“Bild”-Chef Julian Reichelt ist wütend, und schuld ist mal wieder ein Gerichtsurteil:
(Unkenntlichmachung durch uns.)
Dafür gibt’s selbstverständlich volle Populismuspunktzahl und reichlich Applaus von der Gefolgschaft: Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags gab es für Reichelts Wut-Spruch 548 Retweets und 1375 “Gefällt mir”-Angaben. Einer von Reichelts erfolgreicheren Tweets.
Was kaum noch jemanden — und Julian Reichelt schon gar nicht — zu interessieren scheint: Die Aussage des “Bild”-Chefs ist mindestens verzerrend, wenn nicht falsch.
Dass der nun verurteilte Abdul D. bei seiner Tat “volljährig” war, ist nicht so sicher, wie Reichelt tut. Die für den Fall zuständige Staatsanwaltschaft hatte ein Gutachten in Auftrag gegeben, mit dem D.s Alter festgestellt werden sollte. Nach Untersuchungen von Schlüsselbein, Handwurzel und Gebiss kamen die Gutachter zu dem Ergebnis, dass D. vermutlich etwa 20 Jahre alt ist, auf jeden Fall aber mindestens 17,5. Aufgrund der Unsicherheit entschied das Landgericht Landau, nach dem Grundsatz “Im Zweifel für den Angeklagten”, beim Prozess das Jugendstrafrechtanzuwenden.
Dass Abdul D. “ein Kind ermordet” habe, wie Julian Reichelt schreibt, ist mindestens für diejenigen, die sich mit dem Fall nicht so gut auskennen, ebenfalls verwirrend. Das Opfer war eine 15-jährige Jugendliche, was den Tod des Mädchens natürlich nicht weniger schlimm werden lässt. Mit der Verwendung des Wortes “Kind” verleiht Reichelt seinem Tweet aber noch mehr Wut-Potential.
“Die mögliche Höchststrafe”, die Julian Reichelt mindestens indirekt fordert, liegt im Jugendstrafrecht bei zehn Jahren Haft. Abdul D. hatte zu Prozessbeginn ein Geständnis abgelegt. Das könnte ein Grund fürs Gericht gewesen sein, nicht die Höchststrafe zu verhängen, sondern 8,5 Jahre Gefängnis.
Die Antwort auf Julian Reichelts Frage “Wie soll man bei so einem Urteil nicht wütend werden?” wäre, all das zumindest verstehen zu wollen.
Hinweis: Wegen des aktuellen Geschehens in Chemnitz gibt es heute eine “6 vor 9”-Sonderausgabe, die sich ausschließlich diesem Thema widmet.
1. Sarrazin, Trump und die Medien: Ah, ein Stöckchen! (dwdl.de, Hans Hoff)
Anlässlich der Vorstellung von Thilo Sarrazins neuem Faktenverdreh-Schmöker fragt sich Hans Hoff, ob die Medien über jedes Stöckchen springen sollten, das man ihnen hinhält. Natürlich nicht, so seine Botschaft, aber das sei alles andere als einfach: “Wie man’s macht, macht man es falsch. Im Prinzip müsste ich diesen Text noch vor Veröffentlichung in die Tonne kloppen, um nicht auch zum heimlichen Umsatzbeförderer zu werden. Ich tue es nicht und spüre sofort, in welchem Dilemma all die Kollegen da draußen stecken. Man möchte was sagen, was man besser nicht sagen sollte, aber meint, unbedingt sagen zu müssen. Und dann sagt man es halt und macht es wieder falsch. Stinknormaler Journalismus dieser Tage.”
2. Facebook ist das neue Sportfernsehen (medienwoche.ch, Adrian Lobe)
Facebook wehrt sich stets gegen die Einordnung als Medienunternehmen mit dem Hinweis, man würde keine eigenen Inhalte anbieten. Doch im Sportbereich tritt Facebook durchaus als Inhalteanbieter auf: Das Netzwerk hat für viel Geld Übertragungsrechte für europäischen Spitzenfußball gekauft. Was es damit auf sich hat und welche Technologie-Konzerne ebenfalls im lukrativen Sportgeschäft mitmischen wollen, erklärt Adrian Lobe in der “Medienwoche”.
