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“Haut endlich ab!”

Gestern Nachmittag schrieb Bild.de im MH370-Liveticker:

Bei den Angehörigen kochen die Emotionen hoch. Im Pekinger Lido Hotel kommt es zu Tumulten. Wütende Verwandte gehen auf wartende Medienvertreter los. Eine Frau schlägt mit der Tasche auf Kameras ein. “Haut ab!”, schreit sie.
Zuvor waren mehrere Verwandte mit tränenüberströmten Gesichtern aus dem Raum gekommen und von Reportern gejagt worden. Einige brachen vor laufenden Kameras auf dem Weg zusammen. Mehrere mussten mit Krankenwagen weggebracht werden.

Und was macht man bei Bild.de mit Menschen, die voller Verzweiflung auf Kameras einprügeln, weil sie endlich in Ruhe gelassen werden wollen, die von Reportern gejagt werden und vor laufenden Kameras tränenüberströmt zusammenbrechen? Genau: Man zeigt ohne Ende die unter diesen Umständen gemachten Fotos von ihnen.

Drei Stunden nach der Ticker-Nachricht veröffentlichte Bild.de über ein Dutzend solcher Aufnahmen — in einem einzigen Artikel.

Wir beschränken uns hier auf die Bildunterschriften:
Schreie der Verzweiflung Viele Angehörige brechen nach der Todesnachricht im Hotel Lido zusammen Wut bei diesem Angehörigen Ein Hinterbliebener nach der Hiobsbotschaft Nach zwei Wochen verlassen gebrochene Angehörige das Hotel Lido in Peking Verwandte von vermissten Passagieren rücken in ihrer Trauer zusammen Unerträglichen Leid Verzweifelt schlägt die junge Frau die Hände vor das Gesicht Tränen bei dieser Hinterbliebenen
 Schmerz
 Eine Angehörige bricht zusammen Eine ohnmächtige Frau wird zu einem Rettungswagen geschoben Trauer
Bild.de ist nicht das einzige Medium, das darin offenbar keinen Widerspruch sieht — oder ihn schlicht ignoriert. Auch “RP Online” schrieb gestern Abend:

Empörung lösen auch die vielen Medienvertreter aus. Sie machen in dem Hotel geradezu Jagd auf die trauernden Verwandten, sobald sie aus dem Saal herauskommen. Es kommt zu Tumulten zwischen verärgerten Angehörigen und Reportern. Mehrere Verwandte schlagen auf Kamerateams ein. “Haut ab, haut ab, haut endlich ab!”, kreischt eine Frau mit verweintem Gesicht. Sie schlägt mit der Tasche gegen eine Kamera. “Lasst uns endlich in Ruhe!”, ruft wütend eine andere Frau.

… und als hätte es diesen Absatz niemals gegeben, werden in der dazugehörigen Klickstrecke auf sieben von acht Fotos trauernde Angehörige gezeigt. Auch “T-Online”, “FR Online”, N24.de, die Münchner “Abendzeitung” und viele andere Medien haben solche Klickstrecken veröffentlicht.

Sicher: Fotos von Trauernden sind nicht per se zu verurteilen. Der Presserat befand etwa nach dem Amoklauf von Winnenden, dass die Veröffentlichung eines Fotos von zwei weinenden Schülerinnen nicht gegen den Pressekodex verstoße — es dokumentiere, im Gegenteil, “auf eindrucksvolle Weise die Trauer und die Verzweiflung”, die nach der Tat herrschten (PDF, S. 20).

Aber gleich zig Bilder von verzweifelten Menschen zeigen, von denen man genau weiß, dass sie nicht fotografiert werden wollen?

Selbst die “Tagesschau” hat damit kein Problem. In der Ausgabe am gestrigen Abend waren fast 30 Sekunden am Stück ausschließlich trauernde und zusammenbrechende Angehörige zu sehen, und Menschen, die sich verzweifelt dagegen wehren, gefilmt zu werden, was offenbar besonders reizvoll-dramatische Aufnahmen produziert. Screenshot: "Tagesschau" vom 24. März 2014, 20 Uhr
Die Sequenz endet damit, wie der Kameramann mit einem hektischen Zoom versucht, noch einen letzten Blick ins Innere des Hotels zu erhaschen, bevor die Tür endlich zugemacht wird.

