 2015. Damals haben 9,74 Millionen Menschen Themen genannt, die für sie von Bedeutung sind. Tatsächlich landete dabei “Action taken on cliamte change” auf Platz 16.

Zu der groß angelegten Umfrage sei angemerkt, dass die verschiedenen Länder der Erde nicht gerade proportional in den Ergebnissen vertreten sind: 48,4 Prozent aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen aus nur zwei Ländern (Nigeria und Mexiko). Der Grund dafür dürfte sein, dass die Partnerorganisationen der UN dort besonders fleißig waren.

Vor allem aber gibt es inzwischen eine neuere Auflage dieser MyWorld Survey, die noch bis 2030 laufen soll. Daran haben zwar noch nicht zehn Millionen Menschen teilgenommen, aber immerhin schon knapp 500.000. Der Aspekt “Climate Action” liegt nun auf Rang 8 der Prioritäten. Die Daten, mit denen Lomborg argumentiert, sind schlicht überholt.

Als “Bild” vor knapp drei Wochen Björn Lomborgs Thesen schon einmal groß im Blatt präsentierte (“Was ist schlimmer — Greta oder die Zukunft, Herr Professor?”), gab es direkt Widerspruch und Gegenargumente von zwei Professoren. Die Redaktion verkaufte das Ganze am nächsten Tag als große Debatte (“Die Klima-Debatte wird immer heißer”). Und sie fand auch Unterstützer für Lomborgs Aussagen: zwei FDP-Politiker.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

Taschenspielertricks, Meinung mit Folgen, Trumps Ex-Sprecherin

1. Das Verbot von “linksunten.indymedia” ist zweifelhafter denn je
(uebermedien.de, Andrej Reisin)
Andrej Reisin kritisiert auf “Übermedien” die juristische Vorgehensweise beim Verbot der Website “linksunten.indymedia”: “Wenn der Staat Publikationen verbieten kann, ohne die eigentlich gebotene verfassungsrechtliche Abwägung überhaupt vorzunehmen, dann ist der Schritt zu einer staatlichen Zensur durch die Hintertür nicht mehr weit. Wenn jede Webseite über ihre tatsächlichen oder vermeintlichen Betreiber zum “Verein” erklärt und verboten werden kann, dann nützt die Pressefreiheit im Zweifelsfall nicht mehr viel.”

2. Mann teilt Artikel der “Deutschen Welle” im Netz – und wird dafür verurteilt
(augsburger-allgemeine.de, Jan Kandzora)
Ein 24-jähriger Asylbewerber aus Tschetschenien teilt einen Beitrag über den IS und gerät deswegen ins Visier der Augsburger Justiz. Bei dem Artikel handelt es sich jedoch nicht um mit Gewaltdarstellungen angereichertes Propagandamaterial des sogenannten Islamischen Staats, sondern um einen Beitrag der Deutschen Welle. Jan Kandzora ist dem Fall nachgegangen, der einige Fragen aufweist.

3. Falsche Nachrichten – falsche Erinnerungen
(spektrum.de, Daniela Zeibig)
“Fake News” können zu falschen Erinnerungen führen. Dies haben Forscher vom University College Cork herausgefunden, die 3000 irischen Probanden sechs Nachrichtentexte vorlegten, von denen zwei frei erfunden waren. “Spektrum”-Redakteurin Daniela Zeibig berichtet von dem Forschungsprojekt, das demnächst auf Themen wie Brexit-Referendum und “MeToo”-Bewegung ausgeweitet werden soll.

4. Andrea Nahles atmet auf
(taz.de, Jagoda Marinic)
Jagoda Marinic schreibt über ihre Eindrücke vom diesjährigen Kulturempfang der Sozialdemokratie in Berlin. Es ist ein sehr lesenswerter, da feinfühlig-menschlicher Text geworden. Marinic begegnet auf dem Empfang der Ex-SPD-Chefin Andrea Nahles, einer Person, die sie eigentlich nicht besonders mag. Im Verlauf des Abends revidiert Marinic ihre Ansicht jedoch: Die Politikerin, die ihr dort begegnete, sei ihr medial nie vermittelt worden: “Es heißt, die SPD finde nur noch schwer gutes politisches Personal. Auch das ist kein Spezifikum dieser Partei, sondern ein grundsätzliches Problem. Für Frauen allemal. Nicht nur Parteien verschleißen ihr Personal. Wie sehr ist einer Berichterstattung zu trauen, der es nicht gelungen ist, eine Politikerin wie Andrea Nahles in ihrer Komplexität zu zeigen? Und welcher Mensch bei Verstand will in die Höhle dieser Löwen?”

5. “Tagesthemen”-Kommentare: Meinungen mit Folgen
(ndr.de, Gaby Biesterfeldt, Video: 6:02 Minuten)
Wohl kein journalistisches Format ruft so heftige Reaktionen hervor wie der Kommentar. Gaby Biesterfeldt hat für “Zapp” die “Tagesthemen”-Redaktion besucht und sich mit den Verantwortlichen und Kommentierenden über die Auswirkungen ihrer Arbeit unterhalten.

6. Trumps Ex-Sprecherin fängt bei seinem Lieblingssender an
(sueddeutsche.de)
Die Ex-Sprecherin von US-Präsident Donald Trump, Sarah Huckabee Sanders, nutzt ihre Erfahrungen im Umgang mit “Fake News” und wechselt zu dem darauf spezialisierten TV-Sender Fox News — oder um es mit den Worten Willy Brandts zu sagen: “Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört”.