3. Hoffen auf ein helles Wunder (taz.de, Anne Fromm)
Viele Medien haben sich in den letzten Jahren Online-Begleitboote für Millenials und junge Leser zugelegt. Nun will es auch das “Neue Deutschland” wissen und startet am Mittwoch ein Portal für junge Linke. “Supernova” heißt die Seite, auf der sich künftig drei Redakteure um eine jüngere Leserschaft bemühen wollen.
Weiterer Lesehinweis: Hier erklärt das “Supernova-Kollektiv” die Intention des linken Lifestyle-Magazins: Hauptsache, es knallt.
4. Reuters-Journalisten in Myanmar zu sieben Jahren Haft verurteilt (diepresse.com)
Zwei Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters sind in Myanmar wegen der “Verletzung von Staatsgeheimnissen” zu siebenjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Sie hatten über die Ermordung von zehn Männern und Jungen recherchiert, die der muslimischen Minderheit der Rohingya angehörten.
Weitergehende Informationen zur Lage der Pressefreiheit in Myanmar gibt es bei den “Reportern ohne Grenzen”.
5. Network des Schweigens (faz.net)
Nach Angaben von “New York Times” und “The Daily Beast” soll der amerikanische Fernsehsender NBC News versucht haben, die Missbrauchsvorwürfe gegen den früheren Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein zu vertuschen. Nach monatelangen Recherchen hätte es von der Chefetage die Anweisung gegeben, kein Interview mit einem mutmaßlichen Weinstein-Opfer zu führen und die ganze Geschichte fallenzulassen.
6. Eine Stimme verstummt (sueddeutsche.de, Nikolaus Piper)
Die “Village Voice”, die älteste Alternativzeitung Amerikas, wird eingestellt. Ende der Sechzigerjahre war die “Voice” die meistverkaufte Wochenzeitung der Vereinigten Staaten, vor knapp einem Jahr wurde die Druckausgabe eingestellt, und nun hat der Verleger das endgültige Aus des Magazins verkündet.
1. Chemnitz: Nagelprobe für Sachsens Polizei (ndr.de, Timo Robben &Leonie Puscher, Video, 5:20 Minuten)
Politische Demonstrationen sind für Journalisten ein gefährliches Pflaster. Oft geraten sie zwischen die Fronten oder werden selbst angegriffen. Das Medienmagazin “Zapp” war in Chemnitz und hat mit Reportern gesprochen.
Weiterer Tipp: In einem weiteren “Zapp”-Beitrag geht es um eigentlich jahrzehntelang bekannte und bewährte Verhaltensgrundsätze für die Zusammenarbeit von Presse und Polizei, die anscheinend in Vergessenheit geraten sind.
2. Über Fake News und unterschlagene Wahrheiten (makroskop.eu, Heiner Flassbeck)
Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck war Chef-Volkswirt der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) und Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. Zusammen mit Paul Steinhardt gibt er “Makroskop” heraus (“Kritische Analysen zu Politik und Wirtschaft”). Im aktuellen Beitrag hat er drei Wirtschaftsmeldungen untersucht: “Was ist Fake und was ist nur die Verdrehung der Wahrheit bis zur Unkenntlichkeit?”
3. Eine Zäsur findet nicht statt (spiegel.de, Sascha Lobo)
Sascha Lobo denkt in seiner neuen Kolumne über den Umgang mit Rechtsextremismus nach. Es geht um die jüngsten Exzesse und die Verantwortung von Politik, Behörden, Polizei und bestimmter Medien: “Überhaupt die Mitverantwortung der Medien, vor allem der “Bild”-Zeitung. Dort fragte man in großen Schlagzeilen, wer wohl an den “unfassbaren Jagdszenen” die Schuld trage und bot — ja, wirklich — zur Auswahl an: “Entfesselter Ausländerhass, linke Chaoten, überforderte Polizei”. Das erreicht Fox-News-Dimensionen der Irreführung, wenn Nazis Menschen gejagt haben. Das ist nicht weniger als monströs, und ich halte es nicht für einen Zufall, dass Rechtsextreme nicht als Personen genannt werden.”