Mit Dank auch an Daniel.

Nachtrag, 26. März: Auf Anfrage erklärte uns “Tagesschau”-Chefredakteur Kai Gniffke: “Wir haben in der Nachbesprechung der Sendung diese Szene kritisch diskutiert. Im Nachhinein fanden wir es problematisch, diese Menschen zu zeigen unmittelbar nachdem sie die Todesbestätigung ihrer Angehörigen erhalten haben. In einer vergleichbaren Situation würden wir die Szene wesentlich kürzer zu zeigen und auf Großeinstellungen der Trauernden verzichten.”

Gala  

Grenzüberschreitung mit Kleinwagen

Für ihre vorige Ausgabe hatte die “Gala” — das Gruner+Jahr-People-Magazin, das gerne mit seinen “ehrlichen Interviews” wirbt — zwei “Top-Stars in Film und Fernsehen” zum Gespräch gebeten. Mit Nadja Uhl und Karoline Herfurth plauderte das Blatt über “falsche Klischees und echte Wahrheiten, über kleine Zicken und große Gefühle”. Und über Opel. Insbesondere über Opel.

Denn der Anlass für das Interview war nicht etwa ein neuer Kinofilm, sondern

die neue Image-Kampagne “Umparken im Kopf” des Autokonzerns Opel, in der Uhl und Herfurth an der Seite von weiteren deutschen Stars mitwirken.

Passend zum Slogan unterhalten sich “Gala”, Uhl und Herfurth also erst mal über Vorurteile (“Nadja, Sie sind blond und haben blaue Augen, sehen toll aus. Da ist man doch prädestiniert für bestimmte Vorurteile, oder?”), um dann elegant zum PR-Teil überzuleiten:

Nun sind Sie beide in der Opel-Kampagne “Umparken im Kopf” zu sehen. Hatten Sie denn selbst auch Vorurteile gegen diese Automarke?

Und so erfahren wir, dass Karoline Herfurth es bis heute “doof” findet, dass sie sich nie einen Opel Corsa gekauft hat. Und dass sie ja gar nicht wusste, dass der Manta auch von Opel ist. Und dass sie “total überrascht” war, als sie zum ersten Mal einen Opel Ampera gefahren ist, der übrigens “keinen Lärm” macht und “die Umwelt nicht” verschmutzt, und wussten Sie eigentlich schon, dass Opel “den ersten alltagsgebräuchlichen E-Wagen auf den Markt gebracht” hat?

Nadja Uhl hingegen war sich angeblich “bis vor Kurzem” gar nicht im Klaren darüber, “dass es Opel überhaupt noch gibt!” Inzwischen weiß sie es und findet “den Adam sehr süß”, also den Opel Adam. “Vor allem die ‘Rocks’-Version, die im Herbst rauskommt”. Ein Fahrzeug übrigens, das sich Uhl “auch privat kaufen würde! Es ist für mich authentisch, weil man es sich leisten kann.”

Wir halten also fest: Weil die beiden Schauspielerinnen gerade überall Werbung für Opel machen, dürfen sie auch in der “Gala” Werbung für Opel machen. Und später im Blatt darf Opel selbst auch noch mal Werbung für Opel machen:
opel_anzeige_gala

Das riecht doch … Aber nein, es handele sich “natürlich nicht um Schleichwerbung”, sagte “Gala”-Chefredakteur Christian Krug gegenüber dem “Tagesspiegel”. Und warum? Weil “wir schon im ersten Absatz den Lesern erklären, dass der Anlass des Gesprächs mit den beiden Schauspielerinnen ihr ungewöhnliches Engagement für einen Autohersteller ist”. Aha.