Anwalts Alpha-Liebling, Unhaltbare “Spiegel”-Story, Linnemanns Law

1. Kollegah und die Baulig Consulting GmbH haben …
(twitter.com/danieldrepper)
Der Rapper Kollegah und eine mit ihm zusammenarbeitende Consulting-Firma haben anscheinend “BuzzfeedNews” und “Vice” mit etwa einem Dutzend Abmahnungen überzogen. Anlass der teuren Anwaltsschreiben: Die Investigativrecherche über Kollegahs “Alpha Mentoring”-Programm. Daniel Drepper schreibt in einem Twitter-Thread: “Kollegah und Baulig greifen auch Medien an, die über unsere Recherche berichtet haben. Auch kleine Medien, die es nicht gewohnt sind, angegriffen zu werden. Die Schreiben sind unserer Ansicht nach haltlos, aber sie sollen offenbar der Einschüchterung dienen. Das reicht von “presserechtlichen Informationsschreiben” bis zu konkreten Abmahnungen. Wir wollen darüber berichten und betroffenen Medien helfen: Wer solche Schreiben bekommen hat, der melde sich bitte bei mir.”

2. Was hat der “Spiegel” zu verbergen?
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Ausgerechnet den Reporter, gegen den ernstzunehmende Fälschungs-Vorwürfe im Raum stehen, will der “Spiegel” zum Leiter seines Investigativ-Teams machen. Anstatt die Sache transparent aufzuklären, mauert das Blatt und setzt auf Aussitzen. Stefan Niggemeier fragt: “Was hat der “Spiegel” zu verbergen? Die ganzen Vorgänge wären zu jedem Zeitpunkt zweifelhaft gewesen, aber wie kann der “Spiegel” auch nach dem Relotius-Skandal noch glauben, mit einer Vernebelungstaktik durchzukommen?”

3. Linnemanns Regel: Keine Interviews für Paid Content-Angebote
(indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
In den vergangenen Tagen stand der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Carsten Linnemann im Mittelpunkt der Kritik. Medien hatten über seine angebliche Forderung nach einem Grundschulverbot für Kinder mit schlechten deutschen Sprachkenntnissen berichtet. Eine Darstellung, die nicht sofort überprüfbar war, denn das Interview mit Linnemann stand hinter einer Anmelde- und Werbeschranke. Thomas Knüwer hat für derartige Fälle einen generellen Tipp: “Gib niemals ein Interview, das hinter einer Paid Content-Wand oder Anmeldeschranke verschwindet.” Und er erweitert die “Linnemansche Regel” um eine zusätzliche Option: “Wenn Du einem Medium mit Bezahlschranke ein Interview gibst, dann veröffentliche es zeitgleich selber auf Deinen Präsenzen.”

4. Rechter Terrorismus in El Paso: Warum medial immer so zimperlich?
(fr.de, Katja Thorwarth)
Viele Medien bezeichnen die Terrortat eines Rechtsextremisten in El Paso mit Worten wie “Massenmord”, “Bluttat”, “Blutbad” oder “Schusswaffenattacke” und vermeiden damit die sich aufdrängende politische Einordnung. In einem Kommentar für die “FR” fragt Katja Thorwarth: “Woher kommt der zaghafte Umgang mit der terroristischen Rechten? Wird hier, vielleicht auch unbewusst, so zurückhaltend agiert, weil viele Thesen in der Gesellschaft längst verankert sind? Weil die sogenannte Mitte inklusive der sogenannten Konservativen immer nach rechts tendierte und somit inhaltlich-politisch dem rechten Terror — bezüglich seiner theoretischen Legitimation — näher steht, als die viel lieber in den Fokus gestellte Linke?”
Lesenswert auch: Margarete Stokowskis Artikel Kein Ruhm für Mörder, in dem sie an einen 50 Jahre alten Adorno-Vortrag erinnert, der nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat (spiegel.de).

5. Frau kontert bei Facebook – ist die Familientragödie erfunden?
(t-online.de, Lars Wienand)
In einem zehntausendfach geteilten Facebook-Beitrag berichtete eine Frau auf sehr emotionale Weise von einer biografischen Anekdote, wahrscheinlich um der Hetze im Zusammenhang mit dem vor den Zug gestoßenen Jungen in Frankfurt etwas entgegenzusetzen. Leider bestehen erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Geschichte: Die Frau habe den Beitrag mittlerweile gelöscht und verweigere jede Auskünfte dazu.

6. Song: Bild
(facebook.com/extra3)
“Extra3” hat “Bild” einen eigenen Song gewidmet. Aus Gründen: “Die Bild-Zeitung fragt seit Tagen, was man gegen Hetze tun kann. Wir hätten da eine Idee.”

Seelische Hornhaut der “Kronen Zeitung”, Jürgs-Nachruf, Velerkultur

1. Presserat rügt “Krone” wegen erfundenen Interviews mit Witwe
(derstandard.at)
Sie muss zentimeterdick sein, die seelische Hornhaut bei der österreichischen “Kronen Zeitung”. Dort hat man in Zusammenhang mit dem Todesfall eines Kärntner Gastronomen nicht nur ein unverpixeltes Familienfoto samt minderjähriger Tochter veröffentlicht. Nein, man hat auch noch ein erfundenes Interview mit der Witwe zusammenfantasiert. Nachdem es eine Rüge vom Presserat gab, versicherte der “Kronen”-Chef, man werde in Zukunft “noch behutsamer und vorsichtiger vorgehen”. “Noch” …

2. Pierre M. Krause: “Auch ein Auslacher ist ein Lacher”
(dwdl.de, Kevin Hennings)
“DWDL” hat sich mit dem TV-Moderator Pierre M. Krause über dessen Late-Night-Format (“Pierre M. Krause Show”), einen potenziellen Senderwechsel und die Notwendigkeit einer täglichen Late-Night unterhalten.
Tipp: Wem Krauses sehenswerte SWR3-Latenight bislang entgangen ist: In der ARD-Mediathek gibt es einige der vergangenen Sendungen.