4. Dürfen Journalisten ein Parteibuch haben? (sueddeutsche.de, Thomas Hahn)
Der Journalist Hinrich Lührssen ist vielen Zuschauern des Fernsehmagazins “Buten un Binnen” (Radio Bremen) durch seine unterhaltsamen Beiträge als aufdringlicher Reporter bekannt. Nachdem Lührssen bekannt gegeben hat, Teil des Bremer AfD-Landesvorstandes zu sein, hat der Sender beraten, wie man zukünftig mit dem freien Mitarbeiter umgehen soll.
5. “Sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen” (deutschlandfunk.de, Antje Allroggen)
US-Journalismusforscher Jay Rosen war drei Monate in Deutschland, um die hiesigen Medien zu untersuchen. Im “Deutschlandfunk”-Interview spricht er über seine Eindrücke. Rosen ist aufgefallen, dass Journalisten noch immer Probleme im Umgang mit Rechtspopulisten haben. Er wird das Thema weiterhin aus den Staaten verfolgen: “Mich interessiert, wie es für die Medien in Deutschland weitergehen wird: Wird es den Medien hier gelingen, sich gegen den Populismus zu behaupten? Wird es vielleicht eine linke Bewegung geben, die sich ähnlich wie jetzt die rechte gegen die Medien richten wird?”
6. Gegen den neuen Männer-Kolumnisten von Bild.de ist Franz Josef Wagner ein Feminist (vice.com, Lisa Ludwig)
Bei “Bild” haben sie einen neuen Kolumnisten installiert. Er trägt das Pseudonym “Leif Lasse Andersson” und darf in der “Unrasierten Wahrheit” wöchentlich darüber jammern, wie schwer ihm das Leben als “mittelalter Mann” gemacht wird. Die unterirdischen Geschlechterbilder der Männer-Kolumne kämen nicht von ungefähr, so Lisa Ludwig, die außer einer “Tüte Mitleid” wenig für den Kolumnenschreiber übrig hat: “Leif Lasse Anderssons Ouevre als Autor besteht primär daraus, 2013 einen Roman über seine Erfahrungen mit Online-Dating veröffentlicht zu haben. Eines dieser Bücher, in denen Frauen so sind, und Männer eben anders; Mario-Barth-Literatur, aber mit explizit beschriebenen Sexszenen.” Eine “stupide Aneinanderreihung der sexuellen Eskapaden eines Losers”, wie es eine Amazon-Rezensentin treffend zusammengefasst habe.
1. +++ »Nazis werden Tag als Sieg verbuchen« +++ (neues-deutschland.de, Sebastian Bähr & Robert D. Meyer)
In Chemnitz marschierten Tausende gewaltbereiter Hooligans und Rechtsradikale auf. Ein gefährliches Pflaster auch für erfahrene Journalisten, die sich teilweise akut gefährdet sahen und den Rückzug antraten. Sebastian Bähr war vor Ort und hat das Geschehen protokolliert.
Weitere Lesehinweise: Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach stört sich an der Erzählweise von den “rechten und linken Demonstranten”. Auf seinem Blog schreibt er: “Es ist nicht links, gegen Nazis zu sein und aufzustehen, wenn sie marschieren oder rennen. Es ist normal.”
Thomas Laschyk kommentiert beim “Volksverpetzer”: “Durch selektive Wahrnehmung, Bots und Fake-Accounts und Fake News wurde in den letzten Jahren der Grundstein für den Faschismus gelegt. 2015 wurde zur Dolchstoßlegende des 21. Jahrhunderts konstruiert. Ein austauschbarer Anlass wurde genutzt, um die Früchte des Hasses zu ernten und auf die Straße zu tragen. Und jetzt, wird in Chemnitz auf der Straße ausgetestet, ob sich der Faschismus auch da draußen halten kann.”
2. Die Fabrikantin (sueddeutsche.de, David Denk)
Wenn ihren Namen auch nur Insider kennen: Ute Biernat ist so etwas wie die Frontfrau der deutschen Fernsehunterhaltung. Die 58-Jährige ist Geschäftsführerin der Showsparte des Produktionsriesen Ufa und verantwortet dort Formate wie “Bauer sucht Frau” und “DSDS”. Anlässlich des aktuell bei Sky anlaufenden “X-Factor” hat David Denk die Schnellarbeiterin und Spezialistin für leicht verderbliche TV-Ware porträtiert.