Der Leser werde nicht in die Irre geführt, sondern “von uns im Gegenteil darüber aufgeklärt, warum die Schauspielerinnen bei dieser Kampagne mitwirken. Denn das wird sich der ein oder andere Leser von uns gefragt haben. Wir geben Antworten auf diese Frage.” Und diese Antworten lauten nun mal (zusammengefasst): Opel ist supertoll.

Aber natürlich hat der Konzern “in keiner Weise Einfluss auf die Gesprächsführung genommen”, wie Krug beteuert. Solche Kooperationen habe die “Gala” auch nicht nötig, schließlich stehe sie “wirtschaftlich sehr gut” da.

Der Presserat sieht die Sache aber kritisch. Sprecherin Edda Kremer sagte dem “Tagesspiegel”: “Wenn Prominente für ein Produkt werben, darf darüber durchaus berichtet werden. Problematisch ist es allerdings, wenn sie ausgiebig über die Produktpalette schwärmen dürfen, für die sie selbst werben”. Das “Gala”-Interview sei also “sehr kritikwürdig” und verstoße möglicherweise gegen den Pressekodex (Ziffer 7: Trennung von Werbung und Redaktion). Mindestens eine Beschwerde liegt dem Presserat bereits vor.

Ironischerweise lautet die Überschrift des kritisierten Artikels:
opel_titel
Ein bisschen ehrlicher scheint uns da doch die Artikel-Ankündigung im Inhaltsverzeichnis der “Gala”, wo es heißt:

“Wir sind mit Grenzüberschreitungen vertraut!”

Von “Gipsy-Banden” und “Terror-Transen”

Vor einem halben Jahr wurde bei einer griechischen Roma-Familie ein blondes Mädchen entdeckt und von den Behörden in Obhut genommen. Schnell stand für viele Medien fest, dass das Kind entführt worden war und nun “aus den Fängen einer Roma-Bande befreit” wurde (Bild.de). Kurz darauf kehrte das Mädchen jedoch wieder zu seiner Familie zurück — der Verdacht der Kindesentführung hatte sich nämlich als unbegründet herausgestellt.

Genauso verhielt es sich in einem weiteren Fall, diesmal in Irland, der sich kurze Zeit später abspielte. Polizisten hatten auch dort ein blondes Kind aus einer Roma-Familie geholt, später belegte aber ein DNA-Test, dass es tatsächlich zur Familie gehörte.

Und obwohl der Verdacht schon ausgeräumt war, schrieb Bild.de:

[…] am Dienstag wurde ein Mädchen aus einer Siedlung nahe Dublin gerettet. Wie viele blonde und blauäugige Mädchen leben noch bei Roma-Familien in Europa – und warum?

Nach Ansicht des Presserats ist diese Bildunterschrift diskriminierend. Die Formulierung “gerettet” sowie die Suggestivfrage seien “dazu geeignet, Vorurteile gegen die Volksgruppe der Roma zu schüren” (Ziffer 12 des Pressekodex). Der Beschwerdeausschuss, der vergangene Woche getagt hat, sprach deshalb eine Rüge gegen das Portal aus.

Inzwischen hat Bild.de das Wort “gerettet” durch “geholt” ersetzt und unter der Bildunterschrift sogar die Rüge veröffentlicht. Am Titel der Klickstrecke hat sich aber nichts geändert — der lautet weiterhin: “Polizei rettet Mädchen vor Gipsy-Bande”.

Die “Maßnahmen” des Presserates:

Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:

  • einen Hinweis
  • eine Missbilligung
  • eine Rüge.

Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.

Der Presserat kritisierte noch einen weiteren Bild.de-Artikel, darin ging es um einen Gerichtsprozess in Berlin. Die Überschrift lautete:

Stöckelte Terror-Transe einer Frau das Auge kaputt?

Insbesondere der Begriff “Terror-Transe” könne Vorurteile schüren und Transsexuelle herabwürdigen, befand der Ausschuss und sprach einen “Hinweis” gegen Bild.de aus.

Insgesamt verteilte der Presserat fünf Rügen, 14 Missbilligungen und 15 Hinweise.