3. 7500 Zeichen am Tag
(sueddeutsche.de, Hans Leyendecker)
Ende vergangener Woche ist der Journalist Michael Jürgs nach einer schweren Krebserkrankung im Alter von 74 Jahren verstorben. Jürgs war ein journalistischer Frühstarter und schon mit 23 Feuilleton-Chef bei der Münchner “Abendzeitung”. Stationen bei “Tempo” und “Stern” folgten. Daneben schrieb Jürgs einige Sachbücher und Biografien (unter anderem den Bestseller “Der Fall Romy Schneider”) und moderierte die NDR-Talkshow. Hans Leyendecker erinnert an einen bemerkenswerten Journalisten und Publizisten.
Weiterer Tipp: Jürgs gab “Zapp” 2013 ein Interview über die “Zukunft des Journalismus”. Hintergrund war der Verkauf verschiedener Springer-Regionalzeitungen an die Funke Mediengruppe.

4. “Der Satiriker darf erst mal alles”
(spiegel.de, Elisa von Hof)
Dominik Bauer ist Teil des Karikaturisten-Duos “Hauck und Bauer” und dort für den nicht-zeichnerischen Part zuständig. Im Gespräch mit “Spiegel Online” geht es um den Karikaturen-Ausstieg der “New York Times”, die Bedeutung der Sozialen Medien, Shitstorms und Beifall von der falschen Seite.

5. Hinterzimmer-Politik
(uebermedien.de, Andreas Püttmann)
“Übermedien” fragt regelmäßig nach dem persönlichen “Hasswort”. Für den Politikwissenschaftler und freien Publizisten Andreas Püttmann ist es der Begriff von der “Hinterzimmer-Politik”.

6. Wir sind das Medienmagazin “journalist” und haben auf unserem Juli-Cover das Wort “Journalismus” falsch geschrieben. Argh.
(twitter.com/journ_online)
Kein Medium ist vor Rechtschreibfehlern oder unglücklichen Formulierungen gefeit. Das Medienmagazin “journalist” atmet den Schmerz über einen Lapsus weg, indem es auf Twitter die Kolleginnen und Kollegen nach ähnlichen Schnitzern fragt. Die Ergebnisse sind teilweise ganz lustig und zugleich beruhigend. Schließlich machen wir alle mal einen Veler.

Verlage als willige Facebook-Spione, Seehofers Schein-Dementi, Click­bait

1. Facebook trackt Nutzer auf drei Viertel aller deutschen Nachrichtenseiten
(rufposten.de, Matthias Eberl)
Matthias Eberl hat 130 deutsche Nachrichtenseiten ausgewertet. 75 Prozent würden Seitenaufrufe an Facebook weiterleiten, obwohl die Gesetze diese Form von Tracking untersagen würden. Auf das Argument, dass Nutzerinnen und Nutzer sich dagegen durch technische Maßnahmen schützen könnten, entgegnet Ebner: “Die systematische Auswertung unserer persönlichen Mediennutzung durch Facebook ist aber kein privates Problem, es hat eine gesellschaftliche Dimension. Daher sollte das Problem direkt bei den Verlagen gelöst werden.” Bis dies hoffentlich irgendwann geschieht, hat Ebner Tipps zur Selbsthilfe.

2. Ibiza-Video: Strache zeigt auch “Spiegel” und “Süddeutsche” an
(derstandard.at, David Krutzler)
Der wegen des Ibiza-Videos zurückgetretene FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache hat seinen Anwalt Strafanzeige gegen alle Personen erstatten lassen, “die für Herstellung, Verbreitung und Veröffentlichung des Videos mitwirkend verantwortlich sind”. In Wien hatte er bereits eine derartige Anzeige erstattet, nun erfolgte dies auch in Hamburg und München, wo “Spiegel” und “Süddeutsche” ansässig sind. “Auch diese Strafanträge erfolgen in dem Bestreben, die Hintergründe, Beteiligten und möglichen Auftraggeber der Videoherstellung und Videoverbreitung zu ermitteln”, so Straches Anwalt.

3. Statement des Orga-Teams zur Bloggerin des Jahres 2017
(die-goldenen-blogger.de)
Das Organisationsteam der “Goldenen Blogger” hat der “Bloggerin des Jahres 2017” die Auszeichnung aberkannt: “Wir haben uns an diesem Wochenende untereinander beraten, recherchiert und mit fachkundigen Menschen gesprochen, um eine angemessene Reaktion zu finden. Was bringt Menschen dazu, so zu handeln? Diese Frage hat uns in den vergangenen Tagen umgetrieben. Wir fürchten: Die Antwort ist ebenso düster und traurig wie viele der Geschichten auf Readon, my dear.”
Zum Hintergrund: Bloggerin soll Holocaust-Opfer erfunden haben (tagesspiegel.de, Julia Prosinger).

4. Was macht eine gute Multimedia-Reportage aus?
(journalist-magazin.de, Jens Radü)
Jens Radü hat sich als “Head of Multimedia” beim “Spiegel” Gedanken darüber gemacht, was eine gute Multimedia-Reportage ausmacht, jenseits von Bauchgefühl und Klickraten. Radü hat zehn Qualitätskriterien definiert, ist sich jedoch bewusst, dass dies nicht die Antwort auf alle Fragen ist: “Und? Ist das nun die Ikea-Bauanleitung für eine perfekte Multimedia-Geschichte? Die Schablone, mit der alles gut und einfach wird? Nein. Eine schlechte Geschichte wird auch mit den zehn Kriterien nicht außergewöhnlich gut werden. Und wenn die grundlegenden Qualitätskriterien — Richtigkeit, Vollständigkeit, Relevanz und dergleichen — nicht erfüllt sind, retten auch sanfte Übergänge oder ein Introvideo die Geschichte nicht. Aber der Katalog kann helfen, eine mittelmäßige Story zu verbessern, handwerkliche und dramaturgische Standards zu etablieren, mit denen ein gewisses Niveau nicht mehr unterschritten wird.”