3. Sprachkritik am DFB: Verband distanziert sich von eigenem Sponsor (stefan-fries.com)
Der “Verein Deutsche Sprache” verleiht jedes Jahr einen Negativpreis. Dieses Jahr ging die Auszeichnung “Sprachpanscher des Jahres” an den Deutschen Fußballbund (DFB). Stein des Anstoßes: Das Motto “Best never rest”, das man mit dem DFB in Zusammenhang gebracht hatte. Der Sportverband reagierte verschnupft, denn das Motto stamme nicht vom DFB, sondern von DFB-Sponsor Mercedes. Stefan Fries kommentiert den in mehrfacher Hinsicht unglücklichen Vorgang: “Es ist schon eine bemerkenswerte Übung in Kritikfähigkeit, die der DFB hier zeigt. Da geht praktisch komplett unter, dass der Verein Deutsche Sprache den Urheber des Slogans tatsächlich falsch ausgemacht hat. Er müsste sich an Mercedes richten. Dass der DFB aber nun plötzlich nichts mehr damit zu tun haben will, wie er hier behauptet, ist von einer interessanten Verantwortungslosigkeit.”
4. „Wir geben nicht auf!“ (message-online.com, Mirjam Bittner & Pia Seitler)
Der französische Journalist Laurent Richard gründete das Netzwerk “forbidden stories”, das die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten weiterverfolgen will, die sich bedroht fühlen oder bereits getötet wurden — wie die bekannte Journalistin Daphne Caruana Galizia, die auf Malta einer Autobombe zum Opfer fiel. Das sogenannte Daphne-Projekt war das erste Projekt von “forbidden stories”: Journalisten von 18 Medienorganisationen aus 15 Ländern recherchierten gemeinsam, um die Arbeit der ermordeten Kollegin weiterzuführen.
5. Youtube: Nicht überspringbare Werbung wird ausgeweitet (t3n.de)
Bei Youtube wird’s für die Zuschauer ungemütlicher: Das Videoportal weitet seine nicht überspringbare Werbung aus. Das hat natürlich einen handfesten wirtschaftlichen Hintergrund: Man will die Werbeerlöse steigern, aber auch Nutzer für die werbefreien Abo-Modelle Youtube Music und Youtube Premium gewinnen.
6. Die Buchgestalterin und Schriftstellerin Roswitha Quadflieg (deutschlandfunk.de, Audio, 90 Minuten)
“Die unendliche Geschichte” von Michael Ende kennen Millionen: Das 1979 im Thienemanns Verlag erschienene Buch hat eine ganze Generation von Lesern und Leserinnen geprägt. Gestaltet wurde es von der Schriftstellerin und Diplom-Designerin Roswitha Quadflieg, die seinerzeit kein Pauschalhonorar, sondern einen Anteil von zwei Prozent vereinbart hatte. (Was eine ziemlich gute Entscheidung war, um es zurückhaltend zu formulieren.) Im “Deutschlandfunk” spricht sie über diese Episode, aber auch ihre weiteren schriftstellerischen Projekte.
In den Beiträgen (die von verschiedenen Agenturen stammen) steht zwar überall das gleiche, aber hey, mehr Artikel bedeuten schließlich: mehr Klicks.
Und viel mehr Artikel bedeuten viel mehr Klicks. Das weiß niemand besser als das Team von “Focus Online”. Ganze 65 Artikel hat das Portal in den zweieinhalb Jan-Ullrich-Skandal-Wochen veröffentlicht — fast doppelt so viele wie “Zeit Online” (4), “Spiegel Online” (12) und FAZ.net (19) zusammen. Und sogar deutlich mehr als Bild.de (43).
Denn “Focus Online” veröffentlicht nicht nur endlos Agenturmaterial, sondern auch Beiträge von anderen Medien. Zum Beispiel:
Aber: Hin und wieder macht die Redaktion tatsächlich mal was selbst.
Da schläft also ein Reporter von “Focus Online” eine Nacht später im selben Hotel, und was passiert? Nix.
Wen man im Hotel zum Vorfall fragt, erklärt freundlich, nichts zu wissen.
Auch am Bar-Tresen, wo man normalerweise viel über das Leben in einem Hotel erfährt, halten sich die Angestellten bedeckt zu den Vorgängen der letzten Nacht.