Eine Rüge bekam der Online-Auftritt der niedersächsischen Zeitung “Die Harke”. Das Portal hatte ein Foto der Privatwohnung von Sebastian Edathy veröffentlicht, das ein Reporter während der polizeilichen Durchsuchung durch das Fenster geschossen hatte. Der Presserat wertete die Veröffentlichung als einen schweren Verstoß gegen den Schutz der Persönlichkeit (Ziffer 8). Der private Wohnsitz genießt nach Richtlinie 8.8 des Pressekodex besonderen Schutz.

Eine weitere Rüge erging an FAZ.net, weil die Redaktion über eine mögliche psychische Erkrankung des Limburger Bischofs Tebartz-van Elst spekuliert hatte. Der Bruder des Bischofs habe darüber angeblich mit “Vertrauten” gesprochen, schrieb FAZ.net. Eine Stellungnahme des Bischofs oder seines Bruders enthielt der Artikel aber nicht. Damit habe die Redaktion die Privatsphäre des Bischofs verletzt und gegen den Pressekodex verstoßen, befand der Presserat. Über Krankheiten dürfe nur mit Zustimmung der Betroffenen berichtet werden (Richtlinie 8.6). Der Artikel stand übrigens auch in der Print-Ausgabe der “FAZ”, aber über die hat sich offenbar niemand konkret beim Presserat beschwert.

Die “Dithmarsche Landeszeitung” wurde für die Veröffentlichung eines Leserbriefs gerügt, der unter anderem Antisemitismus und staatliche Euthanasie in der NS-Zeit relativiert hatte.

Die fünfte Rüge kassierte schließlich “Das goldene Blatt” aus dem Funke-Verlag. Die Redaktion hatte einen Artikel, der 2009 entstanden und in mehreren Zeitungen erschienen war, fast vier Jahre später einfach noch mal veröffentlicht — ohne Zustimmung der Betroffenen. Die Lebensumstände der Frau, um die es in dem Text geht (“‘Ich lebe im Wohnmobil'”), hatten sich in der Zwischenzeit aber grundlegend verändert. “Das goldene Blatt” habe damit gegen den Schutz der Persönlichkeit verstoßen, befand der Presserat: Vor einer neuen Veröffentlichung hätte die Redaktion die Fakten überprüfen und eine erneute Einwilligung der Frau einholen müssen.

Nicht geahndet wurde hingegen das “Titanic”-Cover zu Michael Schumacher. Das Satire-Magazin hatte getitelt:

Erstes Foto nach dem Unfall: So schlimm erwischte es Schumi

… und dazu ein Foto von Niki Lauda gezeigt.

Der Presserat bewertete das Cover als “eine kritische Auseinandersetzung mit dem Medienrummel um Michael Schumachers Gesundheitszustand und der Jagd der Reporter nach Fotos von dem Verunglückten” (BILDblog berichtete). Weil das Foto neutral sei und die Unfallverletzungen von Lauda nicht in den Mittelpunkt gestellt würden, sei es nicht herabwürdigend.

Werben mit den Opfern

In der vergangenen Woche sind bei einem Wohnungsbrand in Mannheim drei kleine Kinder gestorben. Bundesweit wurde über den traurigen Fall berichtet, natürlich auch in “Bild”, blatthoch in der Bundesausgabe:

Reporterin Janine Wollbrett schildert, wie “qualvoll” die Kinder ums Leben gekommen sind, lässt Zeugen, Feuerwehr und Oberbürgermeister zu Wort kommen und spekuliert über die Brandursache. Im Grunde tut sie also das, was auch andere Medien tun — mit einem Schuss mehr Sensationsgeilheit, versteht sich, und mit der Besonderheit, dass auch die Namen der Opfer genannt werden, das ist für das Blatt ja üblich in solchen Fällen und macht “Bild” nun mal zu “Bild”.