5. Schein-Dementi und Nebelkerzen von Seehofer
(reporter-ohne-grenzen.de)
“Reporter ohne Grenzen” hat vor wenigen Tagen vor brisanten Plänen des Bundesinnenministeriums gewarnt. Danach soll es deutschen Geheimdiensten künftig erlaubt sein, Medien im In- und Ausland digital auszuspionieren. Innenminister Horst Seehofer verteidigte in einem Interview mit “Bild” das Gesetzesvorhaben. Man wolle Terrorismus und Extremismus bekämpfen, nicht aber Medien oder Journalisten. Ein Schein-Dementi, wie “Reporter ohne Grenzen” findet: “Diese Versprechungen Seehofers sind rhetorisch geschickt, räumen die zentrale Kritik an der Aufweichung des Redaktionsgeheimnisses jedoch nicht aus.”

6. Pro­gramm­zeit­schrift muss für Krebs-Click­bait zahlen
(lto.de)
Das Oberlandesgericht Köln hat die Programmzeitschrift “TV Movie” dazu verdonnert, dem Fernsehmoderator Günther Jauch 20.000 Euro zu zahlen wegen einer besonders unanständigen Form des Clickbaits: Die Zeitschrift hatte 2015 auf Facebook die Krebserkrankung eines anderen Moderators mit einem Jauch-Bild illustriert, um Aufmerksamkeit und Klicks zu erzeugen.

Fake on my dear, Rezo-Fallout, Facebook kennt keine Privatsphäre

1. Bloggerin soll Holocaust-Opfer erfunden haben
(tagesspiegel.de, Julia Prosinger)
Der Erfolg der promovierten Historikerin und Bloggerin (“Read on my dear, read on”) Marie Sophie Hingst beruht anscheinend auf weitgehend erfundenen Geschichten. So habe Hingst ihre jüdische Familiengeschichte erlogen. Auch sei fraglich, ob Hingst im Alter von 19 Jahren tatsächlich ein Slumkrankenhaus gegründet habe. “Zeit Online” rückt mittlerweile von einem Beitrag über eine angebliche Aufklärungs-Sprechstunde mit Geflüchteten ab. Die “FAZ” hat ein mit Hingst veröffentlichtes Interview offline genommen.
Weiterer Lesetipp: Anke Gröner kommentiert in ihrem Blog: “Holocaust-Opfer zu erfinden, ist nicht nur geschmacklos, es ist gefährlich. Es ist Wasser auf den Mühlen der Holocaust-Leugner, es ist Wasser auf den Mühlen derer, die Opfern eine Mitschuld unterstellen, ganz gleich, von was sie Opfer geworden sind, es ist Wasser auf den Mühlen der Geschichtsverfälscher und -umdeuter, die im Nachhinein besser wissen wollen, was passiert ist und wie wir damit umgehen sollten (“Schlusstrich”, “langt jetzt auch”, “DRESDEN!”).”
Und wer sich noch weiter einlesen will: Die Causa Hingst – Fragen und erste Antworten zu einem Skandal der Blogosphäre (archivalia.hypotheses.org, Klaus Graf).

2. Angaben zu Social-Media-Profilen sind jetzt Pflicht
(spiegel.de)
Antragsteller für ein US-Visum müssen zukünftig ihre Social-Media-Identitäten offenlegen und sowohl ihre aktuellen als auch ihre früheren Telefonnummern angeben. USA-Urlauber seien davon jedoch derzeit nicht betroffen. Für sie gilt das visumlose ESTA-Programm für Besuche mit befristeter Aufenthaltsdauer.

3. Lügen, Sex und YouTube
(gutjahr.biz)
Anlässlich der jüngsten Videoveröffentlichungen mit politischem Rückhall, kommentiert Richard Gutjahr: “Stellen wir uns vor, das Ibiza-Video wäre kein Video gewesen, sondern nur ein Audio-Mitschnitt. Oder ein verschriftetes Wortprotokoll. Ich gehe jede Wette ein, Kurz und Strache wären heute noch im Amt. Oder die “Zerstörung der CDU”. Nehmen wir mal an, Rezo hätte seinen Rant nicht als Video, sondern in Schriftform ins Netz gestellt. Wort für Wort. Mit allen Fußnoten und Quellenhinweisen. Rezo… wer?” Gutjahrs Prognose: “Die Bedeutung von Video wird in den kommenden Jahren nicht nur weiter linear wachsen, sondern geradezu explodieren.”

4. Nutzer können laut Facebook keine Privatsphäre erwarten
(golem.de, Friedhelm Greis)
In einem Prozess um den Cambridge-Analytica-Skandal verteidigt sich Facebook mit einer bemerkenswerten Argumentation: Das Unternehmen habe nicht gegen Datenschutzvorgaben verstoßen, da es bei Sozialen Medien “keine vernünftige Erwartung auf Datenschutz” gebe und weiter: “Es gibt keine Verletzung der Privatsphäre, da es überhaupt keine Privatsphäre gibt”.

5. Rezo-Fallout: “Wir brauchen Regeln gegen Desinformation”
(heise.de, Markus Kompa)
Markus Kompa kommentiert ein Interview, das Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien NRW, der “FAZ” zur Netzregulierung gegeben hat (Wir brauchen Regeln gegen Desinformation). “Landesmediendirektor Schmid behauptet im Interview allen Ernstes, die Einhaltung journalistischer Standards überwache bei der Presse der Presserat. Bei solch weltfremder Naivität möchte man in die Tischkante beißen. Der Presserat ist nichts weiter als eine Propaganda-Veranstaltung der Verlagsbranche, mit der man in den 1950er Jahren den Erlass eines lästigen Ehrenschutzgesetzes verhindern wollte. Das geplante Gesetz wurde aber überflüssig, weil die Rechtsprechung praktisch die gleichen Ergebnisse durch Entwicklung des aus der Verfassung hergeleiteten allgemeinen Persönlichkeitsrechts erzielt.”