Was macht der Reporter also? Setzt sich bis nachts an die Bar.
1.30 Uhr, Freitagnacht: Der allerletzte Gast ist aus der Bar verschwunden. Das Klirren der letzten Gläser, die vom Tisch geräumt werden, läutet den Feierabend für die Nachtschicht am Tresen ein. Der Fahrstuhl kommt so geräuschlos, wie der dichte Teppich jeden Schritt im Haus schluckt.
Aber damit “Focus Online” die “bis zu 6000 Euro”, die hier pro Nacht fällig werden, nicht völlig umsonst ausgegeben hat, schreibt er noch schnell:
Mein Deluxe-Zimmer ist hell und freundlich. 35 Quadratmeter Wohlfühlzone mit Sitzecke und schwerem Holzschreibtisch, ein elegantes Milchglasfenster lässt Licht in das riesige Badezimmer fallen.
Die Matratze vom Doppelbett ist dick und solide. Vielleicht war es genau dieses Bett, auf das sich Ullrich sich mit der Escort-Dame legte?
Vielleicht!
Und vielleicht darf sich der Reporter ja bald über ein Jobangebot der “FAZ” freuen, denn auch für die ist am wichtigsten, dass sie Zeilen gefüllt bekommt. Was drinsteht, ist wumpe:
In welchem Ausmaß deutsche Onlinemedien sonst noch über Jan Ullrich berichtet haben, haben wir in dieser Übersicht (PDF, mit Links zu den jeweiligen Artikeln) zusammengestellt:
Manchmal ist “Bild”-Chef Julian Reichelt auch zuvorkommend. Denn eigentlich hätten wir zu seinem besorgniserregenden Tweet von gestern Abend erstmal den passenden Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch raussuchen müssen, um ihm die Falschheit seiner Überlegungen zeigen zu können. Reichelt war aber so freundlich, diesen Paragrafen, der ihm widerspricht, als vermeintliches Argument selbst mitzuliefern:
Natürlich sind “‘Träume’ von Gefährdern” vom deutschen Rechtsstaat geschützt, wie Träume jeder anderen Person vom deutschen Rechtsstaat geschützt sind. Das zeigt auch Paragraf 89a des Strafgesetzbuchs, den Reichelt in seinem Tweet verlinkt und der ziemlich klar regelt, wann es sich um eine strafbare “Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat” handelt. In Absatz 2 steht dazu:
Absatz 1 ist nur anzuwenden, wenn der Täter eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet, indem er
1. eine andere Person unterweist oder sich unterweisen lässt in der Herstellung von oder im Umgang mit Schusswaffen, Sprengstoffen, Spreng- oder Brandvorrichtungen, Kernbrenn- oder sonstigen radioaktiven Stoffen, Stoffen, die Gift enthalten oder hervorbringen können, anderen gesundheitsschädlichen Stoffen, zur Ausführung der Tat erforderlichen besonderen Vorrichtungen oder in sonstigen Fertigkeiten, die der Begehung einer der in Absatz 1 genannten Straftaten dienen,
2. Waffen, Stoffe oder Vorrichtungen der in Nummer 1 bezeichneten Art herstellt, sich oder einem anderen verschafft, verwahrt oder einem anderen überlässt oder
3. Gegenstände oder Stoffe sich verschafft oder verwahrt, die für die Herstellung von Waffen, Stoffen oder Vorrichtungen der in Nummer 1 bezeichneten Art wesentlich sind.
Das Träumen von einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat wird in dem Paragrafen, den Julian Reichelt zum Beweis der Strafbarkeit vom Träumen von einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat anführt, nicht erwähnt.
Nach der Reicheltschen Selbstwiderlegung bleiben noch die “terroristischen Planspiele”, von denen er schreibt. Diesen Ausdruck hat allerdings nicht eine andere Person in die Debatte eingebracht, sondern Reichelt selbst.