Genau wie das, was ein paar Tage später passierte. Gestern nämlich erschien in der “Bild”-Zeitung und bei Bild.de Folgendes:

Stolz präsentiert Janine Wollbrett “eines der letzten Fotos der 3 toten Kinder”, das sie offenbar im Verwandten- oder Freundeskreis der Familie aufgetrieben hat. “Witwenschütteln” hieß das früher mal, das Blatt selbst umschreibt es aber lieber so:

Jetzt sprach BILD erstmals mit der bulgarischen Familie über die Tragödie!

Mit wem genau sie gesprochen hat, verrät die Reporterin nicht. Zitiert werden lediglich “eine Verwandte” und “eine Freundin” — mit der Mutter aber, die “Bild” ebenfalls im Foto zeigt, hat sie sich offenbar nicht unterhalten. Wie auch? Sie “steht bis heute unter Schock”, wie “Bild” selbst schreibt, “muss starke Medikamente nehmen” und liegt vermutlich noch im Krankenhaus. Es ist also sehr fraglich, ob die Mutter ihr Einverständnis für die Veröffentlichung der Fotos gegeben hat. Es ist ja sogar fraglich, ob sie überhaupt davon wusste.

Dabei gibt es, gerade in solchen Fällen, strenge Regeln für Journalisten. Erst im vergangenen Jahr hat der Presserat Ziffer 8 des Pressekodex (“Schutz der Persönlichkeit”) überarbeitet, um die Opfer von Straftaten und Unglücken besser vor identifizierender Berichterstattung zu schützen. Es wurde sogar extra eine neue Richtlinie (8.3) hinzugefügt, in der die Journalisten darauf hingewiesen werden, “dass insbesondere bei der Berichterstattung über Straftaten und Unglücksfälle Kinder und Jugendliche in der Regel nicht identifizierbar sein sollen”.

Generell gilt:

Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt.

Ob “Bild” in diesem Fall die Erlaubnis hatte, die Namen und Fotos zu veröffentlichen, wissen wir nicht. Wir gehen aber — schon allein aus Erfahrung — eher nicht davon aus.

Mit den Fotos lässt sich dann, wenn man genügend wenig Skrupel hat, sogar für den Verkauf des eigenen Blattes werben, nämlich so:

via @KaeptnEmo.

Zum Täter gemacht

In einem Dorf in Nordrhein-Westfalen ist vor zwei Wochen eine 61-jährige Frau getötet worden.

Für die Kölner “Bild”-Ausgabe stand der Täter schnell fest:Patensohn schlägt liebe Oma (†61) tot

(Die Gesichter und Namen haben wir unkenntlich gemacht.)

Selbst ein mögliches Motiv lieferte das Blatt:Sie soll ihn auf frischer Tat beim Klauen erwischt haben

Gegen den Patensohn war zwar tatsächlich ein Haftbefehl wegen Mordes erlassen worden; er selbst schwieg aber zunächst und wies die Vorwürfe dann zurück.

Jetzt stellte sich heraus: Er ist offenbar unschuldig. Vergangene Woche wurde nämlich ein anderer Mann verhaftet, der die Tat gestanden hat.

Der Patensohn ist inzwischen freigelassen worden. Bei Bild.de wird er — samt Foto, abgekürztem Namen und Motiv — aber immer noch als Täter präsentiert.

Mit Dank an Eva.

Nachtrag: “Bild” und Bild.de sind für die Berichterstattung vom Presserat gerügt worden.

Honorare, Sendepläne, Netflix

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Honorare in der Lokalzeitung: ‘Der Job ist nur noch was für Liebhaber'”
(flurfunk-dresden.de, nik)
Die Honorare freier Mitarbeiter sächsischer Tageszeitungen inklusive Statements einiger Chefredakteure. “Für einen Artikel im Lokalteil mit rund 2.000 Zeichen (inkl. Leerzeilen) bekommt sie 20 Euro. Wenn sie das Foto gleich selbst macht, darf sie 8 Euro dafür abrechnen.” Siehe dazu auch “DJV Hessen kritisiert das ‘Geschäftsmodell Frankfurter Rundschau'” (djv-hessen.de).