6. Diese Instagram-Accounts gingen im Mai durch die Decke
(horizont.net, Giuseppe Rondinella)
“Horizont” hat die Wachstumsraten aller deutschsprachigen Instagram-Kanäle ab 100.000 Follower für den Monat Mai analysieren lassen. Die Top 10 werden von den Teilnehmerinnen von “Germany’s Next Topmodel” dominiert. Mit dabei sind aber auch ein Fußballer und ein PARTEI-Politiker.

Wer den Schaden hat, braucht für die “Bild”-Erfindung nicht zu sorgen

Screenshot Bild.de - Nach KSC-Aufstieg in Münster - 100.000 Euro Schaden durch Platzsturm

titelte Bild.de am Samstagabend, nachdem die Drittliga-Fußballer des Karlsruher SC 4:1 beim SC Preußen Münster gewonnen und damit den Aufstieg in die 2. Bundesliga klargemacht hatten. Joachim Schuth, bei “Bild” stellvertretender Sportchef für Nordrhein-Westfalen, beschreibt das Ganze hinter der “Bild plus”-Paywall so:

Über 3000 mitgereiste Karlsruher Fans feierten nach dem 4:1-Erfolg bei Preußen Münster die geglückte Zweitliga-Rückkehr. Mit dem Abpfiff von Schiri Lasse Koslowski (Berlin) gab’s kein Halten mehr, kletterten die freudetrunkenen Anhänger der Badener über die Barrikaden. (…)

Dabei ging im alten Stadion an der Hammer Straße einiges zu Bruch. Kaputte Zäune, LED-Anzeigen und auch die Trainerbänke mussten dran glauben.

Erste Schätzung der Schadenshöhe: über 100.000 Euro. Doch der KSC hat bereits angekündigt, die Kosten zu übernehmen.

Und auch in der Stuttgart-Ausgabe der “Bild”-Zeitung steht zu den Vorkommnissen in Münster:

Wilde Szenen nach Abpfiff: Gäste-Fans stürmen den Rasen, zerstören Zäune, LED-Bildschirme und Trainerbänke. Es soll ein Schaden von mehr als 100 000 Euro entstanden sein.

Auf eine Nachfrage der Fanhilfe Karlsruhe, woher denn diese Summe stamme, antwortet Preußen Münster:

Screenshot eine Antwort von Preußen Münster bei Twitter - Frage: Wie hoch ist der Sachschaden im Innenbereich? Wirklich 100.000 Euro wie die Bild berichtet? Woher hat die Bild diese Zahl? - Antwort: Eine finale Schadenserhebung liegt noch nicht vor, da insbesondere die überrannten LED-Banden noch ausgiebigen Funktionstests unterzogen werden müssen. Woher die 100.000 Euro stammen, wissen wir nicht.

Und Bernhard Niewöhner, Geschäftsführer bei Preußen Münster, sagt, die Summe von 100.000 Euro sei frei erfunden.

Bei Bild.de stehen die angeblichen Kosten von 100.000 Euro unverändert in Überschrift und Artikel.

Mit Dank an Sebastian F. und Nicolaj Z. für die Hinweise!

Allzu freies Storytelling, Der ewige Hendricks, Vossianische Antonomasie

1. “Protagonistin erfunden”: SZ Magazin trennt sich von preisgekröntem Autor – Spiegel und Zeit überprüfen Artikel
(meedia.de, Marvin Schade)
Laut “Meedia” hat das “SZ Magazin” einen freien Autor und Kolumnisten beim allzu freien Storytelling erwischt. Eine Verlagssprecherin dazu: “Das Süddeutsche Zeitung Magazin hat eine für den Druck vorgesehene Geschichte eines freien Journalisten nicht veröffentlicht, weil Redaktion und Dokumentation des Magazins feststellen mussten, dass eine die Geschichte tragende Person nicht existiert.” Man werte dies als “groben Verstoß gegen die journalistischen Standards” und habe die Zusammenarbeit mit dem Journalisten beendet. Der namentlich ungenannte Journalist hat auch für andere Medien gearbeitet. Dort würden nun alle bisherigen Texte des Autors geprüft.

2. Abtreibungsgegner Yannic Hendricks geht gegen BuzzFeed News in Berufung, weil wir seinen Namen nennen
(buzzfeed.com/de, Juliane Loeffler)
Der Abtreibungsgegner und notorische Ärzte-Anzeiger Yannic Hendricks hat Berufung gegen das Urteil in einem Rechtsstreit mit “BuzzFeed News Deutschland” eingelegt. Das Düsseldorfer Landgericht hatte im Januar entschieden, dass “BuzzFeed” den Namen von Yannic Hendricks öffentlich nennen durfte. Yannic Hendricks besteht jedoch anscheinend weiterhin darauf, dass sein Name (Yannic Hendricks) nicht genannt wird.

3. RTL-Gruppe macht Ex-Bild-Frau Tanit Koch zur n-tv-Chefin
(wuv.de, Petra Schwegler)
Tanit Koch leitete zusammen mit Julian Reichelt die “Bild”-Redaktion, bis sie vor einem Jahr plötzlich aus dem Unternehmen ausschied. Von einem verlorenen Machtkampf mit Reichelt war die Rede. Nun wechselt Koch ins RTL/Bertelsmann-Imperium und übernimmt beim Fernsehsender n-tv die Geschäftsführung. Ihre Kernaufgabe laut RTL-Pressemitteilung: “Aufbau einer gemeinsamen, journalistischen Redaktions-Einheit für n-tv, die RTL-News & Magazine sowie die Digital-Plattformen der Mediengruppe RTL unter ihrer Führung als Chefredakteurin”.