Harald Staun schrieb in der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” mit Bezug auf einen Reichelt-Text, der am vergangenen Freitag in “Bild” erschienen ist:
Besonders schlimm aber findet Reichelt das bekannte Dilemma, dass der Rechtsstaat auch jene schützt, die ihn verachten, solange sie nicht gegen die Gesetze verstoßen. Er schützt auch jene Menschen, die “das Bier in der Kneipe und die Bikinis an den Stränden” verachten, seien es Weintrinker, Kulturtouristen oder Islamisten. Und er verbietet nicht einmal, davon zu träumen, Busse, Bahnen oder Verlagshäuser in die Luft zu sprengen. Doch einen Rechtsstaat, der nicht schon böse Absichten bestraft, würde Reichelt gerne abschaffen
Reichelt ärgerte sich bei Twitter über Stauns Text und wandelte dabei innerhalb von zwei Sätzen das Träumen in “Planspiele” um:
Nur haben Harald Staun und die “FAS” nie von “Planspielen” gesprochen — diese Umdeutung stammt allein von Julian Reichelt.
In den Antworten auf seinen Tweet von gestern versuchen andere Twitter-Nutzer, Julian Reichelt zu erklären, was bei seinen Überlegungen alles schiefläuft. Aber ob ihn überhaupt interessiert, was für einen Unsinn er verzapft?
In Offenburg soll gestern ein Mann einen Arzt in dessen Praxis mit einem Messer erstochen haben. Bei Bild.de erzählten sie auf der Startseite diese falsche Geschichte dazu:
Der vermeintliche Umstand, dass die Tochter vor Ort gewesen ist, macht den ohnehin schon dramatischen Fall noch dramatischer. Das findet auch Bild.de-Autorin Stephanie Keber:
Am Donnerstagmorgen stürmte ein Mann (26) in eine Hausarztpraxis in Offenburg (Baden-Württemberg), tötete einen Mediziner und dessen Assistentin mit einem Messer. Schrecklich: Die Tochter (10) des Arztes war dabei, als ihr Vater in den Räumen der Praxis starb.
Dass auch die Assistentin getötet wurde, stimmt nicht — sie wurde verletzt und musste ins Krankenhaus. Diese Stelle hat Bild.de inzwischen korrigiert.
Doch zurück zu der Tochter. Dass die ebenfalls in der Praxis gewesen sein soll, berichteten auch anderen Medien. Darunter “Focus Online”:
Sie alle beziehen sich dabei auf die “Bild”-Medien.
Da der mutmaßliche Täter aus dem Ausland stammt, interessiert sich auch die AfD für den Fall. Ein Landtagsabgeordneter der Partei startete noch gestern einen Demo-Aufruf, unter anderem mit der Behauptung:
Anlass ist der feige Mord […] an einem deutschen Arzt vor den Augen seiner 10-jährigen Tochter
Woher die Partei die Information mit der Tochter hat, wird nicht direkt klar. Da aber nur Bild.de und die von Bild.de abschreibenden Redaktionen dieses Detail erwähnten, dürfte auch die AfD es von dort haben.
Das Portal “Baden online” berichtet heute* von der Pressekonferenz der zuständigen Staatsanwaltschaft. Dort ging es auch um die angebliche Anwesenheit der Tochter:
Entgegen diverser Berichte hat die Staatsanwaltschaft keine Hinweise darauf, dass sich Familienangehörige während der Tat in der Praxis aufgehalten haben, sagte [Staatsanwaltschaftsleiter] Schäfer. Unter anderem die AfD Ortenau behauptet auf einem Flyer, dass der Arzt vor den Augen seiner Tochter getötet worden sein soll. Das war den Ermittlern zufolge nicht so.
Mit Dank an Fabian für den Hinweis!
*Nachtrag, 18. August: “Baden online” hat den verlinkten Beitrag in der Zwischenzeit überarbeitet. Daher findet man die oben zitierte Passage nicht mehr in dem Artikel. Stattdessen heißt es dort nun:
Falsch waren Medienberichte und Kommentare in den sozialen Medien, denen zufolge die zehnjährige Tochter des Hausarztes die Tat beobachtet haben soll. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Tat unter den Augen eines Angehörigen stattgefunden habe, betonte Schäfer. Tatsächlich scheint sich das Kind aber in unmittelbarer Nähe des Tatorts befunden zu haben.