2. “Beleidigende Kommentare: Presserat will Regeln für Foren einführen”
(spiegel.de)
Der Deutsche Presserat fordert, “dass Kommentare grundsätzlich wie Leserbriefe behandelt werden”.

3. “Auf verlorenem Posten”
(funkkorrespondenz.kim-info.de, Franz Everschor)
Franz Everschor bespricht die Programmpläne von US-TV-Sendern: “Inzwischen weiß niemand mehr, ob man einer der vielen, alle paar Wochen in die Sendepläne geschobenen Serien trauen kann oder ob sie nach wenigen Folgen schon wieder spurlos in der Versenkung verschwinden werden. Die vier großen Sender spielen Roulette mit Programmangeboten, die sie nur mit einer begrenzten Anzahl von Folgen in den Sendeplan rücken, viel zu kurz, als dass sich eine treue Gefolgschaft beim Publikum bilden könnte. Und die Zuschauer verlieren die Lust, fortwährend etwas Neues auszuprobieren, ohne zu wissen, ob ihnen die Serie erhalten bleibt.”

4. “Netflix-Seriendebüt wird zum wegweisenden Massenereignis”
(netzwertig.com, Martin Weigert)
Netflix stellte am Wochenende die 2. Staffel der Serie “House Of Cards” vollständig online. “Wer bislang noch daran zweifelte, dass das Ausnahmeunternehmen Netflix gerade in Eigenregie die TV- und Medienlandschaft umbaut, der dürfte spätestens jetzt überzeugt sein.”

5. “Die Abenteuer von ‘Konservatives Feuilleton Man’ – Ein exklusives Interview”
(kleinerdrei.org, Anne)
Anne Wizorek spricht mit “Konservatives Feuilleton Man”, “dem Mann hinter all den Print- und Online-Kolumnen, die euren Blutdruck in die Höhe schnellen lassen”.

6. “Abt. Geographie? Ganz schwach! – heute: SPIEGEL”
(infam.antville.org, patpatpat)

Eine ganz normale Woche bei Bild.de

Aus dem Ressort “Unterhaltung”:
Dschungelcamp 2014: Dschungel-Experte Daniel Cremer - 5 Gründe, warum Larissa die Krone holt

Larissa hat die Krone nicht geholt.

***

Aus dem Ressort “Sport”:
Der Aufreger bei der Hertha-pleite gegen Nürnberg - BILD erklärt: Darum lag Schiri Weiner richtig

Schiri Weiner lag nicht richtig.

***

Aus dem Ressort “Regionales”:
Mord auf Juist - Dieser Milchbubi brachte A[...] um [Auf dem Foto sind der mutmaßliche Täter [anonymisiert] und das angebliche Opfer [nicht anonymisiert] zu sehen.]

(Gelbe Unkenntlichmachung von uns.)

Das sind nicht A. und ihr mutmaßlicher Mörder, sondern der Täter und das Opfer eines ganz anderen Mordes. Von Ziffer 8 des Pressekodex fangen wir gar nicht erst an.

Mit Dank an Manuel L., Bene F., Martin, Felix S., Marcus und Alexander K.

Inserateboykott, Seniorenprogramm, Podcast

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “LG Berlin: BILD und BZ müssen Gegendarstellungen eines Sicherheitsverwahrten abdrucken”
(wvr-law.de)
“Bild” und “B.Z.” werden “in den kommenden Tagen Gegendarstellungen abdrucken müssen”. “In einem Artikel über ein gleichgeschlechtliches Paar, das gemeinsam in der Sicherheitsverwahrung in Berliner Tegel wohnt, hatten die beiden Zeitungen geschrieben, die Anstaltsleitung würde die Beziehung der beiden Männer geheimhalten. Hiergegen wollte der Antragsteller Gegendarstellung abdrucken, wogegen sich die beiden Zeitungen zunächst wehrten.”

2. “Wie ich versuchte, einen Bücher-Podcast zu machen (und an den Verlagen verzweifelte)”
(lesegefahr.de, Martin Häberle)
Martin Häberle möchte einen Bücher-Podcast ins Leben rufen, stößt dabei aber bei den Verlagen auf allerlei Hindernisse.

3. “Die ARD und die Jugend – ein ‘Umsetzungsdefizit’?”
(dwdl.de, Peer Schader)
Peer Schader erinnert daran, dass die Rundfunkgebühr “kein Solidarbeitrag zur Finanzierung eines Seniorenprogramms” sein sollte. Vielmehr sollten alle Altersgruppen gleich viel davon haben.

4. “Huch, es lebt”
(sueddeutsche.de, Roger Willemsen)
Roger Willemsen denkt nach über “Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!” und zieht Vergleiche zum öffentlich-rechtlichen Unterhaltungsprogramm: “Ursula von der Leyen in einem Raumfahrtanzug Minigolf spielen zu sehen, das ist der öffentlich-rechtliche Emu-Anus. Er stinkt schon aus einem Grund: weil er so einfallslos inszeniert, so lieblos produziert, so herablassend kalkuliert ist und vom dümmsten gemeinsamen Nenner ausgeht.”

5. “Weststrasse-Investoren verhängen Inserate-Boykott”
(tt.bernerzeitung.ch)
Das “Thuner Tagblatt” macht einen Inserateboykott öffentlich und folgt damit der Empfehlung des Schweizer Presserats, Drohungen oder Boykotte “grundsätzlich öffentlich zu machen”.

6. “‘Die Staatshasser sind zu Etatisten geworden'”
(schweizermonat.ch, René Scheu)
“Wir haben viel zu viele Kommunikationsbeauftragte in Bern”, sagt der Schweizer Verteidigungsminsiter Ueli Maurer, dessen Ministerium rund 100 Kommunikationsleute beschäftigt (“Im Medienumfeld sind es 15 Leute”). “Die Journalisten wissen damit aber im übrigen klug umzugehen. Sie entlocken dem einen eine Information, dann dem anderen eine leicht anders gefärbte – und schon haben sie eine Geschichte, mit der sie für ein paar Stunden Aufmerksamkeit erzielen können. Aus solchen Geschichten entstehen wiederum neue Geschichten, und das Rad dreht weiter und immer weiter.”

Bild.de wegen vorzeitigem Samenerguss gerügt

Die Beschwerdeausschüsse des Presserats haben vergangene Woche zum vierten und letzten Mal in diesem Jahr getagt und anschließend fünf öffentliche Rügen, eine nicht-öffentliche Rüge, 18 Missbilligungen und 21 Hinweise ausgesprochen.

Die “Maßnahmen” des Presserates:

Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:

  • einen Hinweis
  • eine Missbilligung
  • eine Rüge.

Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.

Die nicht-öffentliche Rüge erging an Bild.de. Das Portal hatte darüber berichtet, dass eine Landtagsabgeordnete in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden war. Bild.de nannte den Namen der Frau sowie den Hintergrund der Erkrankung und verstieß damit nach Ansicht des Presserats gegen Ziffer 8 des Pressekodex, die besagt, dass körperliche und psychische Erkrankungen zur Privatsphäre gehören.

Eine öffentliche Rüge bekam Bild.de für einen Artikel über die Therapie bei vorzeitigem Samenerguss. Dabei hatte die Redaktion laut Presserat “umfangreich” PR-Material “wörtlich übernommen und nicht entsprechend gekennzeichnet”, außerdem wurden Preis und Name des Medikaments genannt. Der Presserat sah darin einen Verstoß gegen das Schleichwerbungsverbot und die Sorgfaltspflichten im Umgang mit PR-Material (Ziffer 7). Details zu diesem Fall gibt es beim “Medien-Doktor”.

Daneben erhielt Bild.de zwei Missbilligungen — eine, weil die Redaktion gegen die Sorgfaltspflicht verstoßen hatte (Ziffer 2), und eine für die Spekulation über die Hintergründe eines Suizids (Ziffer 8) — sowie einen Hinweis wegen einer falschen Bildunterschrift.

Zwei weitere Hinweise gingen an die gedruckte “Bild”-Zeitung (Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht sowie unzureichende Anonymisierung einer Person).

Der “Dingolfinger Anzeiger” und die Modellbauzeitung “RC-Freizeit” wurden gerügt, weil sie die redaktionelle Berichterstattung von Anzeigenaufträgen abhängig gemacht hatten (Ziffer 7).

Die “Leipziger Volkszeitung” kassierte eine Rüge für einen Kommentar, in dem Demonstranten der NPD und der “Antifa” als “brauner und roter Abschaum” bezeichnet wurden. Der Begriff “Abschaum” sei eine Verletzung der Menschenwürde und damit ein Verstoß gegen Ziffer 9 des Pressekodex, erklärte der Presserat.

Gerügt wurde schließlich auch die “Junge Freiheit” für die Überschrift “Zigeuner können Sozialhilfe bekommen”. In dem Artikel ging es um eine Entscheidung des Landessozialgerichts NRW, nach der Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien Anspruch auf Hartz IV-Leistungen haben. Dass sich diese Entscheidung auch auf Schweden, Luxemburger und alle anderen EU-Bürger in Deutschland bezog, verschwieg das Blatt allerdings. Mit der Überschrift habe die Zeitung “suggeriert, das Gericht habe eine Sonderregelung für eine bestimmte ethnische Minderheit im Sozialrecht geschaffen”, argumentierte der Presserat. Für die “willkürliche Heraushebung dieser Minderheit” habe der Ausschuss “keinen sachlichen Grund” gesehen. Sie wirke diskriminierend.

Wie die “willkürliche Heraushebung” von Minderheiten in solchen Fällen bei “Bild” und Bild.de funktioniert, können Sie übrigens hier nachlesen.

Nachtrag, 0.40 Uhr: Das Projekt “Medien-Doktor” hatte sich im September ausführlich mit dem Bild.de-Artikel zum vorzeitigen Samenerguss auseinandergesetzt und Beschwerde beim Presserat eingereicht. Näheres zu dem Fall gibt es hier.

Zwickau, Tame, Promi Big Brother

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Warum wir Journalisten zurücktreten sollten”
(blogs.taz.de, Sebastian Heiser)
Sebastian Heiser plädiert dafür, dass die politischen Journalisten Deutschlands wegen Fehleinschätzung zurücktreten: “Die Union hat am Sonntag eine absolute Mehrheit im Bundestag nur knapp verfehlt. Niemand von uns hat das vorher auch nur für denkbar gehalten.”

2. “NSU-Berichterstattung: Wortewandel bei Tagesschau und Tagesthemen”
(zwickautopia.blogspot.de)
Kai Gniffke, Chefredakteur von ARD-aktuell, nimmt Stellung, warum die nationalsozialistische Terrorgruppe NSU zunächst “Zwickauer Terrorzelle” genannt wurde.

3. “Promi-BB: ‘Zügel deine Worte, verdammte Scheiße!'”
(dwdl.de, Hans Hoff)
Hans Hoff sieht sich Promi Big Brother an.

4. “Mission: Dachschadensbegrenzung”
(topfvollgold.de)
Drei Stellungnahmen der Regenbogenpresse nach Rügen des Presserats: “Wir hatten bisher ja immer gedacht, dass es die Redakteure und Autoren sind, die in diesen Läden am meisten Fantasie haben müssen. Doch die wirklich kreativen Köpfe der Regenbogenpresse sitzen ganz offenbar in den Rechtsabteilungen.”

5. “Was Journalisten mit Twitter anfangen können”
(youtube.com, Video, 4:52 Minuten)
Ein Gespräch mit Frederik Fischer vom Berliner Unternehmen Tame.

6. “Was ist uns denn hier für ein Unsinn passiert?”
(twitter.com/KaiDiekmann)
Kai Diekmann weist darauf hin, dass die von ihm verantwortete “Bild” den Artikel “Grüne suchen Schuldigen für Niederlage” gleich zweifach abdruckt.

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