4. “Interpretationsspielraum”
(facebook.com, Christian Schilling)
So unterschiedlich können Wahrnehmungen sein: Die Prozessberichterstattung über die Verurteilung einer Hambacher-Forst-Aktivistin weicht in erheblichem Umfang voneinander ab. Bei der “WAZ” ist von übereinstimmenden Polizisten-Aussagen die Rede, die “taz” spricht von offenkundig widersprüchlichen Aussagen. Sogar zum Ende der Gerichtsverhandlung gibt es verschiedene Beobachtungen: Bei der “WAZ” grinst die Angeklagte nach dem Urteilsspruch, bei der “taz” hatte sie Tränen in den Augen. Christian Schilling, dem das Ganze aufgefallen ist, kommentiert auf Facebook: “Wie unterschiedlich Ohren doch hören können!”

5. Wenn Journalisten von “starken Frauen” sprechen
(deutschlandfunk.de, Matthias Dell)
Wenn Journalisten im Zusammenhang mit der Berlinale von “starken Frauen” sprechen, hört sich das für viele oberflächliche Zuhörer und Leser vielleicht nach einem freundlichen Lob an, doch Kolumnist Matthias Dell erkennt darin eine große Portion Ignoranz: “Das automatisierte Reden von der “starken Frau” bezeichnet eine gewisse Denkfaulheit: Es gibt heute mehr Filme als vor 50 Jahren, in denen Frauen nicht nur Dekoration sind. Aber anstatt endlich über diesen Umstand hinwegzukommen und Frauen, das vermeintlich “schwache Geschlecht”, in den Filmen als das zu beschreiben, was sie wirklich sind, macht es sich die Kritik durchs scheinbare Lob einfach: Es geht um “starke Frauen”. Was übrigens auch schön zeigt, dass Frauen sich anstrengen, etwas Besonderes sein müssen, wenn sie das tun wollen, was Männer immer tun dürfen: Hauptrollen spielen.”

6. Complete List of Successfully Extracted VA
(vossanto.weltliteratur.net, Frank Fischer & Robert Jäschke)
Formulierungen wie “der Franz Beckenbauer der Philosophie” werden in der Wissenschaft auch als “Vossianische Antonomasie” bezeichnet (“Teilweise kam die Figur der Vossianischen Antonomasie schon in der Antike vor. So nannte der Stoiker Panaitios von Rhodos Platon den “Homer der Philosophie”, der römische Kaiser Severus Alexander bezeichnete Vergil als den “Platon der Dichter””, Wikipedia). Die beiden Wissenschaftler Frank Fischer und Robert Jäschke haben in einem frisch veröffentlichten Paper beschrieben, wie sie Vossianische Antonomasie aus 20 Jahren “New York Times” extrahierten: “Dabei haben wir viel über journalistische Pattern gelernt: Welche bekannten Leute werden benutzt, um unbekanntere Leute zu beschreiben.” Auch für Nicht-Wissenschaftler ein bemerkenswertes Projekt, das unbedingt einen Besuch wert ist.

Lungenarzt verrechnet sich, “Bild” juckt es nicht

Dieter Köhler ist so etwas wie der Posterboy der Medien, die gegen den “Grenzwert-Irrsinn” (Bild.de), die “Gaga-Vorschläge” (auch Bild.de) der “Diesel-Hasser” (ebenfalls Bild.de) und die drohenden Diesel-Fahrverbote anschreiben. Der Lungenarzt im Ruhestand lieferte ihnen mit einem Positionspapier zu Luftverschmutzung, Feinstaub und Stickoxiden eine vermeintliche wissenschaftliche Grundlage. Es kümmerte die Redaktionen nicht, dass Köhler noch nie zu dem Thema publiziert hatte, und auch nicht, dass die etwa 100 weiteren Ärzte, die das Positionspapier unterzeichneten, nur einen Bruchteil der rund 3800 von Köhler angeschriebenen Ärzte ausmachten. Alles egal, Dieter Köhlers Thesen drehten die ganz große mediale Runde. Nun zeigt eine Recherche von “taz”-Redakteur Malte Kreutzfeldt, dass Köhler sich mehrfacht verrechnet hat, teils so gravierend, dass seine Aussagen sich ins Gegenteil verkehren, wenn man korrekt rechnet.

Am 23. Januar berichtete die “Welt” groß über Dieter Köhler und seine Mitstreiter:

Ausriss Welt - Lungenärzte gegen Grenzwerte

Am selben Tag brachte “Bild” die Geschichte mit größtmöglichem Knall:

Ausriss Bild-Titelseite - 107 Lungen-Ärzte - Alles Lüge mit dem Diesel-Feinstaub

Im Blatt ähnlich laut:

Ausriss Bild-Zeitung - Aufstand der Ärzte gegen Feinstaub-Hysterie

Bild.de machte natürlich mit, und schon bald gab es so gut wie keine Nachrichtenseite in Deutschland mehr, die nicht über Köhlers Positionspapier berichtete. Manche von ihnen holten schon früh Gegenstimmen ein oder äußerten etwas später Zweifel. Andere übernahmen einfach die Aussagen aus dem Papier. Köhler, der bereits zuvor immer mal wieder von Redaktionen als Experte auf dem Feld präsentiert wurde, saß bei “Anne Will”, “Hart aber fair”, “SternTV”. FDP-Chef Christian Lindner hing sich in “Bild” an die “aktuelle Intervention führender Lungenfachärzte” ran und forderte “ein Moratorium bei den Stickoxid-Grenzwerten”. Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU), dessen Sprecher seit knapp einem Jahr der frühere “Bild”-Mann Wolfgang Ainetter ist, schrieb einen “BRAND-BRIEF AN DIE EU-KOMMISSION” (“Bild”) und bezog sich dabei auf deutsche Lungenärzte.

Dieter Köhler bekam in der folgenden Berichterstattung immer wieder Platz in den “Bild”-Medien:

Screenshot Bild.de - Lungenarzt zur Feinstaub-Hysterie - Das Atmen in Berlin ist absolut unbedenklich
Screenshot Bild.de - Schlimmster Verdacht - Es geht um Forschungsgelder, sagt Köhler. Da muss ja ein Ergebnis rauskommen, dass Feinstaub und Stickstoffdioxid schädlich sind. Rumms!
Ausriss Bild am Sonntag - Mich ärgert, wenn Blödsinn verbreitet wird

Dann dürfte sich Köhler ziemlich über sich selbst ärgern.