“Wir haben alle in den letzten Jahren etwas zu oft und auch zu dankbar über Shitstorms berichtet”, erklärte Julian Reichelt am 28. Dezember 2016 — und verkündete darum groß:
Wenn wir nach dem Begriff Shitstorm bei BILD suchen, zeigt die Google-Suche mehr als 2500 Treffer: Die Links führen zu Artikeln mit Zeilen wie “Neid Shitstorm bei ‘Das ProSieben Auswärtsspiel'” oder “Mindestlohn-Tweet löst Shitstorm aus.”
Zwei von vielen Beispielen, bei denen wir uns selbstkritisch fragen: Sind eine Handvoll negativer Kommentare immer gleich ein Shitstorm? Wir finden: Nein!
Deshalb schafft BILD den Begriff Shitstorm im Jahr 2017 ab.
Und weil “Bild” ein Ehrenblatt ist, das zu seinem Wort steht, hat die Redaktion den Begriff seitdem auch nie wieder ben…
Der Shitstorm lies nicht lange auf sich warten (sic!)
Als Fia-Präsident Jean Todt auf Twitter Fotos aller zehn Wagen postet und dazu schreibt „Viel Erfolg all diesen wunderbaren neuen Autos“, erntet er einen heftigen Shitstorm
Am Freitag hatte es nach dem Bekanntwerden seines Wechsels noch einen Shitstorm („Schäm dich!“, „sofortige Freistellung“) in den sozialen Netzwerken gegeben.
1. Die letzten bunten Wochen (sueddeutsche.de, Jan Schwenkenbecher)
Die 15-minütige Nachrichtensendung RTL2-News galt beim Sender lange Zeit als das Nachrichtenkonzept der Zukunft. Damit ist es nun vorbei: Das Berliner Studio wird aufgelöst, den mehr als 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wurde gekündigt. In einem Berliner Biergarten haben einige von ihnen ihre Sicht der Dinge erzählt, die sie aus Angst um ihre Abfindungen bisher für sich behalten haben. Der Sender sei hochprofitabel, die Sendung intern stets gelobt worden. Warum es trotzdem zum Aus gekommen ist? Die Biergarten-Runde tippt auf das Profitinteresse der Gesellschafter.
2. Ulle from the block (taz.de, Anne Fromm)
Anne Fromm beschäftigt sich mit der Medienhetze des Boulevards gegen den Ex-Radprofi Jan Ullrich: “Ullrichs Geschichte ist nicht nur “der tiefe Fall” eines Ex-Sportlers, es ist vor allem der tiefe Fall des Sommerlochs.”
3. Osnabrücker Student aus China ausgewiesen (ndr.de)
Der 24-jährige Journalismus-Student David Missal ist aus China ausgewiesen worden. Missal geht davon aus, dass die Ausweisung mit seiner Arbeit über die Verfolgung von Menschenrechtsanwälten in China zusammenhängt.
4. Geschäftsmodell – Leben zerstören (spiegel.de, Christian Stöcker)
Der ultrarechte Online-Verschwörungstheoretiker und “Infowars”-Betreiber Alex Jones hat eine schlechte Woche hinter sich: Apple, YouTube, Pinterest, LinkedIn und Spotify schmissen ihn bzw. einige seiner Inhalte von ihren Plattformen: “Die augenscheinlich konzertierte Aktion aller großen Plattformen außer Twitter gegen Jones könnte ein Wendepunkt sein: Vielleicht ist man im Silicon Valley jetzt doch zu dem Schluss gekommen, dass man nicht Leuten beim Geschäftemachen helfen sollte, zu deren Geschäftsmodell es gehört, das Leben anderer Menschen mit Lügen zu zerstören.”
5. “Zur Medienkompetenz gehört, nicht immer online zu sein” (golem.de, Tobias Költzsch/dpa)
Was in Frankreich schon gilt, fordert nun auch die Landesmedienanstalt Niedersachsen: Ein verpflichtendes Smartphone-Verbot an Schulen. Das in Frankreich jüngst beschlossene Gesetz verbietet grundsätzlich das Nutzen von Mobiltelefonen in allen Vor- und Grundschulen sowie in der Sekundarstufe I.