Denn Malte Kreutzfeldt zeigt heute in seiner “taz”-Titelgeschichte, was für einen Blödsinn der pensionierte Lungenarzt verbreitet. Ein Beispiel, auf das “auch die taz erst durch einen externen Hinweis aufmerksam wurde”: Köhler behauptet in seinem Positionspapier (PDF):

Dabei erreichen Raucher (eine Packung/Tag angenommen) in weniger als zwei Monaten die Feinstaubdosis, die sonst ein 80-jähriger Nichtraucher im Leben einatmen würde. Beim NOx [Stickoxide] sind die Unterschiede ähnlich, wenn auch etwas geringer.

Köhler bringt dabei allerdings Zahlen durcheinander und rechnet mit falschen Werten. Tatsächlich, so Kreutzfeldt, sind es nicht wenige Raucher-Monate, sondern zwischen 6,4 und 32 Raucher-Jahre (je nach angenommenen Stickstoffdioxid-Anteil am Stickoxid). Köhler sagt nämlich, dass man durch eine Zigarette rund 500 Mikrogramm Stickstoffdioxod in 10 Litern Atemluft aufnehme. Das rechnet er korrekt auf 50.000 µg/m³ hoch. Allerdings multipliziert er dann, um auf den Wert für eine Zigarettenschachtel zu kommen, nicht die 500 µg/10 Liter (die er pro Zigarette angibt) mit 20 Zigaretten, sondern fälschlicherweise die 50.000 µg/m³ (was letztlich bedeuten würde, dass die Person in dem Beispiel nicht 20, sondern 2000 Zigaretten am Tag raucht). Köhler kommt so auf 1 Million Mikrogramm Stickstoffdioxid, die ein Raucher am Tag zu sich nimmt. Richtig wären hingegen 10.000 Mikrogramm.

Wobei das auch nicht wirklich stimmt. Denn Köhler macht an dieser Stelle noch einen weiteren Fehler, wie Kreutzfeldt schreibt:

Zusätzlich zu diesem Rechenfehler, der das Ergebnis um Faktor 100 verfälscht, stimmt auch hier der Ausgangswert nicht, mit dem Köhler rechnet. Der von ihm genannte Wert von 500 Mikrogramm pro Zigarette gilt nicht für Stickstoffdioxid (NO2), also jenes Gas, für das die Grenzwerte gelten und das für die Fahrverbote in deutschen Städten verantwortlich ist, sondern für Stickoxide generell (NOx).

Als Anteil von NO2 an NOx beim Zigarettenrauch nennt Köhler zunächst 10 Prozent — damit wäre das Ergebnis insgesamt um den Faktor 1.000 verkehrt. In einer späteren Mail revidierte der Lungenarzt die Angabe wieder, nannte nun — ohne klare Quellenangabe — einen Bereich von 10 bis 50 Prozent; das Ergebnis seiner Rechnung wäre dann entsprechend um den Faktor 200 bis 1.000 verkehrt.

Bei Bild.de fanden sie Köhlers Raucher-Rechnung besonders anschaulich:

Screenshot Bild.de - Köhler: Raucher liefern uns diese Studie aber quasi freiwillig. Der Rauch einer Zigarette ist nun mal um das Mehrfache giftiger als unsere Luft. Raucher (eine Schachtel/Tag) erreichen in weniger als zwei Monaten die Feinstaubdosis, die sonst ein 80-jähriger Nichtraucher in seinem Leben einatmen würde. Und fast die NOx-Menge.

Durch einen Klick auf die beiden letzten, blau hinterlegten Sätze können Bild.de-Leser den Artikel bei Facebook teilen. Die zwei Sätze mit Köhlers plakativem (falschem) Beispiel werden dann automatisch als Text für ihren Post übernommen.

Während Welt.de bereits einen recht langen Beitrag zu Köhlers Rechenfehlern veröffentlich hat (letztlich eine Abschrift von Malte Kreutzfeldts “taz”-Text in indirekter Rede), gibt es bei “Bild” nur: Schweigen. In der gedruckten Ausgabe von heute kein Wort (was eigentlich nicht am Redaktionsschluss liegen kann, schließlich schafft es das “Bild”-Team auch, Geschehen aus dem Dschungelcamp von kurz vor Mitternacht noch ins Blatt zu hieven, und Malte Kreutzfeldt twitterte gestern bereits um 18:35 Uhr einen Link zu den Ergebnissen seiner Recherche). Bei Bild.de erschien der letzte Artikel, in dem der Name Köhler fällt, vor vier Tagen — eine Vorabkritik des “Polizeiruf” im “Ersten”, in dem der Kommissar Dirk Köhler heißt. Die schlampige Rechnerei des Lungenarztes Köhler existiert im “Bild”-Kosmos nicht.

Vielleicht meldet sich morgen ja Franz Josef Wagner zu Wort und berichtet von seiner großen Enttäuschung. Dieter Köhler und die “Lieben Lungen-Ärzte” hatte der “Bild”-Briefchenschreiber neulich noch als “Helden im Diesel-Chaos” gefeiert:

Ausriss Bild-Zeitung - Liebe Lungen-Ärzte, Ihr seht die dunklen Flecken, den Krebs in unseren Lungen. An Feinstaub, sagt Ihr, sei noch kein Mensch gestorben. Ich glaube Euch. Wenn es eine Wissenschaft gab, die uns Menschen half, dann war es die Medizin. Die Medizin hat die Pocken besiegt, das Penicillin erfunden, Herzen verpflanzt, Lungen. Die Medizin hat Beinamputierten neue Beine gegeben. Blinde konnten wieder sehen durch die besondere Lasertechnik. Tote wurden wieder zum Leben erweckt durch rhythmisches Pressen. Die Politik hat zu schweigen. Es sind die Ärzte, die unser Leben retten. Die Politik soll auf die Ärzte hören, bevor sie Gesetze machen. Meine Helden im Diesel-Chaos sind die Ärzte. Herzlichst Franz Josef Wagner

Nachtrag, 21:04 Uhr: Nun hat auch die “Bild”-Redaktion gemerkt, dass alle größeren deutschen Nachrichtenseiten über Köhlers Rechenfehler berichten. Bei Bild.de schreiben Tom Drechsler und Florian Kain:

Jetzt kommt raus: Professor Köhler hat genau das getan, was er anderen vorwirft — sich verrechnet!

Sein Beispiel, ein Raucher würde in nur zwei Monaten die Feinstaubdosis inhalieren, die sonst ein 80-jähriger Nichtraucher in seinem ganzes Leben einatmen würde, stimmt nicht.

Und es passt bestens zu “Bild”, dass Drechsler und Kain es selbst hier noch schaffen, einen Fehler einzubauen: In der Recherche von “taz”-Redakteur Malte Kreutzfeldt geht es um Stickoxide beziehungsweise um Stickstoffdioxid und nicht um Feinstaub.

Mit Dank an Michael E., Korbinian P., Sven H. und @De215S für die Hinweise!

Fast ohne Zutun, Rechtstrend “Dark Social”, Digital Darlings unter Druck

1. Wie ein privates Video fast ohne Zutun von Journalisten “an die Öffentlichkeit kam”
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Ein an die Öffentlichkeit gelangtes, privat gedrehtes Video einiger junger Kommissaranwärterinnen sorgt für einen Mix von künstlicher Aufregung, Heuchelei und Doppelmoral. Stefan Niggemeier fasst zusammen: “Und so ist nun ein privates Video in der Welt und alle reden über die Verantwortung junger Polizistinnen und die Gefahren von Social Media — nur für die Journalisten von “Focus” und “Bild”, die es hochgeladen und für seine Verbreitung gesorgt haben, ist die Sache erledigt.”

2. Bremer Ex-AfD-Vorstand Lührssen: Der Preis des politischen Engagements
(weser-kurier.de, Jürgen Theiner)
Als der Journalist Hinrich Lührssen (u.a. Radio Bremen, “Stern TV”) vor einigen Monaten Teil des Bremer AfD-Landesvorstandes wurde, sorgte dies in der Branche für Verwunderung. Lührssen bezeichnet seine Zeit bei der AfD heute als “Trip nach Nordkorea und zurück”, was vor allem an seinen gescheiterten Karriereplänen liegt: Der Journalist konnte sich nicht als AfD-Spitzenkandidat für die Bürgerschaftswahl durchsetzen und fühlt sich ausgebootet.

3. Dark Social ist auch Trend bei Rechtsextremen
(belltower.news, Simone Rafael & Miro Dittrich)
Nachdem einige rechtsextreme Gruppierungen aus den sozialen Netzwerken geschmissen wurden, verlagerten sie ihre Aktivitäten zu Messengerdiensten wie Whatsapp und Telegram. Miro Dittrich vom Monitoring-Projekt “De:hate” der Amadeu Antonio Stiftung erklärt die Hintergründe.

4. Digital Darlings unter Druck
(spiegel.de, Isabell Hülsen & Martin U. Müller)
Die drei Medienmarken “BuzzFeed”, “Vice”, “Huffpo” mussten jüngst kräftig Federn lassen: “BuzzFeed” entlässt 15 Prozent seiner Belegschaft, bei “Vice” verlieren 250 der weltweit 2500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihren Job, die deutsche “Huffington Post” hat den Betrieb komplett eingestellt. Das liege vor allem an der Werbe-Übermacht von Facebook, Google und Amazon. Außerdem gebe es eine wachsende Konkurrenz durch klassische Medienhäuser, die immer mehr zahlende Abonnentinnen und Abonnenten für ihren Journalismus im Netz gewinnen.

5. Das Fragezeichen passt besser zu unserem Beruf als das doppelte Ausrufezeichen
(journalist-magazin.de, Georg Mascolo)
Der ehemalige “Spiegel”-Chef Georg Mascolo leitet seit 2014 den Rechercheverbund von NDR, WDR und “Süddeutscher Zeitung”. In einem Beitrag für das Medienmagazin “journalist” beschäftigt er sich mit der mangelnden Selbstkritik und Fehlerkultur von Journalistinnen und Journalisten und bezieht sich durchaus auch selbst mit ein: “Seit mehr als 30 Jahren bin ich nun im Beruf. Meine Arbeitgeber waren und sind das, was man “Qualitätspresse” nennt. Aber ich habe nicht immer “Qualität” abgeliefert. Manche meiner Fehler erinnere ich bis heute schmerzlich, vor allem, weil ich sie meinem Publikum verschwiegen habe.”

6. Ein TV-Sender mit Gaulands Zahnarzthelferin
(deutschlandfunk.de, Doris Anselm)
Der sächsische AfD-Bundestagsabgeordnete Tino Chrupalla plant der “Sächsischen Zeitung” zufolge eine Liste mit Namen “unseriöser” Journalistinnen und Journalisten. Das hat Doris Anselm in ihrer Glosse zu weiteren “guten Vorschlägen” inspiriert. Sie gibt der AfD zum Beispiel den Tipp, selbst eine AfD-kritische Zeitung zu gründen: “Man würde erfahren, dass Jörg Meuthen früher Rastalocken hatte oder dass Alexander Gauland insgeheim in seine Zahnarzthelferin verknallt ist, die ein Kopftuch trägt und ihn natürlich nicht mehr mit dem Arsch anguckt, aber genau da drauf steht er auch ein bisschen und so weiter, und so weiter — alles erfunden natürlich. Aber kritisch! Das wird toll.”

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