6. Am Arsch (uebermedien.de, Boris Rosenkranz)
Der ZDF-“Fernsehgarten” könnte die Kultsendung der Gegner des gebührenfinanzierten Fernsehens werden: In der vergangenen Ausgabe des Fremdschäm-Klassikers haben sich Zuschauer und Gäste ein Arschgeweih mit “Fernsehgarten”-Logo aufsprühen lassen. Unter Aufsicht der hyperventilierenden Moderatorin Andrea Kiewel und der Sängerin Jasmin “Blümchen” Wagner.
Die Friedensbewegung. Die Anti-Atomkraft-Bewegung. Die Bewegung Podemos in Spanien. Die Lesbenbewegung. Die Bewegung Occupy Wall Street. Die Tierrechtsbewegung. Emmanuel Macrons En Marche in Frankreich. Die Schwulenbewegung. Die Bürgerrechtsbewegung in den USA. Die Frauenbewegung. Die Arbeiterbewegung. Die Bewegung Pulse of Europe.
Und? Denkt hier jetzt auch gerade jeder an die Nazis unter Adolf Hitler?
Vermutlich nicht. Einer aber schon: Michael Wolffsohn. Der ist Historiker, darf öfter mal in “Bild” schreiben und äußert sich derzeit in den “Bild”-Medien (bei Bild.de hinter der Bezahlschranke) zur neuen Bewegung #aufstehen von und mit Sahra Wagenknecht:
Wolffsohn weiter: “Wenn ich ‘BEWEGUNG’ höre, klingeln bei mir alle Alarmglocken. Die Nazis legten seinerzeit auch Wert darauf, keine herkömmliche Partei zu sein, sondern ‘Bewegung’. Wissen das Wagenknecht und ihre Mit- plus Nachläufer nicht? Wollen sie ganz bewusst und scheinbar unverfänglich solche Gedankenverbindungen herstellen? Wollen sie damit signalisieren, dass sie die bessere AfD wären? Also eine Partei der “Kleinen Leute”. “Sozial. Und natürlich (siehe “Bewegung”) national. Also national-sozial.
Da sich Frau Wagenknecht als Sozialistin bezeichnet, bewirkt das phrasenhafte Mischmasch des Internetauftritts auch ohne Gedankenkrücken wohl nicht zufällig Gedankenbrücken zum Begriff “National-Sozialismus” oder gar Nationalsozialismus. Davon hatten Deutschland und die Welt genug. Selbst ohne Krieg und Holocaust nie wieder das!
Manche Website-Akteure dienen wissentlich oder nicht der “Bewegung” als Tarnmittel: Die Journalistin Nada “mit syrischen Wurzeln”. Oder der farbige DJ René. Pastor Kurt sorgt für “Christlichkeit”, wobei daran erinnert sein (sic), dass vor allem die Evangelische Kirche alles andere als ns-immun war.”
Irgendwo unterwegs muss der Bild.de-Redaktion ein abschließendes Anführungszeichen verloren gegangen sein. Daher ist nich so ganz klar, was alles direktes Zitat von Michael Wolffsohn ist und was paraphrasiert.
Aber auch so kann man sich fragen: Wie bitte? Wolffsohn baut seine “Gedankenbrücken” von #aufstehen in Richtung “national-sozial”, “‘National-Sozialismus'” und “Nationalsozialismus” komplett auf dem Umkehrkurzschluss Nazis = Bewegung, Bewegung = Nationalsozialismus auf. Es gibt ganz gewiss ernstzunehmende Kritik an Wagenknechts Bewegung. Wolffsohns Argumentation aber ist selbst für “Bild”-Verhältnisse bemerkenswert gaga.
Wie ist das denn beispielsweise mit der spanischen Bewegung Podemos? Ebenfalls “national-sozial”, “‘Nationalsozialismus'”, “Nationalsozialismus”? Und Macrons En Marche? Und die ganzen anderen genannten gesellschaftlichen Bewegungen, die sich selbst als Bewegungen sahen und sehen? Wollten und wollen die auch “ganz bewusst und scheinbar unverfänglich solche Gedankenverbindungen” zu den Nazis herstellen? Und tarnen die sich alle auch nur mit Menschen mit ausländischen Wurzeln und Pastoren?
Die Sache ist “Bild” und Bild.de übrigens nicht einfach nur durchgerutscht. “Bild”-Chef Julian Reichelt findet Michael Wolffsohns Gedanken zu #aufstehen ganz toll: