Bei der von vielenTiefpunktengeprägten “Bild”-Berichterstattung zu den G20-Ausschreitungen gibt es seit drei Tagen einen neuen Tiefpunkt: Nun (vor)verurteilen die “Bild”-Richter schon jemanden, bei dem einiges dafür spricht, dass er unschuldig ist, und stellen ihn an den Pranger.
Derzeit läuft in Hamburg der Prozess gegen den 30-jährigen Dimitri K.:
Als G20-Chaoten am 7. Juli einen Supermarkt im Schanzenviertel plünderten (Schaden: 1,7 Mio. Euro), soll er mittendrin gewesen sein. Anklage: besonders schwerer Landfriedensbruch.
K. sagt, er sei nicht vor Ort gewesen. Stattdessen sei er am fraglichen Tag mit Schmerzen zu Hause geblieben, schließlich hätten ihn am Vortag Polizisten angegriffen. Die Verlobte von K. bezeugte dessen Aussage.
Doch, so die “Bild”-Medien …
Doch ein verknackter G20-Plünderer identifizierte ihn. Sven B. (19) ist sich sicher: K. war dabei. Die Hals-Tattoos erkenne er wieder, hundertprozentig!
Für den Prozess zwar unerheblich, für die “Bild”-Redaktion aber bemerkenswert: Dimitri K. hat nicht nur ein Hals-Tattoo. Unter seinem rechten Auge hat er das Wort “Fuck” tätowiert und unter dem linken das Wort “Cops”. Was jetzt schon nach einer Folge “Richterin Barbara Salesch” klingt, wird noch besser:
Als der Angeklagte dann aber seine linke Hand zeigte, war plötzlich alles anders. Statt des von B. beschriebenen “187”-Tattoos stehen dort arabische Schriftzeichen. Irritiert änderte der Zeuge seine Aussage: “Ich bin mir sicher, dass er es nicht ist.”
Fassen wir mal zusammen: Ein Angeklagter, der ein Alibi für die Tatzeit zu haben scheint. Ein Zeuge, der den Angeklagten erst schwer belastet und dann komplett umkippt. Eine Tätowierung, die den Angeklagten belasten könnte, die es aber gar nicht gibt. Es sieht aktuell nicht gerade so aus, dass Dimitri K. während des G20-Gipfels “einen Supermarkt im Schanzenviertel” geplündert hat.
Und was machen die “Bild”-Medien? Trotz dieser Entwicklung im Prozess zeigen sie K. vor drei Tagen bei Bild.de unverpixelt ganz oben auf der Startseite und nennen ihn “G20-Plünderer” …
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)
… und drucken vorgestern in der Hamburg-Ausgabe der “Bild”-Zeitung das Foto des angeblichen “Plünderers” ebenfalls ohne jegliche Unkenntlichmachung:
Persönlichkeitsrechte eines möglicherweise Unschuldigen? Sind der “Bild”-Redaktion doch egal. Und sowieso: Unschuldsvermutung? Ist der “Bild”-Redaktion doch egal. Julian Reichelt und sein Team treten elementare Prinzipien eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens mit den Füßen. Für sie, die sich als Deutschlands oberste Ankläger und Richter sehen, reicht es offenbar, dass jemand angeklagt ist, um diese Person einem Millionenpublikum als Verbrecher zu präsentieren.
1. „Man hätte sehen können, dass es ein Fake sein kann“ (faz.net, Oliver Georgi)
Reißerisch und prominent auf der Titelseite schrie „Bild“ eine schier unglaubliche Geschichte in die Welt hinaus: Juso-Chef und Groko-Gegner Kevin Kühnert hätte in Kontakt mit russischen Trollen gestanden. Ziel der angeblichen Zusammenarbeit mit Mittelsmann „Juri“: Die Juso-Kampagne gegen die große Koalition zu unterstützen. „Bild“ meinte Belege für diese Räuberpistole zu haben. „Ein unfassbarer E-Mail-Wechsel, der BILD exklusiv vorliegt“, schrieb die Zeitung (obwohl große Zweifel bestanden,BILDblog berichtete).
Nun behauptet die „Titanic“, dass das ganze Russenmärchen auf ihr Konto geht. Im Interview mit der „FAZ“ erzählt „Titanic“-Redakteur Moritz Hürtgen, wie leicht es gewesen sei, die Geschichte der „Bild“ unterzujubeln: „Wir haben einfach eine Runde „Copy and paste“ gespielt und uns eine Konversation zwischen Kevin Kühnert und einem ominösen Russen namens Juri aus St. Petersburg ausgedacht. Dieser Mailwechsel umfasst neun Mails, die angeblich zwischen beiden hin- und hergingen. Wir haben die Mails aufgeschrieben, die Zeitstempel angepasst und auch einige Serverdaten in eine Maildatei hineinkopiert. Das haben wir dann einem Politikredakteur der „Bild“ per Mail zugespielt, den wir uns vorher ausgesucht und über Twitter kontaktiert hatten.“
Mittlerweile hat Julian Reichelt in einer einzigartigen Kombination aus Rechtfertigungsversuch und Uneinsichtigkeit reagiert, die wir hier auf BILDblog bereits eingeordnet haben.
Weitere Lesetipps: Medienwissenschaftler Volker Lilienthal schreibt “Auf die ‘Bild’-Zeitung ist kein Verlass” und berichtet von seiner persönlichen Haltungsänderung: Seine Einschätzung, “Bild” habe sich sozusagen zivilisiert, sei blauäugig gewesen. Er nehme sie zurück …
Stefan Kuzmany kommentiert im „Spiegel“: “‘Bild’ ist in der Kühnert-Mail-Affäre nicht etwa einer ‘Titanic’-Fälschung aufgesessen. Vielmehr scheint dem Springer-Blatt jede noch so windige Geschichte recht zu sein, um der SPD einen Tritt zu versetzen.”
In der “Frankfurter Rundschau” schreibt Arnd Festerling: “Das Boulevard-Blatt hat eine erfundene Nachricht für ihre niederträchtigen Ziele benutzt und ist deshalb kein Opfer.”
Einzig Jakob Augstein sorgt auf Twitter für, nennen wir es neutral: Erstaunen.
2. Was bleibt von #MeToo? (deine-korrespondentin.de, Pauline Tillmann)
Unter dem Hashtag „metoo“ haben sich weltweit Frauen zu Wort gemeldet und von ihren Erfahrungen mit Sexismus oder sexualisierter Gewalt berichtet. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Hat die Debatte etwas verändert? Die Journalistin Pauline Tillmann hat fünf Medienfrauen nach ihrer Einschätzung gefragt.
3. “Die Menschheit hat nach Auschwitz nichts gelernt” (derstandard.at, Vanessa Gaigg & Oona Kroisleitner)
Der „Standard“ hat sich mit der Kognitionswissenschafterin Monika Schwarz-Friesel über Antisemitismus unterhalten: „Wir können Antisemitismus ohne seine starke emotionale Basis überhaupt nicht verstehen, erklären und auch nicht bekämpfen. Eigentlich ist Antisemitismus eine Emotionskategorie für sich. Es findet eine sehr starke Abwehr statt, verbunden mit Hass und Argwohn. Antisemitismus ist ein Glaubenssystem: Antisemiten glauben so unerschütterlich an ihre Konzeptualisierung, wie sie daran glauben, dass es Erde und Mond gibt .“
4. Tödliche Fake-News in Zentralafrika (nzz.ch, David Signer)
Zentralafrika ist eines der ärmsten Länder der Welt und ohne funktionierende Medien. Gefährlicher als Granaten seien die Handys mit denen Falschnachrichten und Gerüchte verbreitet werden: „In einem Umfeld wie Zentralafrika können Nachrichten wie ein Zündholz wirken, das in ein Pulverfass geworfen wird – oder wie Wasser, das ein Feuer löscht, bevor es zum Flächenbrand wird.“ Eine der wenigen Hoffnungsschimmer sei „Radio Ndeke Luka“, das sich um Objektivität und Ausgewogenheit bemühe, aber immer wieder von Rebellengruppen ins Visier genommen werde.
5. “Sie können gar nicht an Mediamarkt vorbeigucken” (deutschlandfunk.de, Stefan Fries, Audio, 5:14 Minuten)
Die neue Pastewka-Staffel bei Amazon strotzt vor eingebetteter Marken. Die Medienaufseher gehen nun dem Verdacht der Schleichwerbung nach. Doch noch ist unklar, wer den Anbieter Amazon Prime überhaupt beaufsichtigt, wie Stefan Fries im Deutschlandfunk berichtet.
6. Copyright Update #2: Upload-Filter für alle außer Google, Facebook & Co? (netzpolitik.org, Leonhard Dobusch)
Leonhard Dobusch berichtet über den derzeitigen Stand in Sachen Upload-Filtern. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD würde sich gegen die Einführung von Upload-Filtern zur Urheberrechtsdurchsetzung aussprechen. Auf EU-Ebene hätte der deutsche CDU-Abgeordnete Axel Voss jedoch einen Vorschlag vorgelegt, der weiterhin Upload-Filter vorsieht und die Dominanz von großen Internetunternehmen weiter verschärfen könnte.
Es ist alles noch viel schlimmer und trauriger und lustiger.
Die vermeintlichen E-Mails von Kevin Kühnert, die die “Bild”-Redaktion vergangene Woche dazu veranlasst haben, eine große Titelgeschichte über eine “Neue Schmutz-Kampagne bei der SPD” zu veröffentlichen, stammen gar nicht von einem Russen namens “Juri”. Sie stammen auch nicht — wie wir vermutet haben — von einem Jugendlichen, der dank dreieinhalb Minuten Microsoft-Outlook-Gefummel “Bild” mit einer plumpen Fälschung reingelegt hat. Die E-Mails stammen von der “Titanic”-Redaktion:
Die “Bild”-Zeitung ist einem Fake der TITANIC aufgesessen. Am Freitag hatte “Bild” unter der Schlagzeile “Neue Schmutzkampagne bei der SPD” einen Mailverkehr veröffentlicht, der belegen soll, daß Juso-Chef Kevin Kühnert bei seiner NoGroKo-Initiative Hilfe eines russischen Internettrolls namens Juri in Erwägung gezogen hat. Dieser Schriftverkehr wurde aber u.a. von TITANIC-Internetredakteur Moritz Hürtgen an “Bild” lanciert: “Eine anonyme Mail, zwei, drei Anrufe – und ‘Bild’ druckt alles, was ihnen in die Agenda paßt.”
Stimmt das denn nun? Oder handelt es sich nach Jan Böhmermanns “Varoufake” um den nächsten Fake-Fake? Wir waren auch erst skeptisch. Inzwischen glauben wir der “Titanic” aber voll und ganz. Vor allem aus zwei Gründen:
1) Auf der “Titanic”-Seite kann man sich den angeblichen Mail-Verkehr zwischen Kühnert und “Juri” runterladen. Diese Unterhaltung enthält deutlich mehr Mails als von “Bild” bisher veröffentlicht. Soll heißen: Hätte sich die “Titanic”-Redaktion zusätzliche Mails zwischen dem falschen Kühnert und “Juri” erfunden, wäre es für die “Bild”-Redaktion ein Leichtes, die “Titanic”-Version zu widerlegen. Das hat sie bisher nicht getan.
2) Bereits am Freitag haben wir aus “Bild”-Kreisen erfahren, dass der “anonyme Informant” die “Bild”-Redaktion besuchen wird, um seine Geschichte weiter zu verifizieren. In einem Telefonat hat uns “Titanic”-Chefredakteur Tim Wolff heute erzählt, dass Moritz Hürtgen als Informant bei “Bild” zu Gast war — ohne dass Wolff wusste, dass wir von dem Besuch bereits wissen. Es wäre ein sehr großer Zufall, wenn Tim Wolff sich diesen Besuch nur ausgedacht und damit exakt unsere Informationen bestätigt hat.
Und dann gibt es noch einen dritten Punkt. Diesen Rechtfertigungsversuch bei Twitter von “Bild”-Oberchef Julian Reichelt:
Das ist der Julian Reichelt, der von sich selbst gern behauptet, dass es ihm “grundsätzlich leicht” falle, “mich zu entschuldigen, wenn wir Fehler gemacht haben.” Das ist der Julian Reichelt, der nach dem Flüchtlings-“Sex-Mob”-Reinfall in Aussicht gestellt hat, bei “Geschichten, die für ‘Fake News’ anfällig sind”, eine “Bild”-Spezialtruppe mit “noch mehr gestandenen Nachrichtenleuten” einzusetzen, damit es solche Reinfälle nicht wieder gibt. Das ist der Julian Reichelt, der in seinen Worten stets so groß ist und in seinen Taten stets so klein. Das ist der Julian Reichelt, dem man nichts glauben kann.
Was Reichelt offenbar nicht versteht: Die “Titanic”-Redaktion hat mit dieser Aktion nicht versucht, “journalistische Arbeit bewusst zu diskreditieren”. Sie hat es geschafft, das nicht-journalistische Arbeiten von “Bild” zu verdeutlichen. Denn es bleibt trotz der längeren Erklärung bei Bild.de, wie es “zu dieser Schlagzeile” kam, dabei: Die “Schmutz-Kampagne” wurde erst in dem Moment zur “Schmutz-Kampagne”, als die auflagenstärkste Zeitung Deutschlands aus der ganzen Sache eine große Titelgeschichte gemacht hat. Die “Schmutz-Kampagne” ist bei “Bild” entstanden. Vorher war es lediglich ein Spinner (beziehungsweise “Titanic”-Redakteur Moritz Hürtgen) mit offensichtlich gefälschten E-Mails, für den sich niemand interessiert hätte. Es bleibt auch dabei, dass stets mehr gegen die Echtheit der Mails gesprochen hat als dafür. Warum greift “Bild” die Story überhaupt auf, wenn sie von Anfang an mindestens merkwürdig ist? Warum in dieser großen Aufmachung? Warum bringen “Bild” und Reichelt gerade diese Titelzeile, wenn sie doch die ganze Zeit so skeptisch waren? Warum “Schmutz-Kampagne bei der SPD” und nicht “Schmutz-Kampagne gegen die SPD”? Und natürlich bleibt bei dieser Schlagzeile, die “Bild” gewählt hat, bei vielen Leuten hängen: “Der Kühnert? Das war doch der, der mit den Russen gemeinsame Sache gemacht hat!” — auch wenn “Bild”-Autor Filipp Piatov ganz am Ende auflöst, dass es “für die Echtheit der E-Mails” “keinen Beweis” gebe. Das alles nun als die große Skepsis “von Beginn an” darzustellen, zeugt nur davon, was für ein schlechter Verlierer Julian Reichelt ist.
Und nur nebenbei: Dieser Tweet, den Piatov vorgestern noch gepostet hat, sieht nun nicht nach massivem Misstrauen aus:
Nein, es war anscheinend keine “plumpe Fälschung”, auf die Piatov und “Bild” reingefallen sind und die sie zur Titelgeschichte aufgeplustert haben, sondern eine filigrane Fälschung.
Die “Titanic”-Aktion zeigt, dass man bei Julian Reichelt, Filipp Piatov und der gesamten “Bild”-Redaktion sehr gute Chancen hat, mit Desinformationen ins Blatt zu gelangen, wenn man nur die richtigen Knöpfe drückt. Im aktuellen Fall hat die “Titanic”-Redaktion sehr geschickt eine Mischung aus SPD (bei “Bild” nicht sehr beliebt) und dem bösen Russen (bei “Bild” nicht sehr beliebt) gewählt.
Zum Schluss bleibt uns nur, uns vor Moritz Hürtgen, Dax Werner und der “Titanic”-Redaktion zu verneigen. Und alle BILDblog-Leser aufzufordern, sofort ein “Titanic”-Abo abzuschließen, um die Redaktion in ihrer wichtigen Aufklärungsarbeit zu Deutschlands größter Satire-Zeitung “Bild” und zu “Bild”-Oberwitz Julian Reichelt zu unterstützen.
Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!
Nachtrag, 8. September: “Bild” hat für die falsche SPD-“Schmutz-Kampagne” bereits im März eine Rüge vom Presserat kassiert. Das Gremium sehe “einen schweren Verstoß gegen das Wahrhaftigkeitsgebot in Ziffer 1 des Pressekodex. Diese Irreführung der Leser beschädigt Ansehen und Glaubwürdigkeit der Presse”.
Heute ist die Redaktion ihrer Verpflichtung nachgekommen und hat die Rüge im Blatt versteckt veröffentlicht:
1. Ein Fall für den Presserat (faz.net, Hans Hütt)
Sowohl „FAZ“ als auch „taz“ sind sich einig in ihrer Kritik der letzten Ausgabe von „Hart aber Fair“ (ARD). Die Fälle, über die Frank Plasberg in seiner Sendung über eine überlastete Justiz diskutierte, seien schrecklich. Noch schrecklicher aber sei es, dem „gesunden Rechtsempfinden“ Vorschub zu leisten. Die Sendung hätte ihren Informationsauftrag verfehlt, was auch an den mitunter suggestiven Fragen des Gastgebers gelegen hätte. Die Aussagen von „Bild“-Chef Julian Reichelt hält “FAZ”-Autor Hans Hütt gar für einen Fall für den Presserat. Christoph Kammenhuber sieht es in der „taz“ ähnlich: Dem Moderator Frank Plasberg fehle es an juristischem Fingerspitzengefühl, er agiere als Vertreter des „gesunden Volksempfindens“ und mache Stimmung gegen die Justiz.
2. SPD wendet sich wegen “Bild”-Bericht an Presserat (dwdl.de, Uwe Mantel)
Die SPD geht juristisch gegen die Behauptung der „Bild“ vor, ein Hund könne über die GroKo abstimmen. „Bild“ hatte das Tier als SPD-Mitglied angemeldet, die Abstimmungsunterlagen für den Mitgliederentscheid über den Eintritt in die Große Koalition bekommen und das Ganze publizistisch ausgeschlachtet. Was „Bild“ verschwieg: Für eine gültige Stimmabgabe muss dem Wahlzettel eine unterschriebene eidesstattliche Erklärung beigefügt werden.
3. Newsletter statt Blog? (1ppm.de, Johannes Mirus)
Johannes Mirus hat sich auf Twitter umgehört, warum viele Menschen lieber persönliche Newsletter versenden, statt ein Blog zu führen. Die Antworten hat er in einem Blogartikel zusammengefasst. Manche Newsletterversender folgen einfach nur dem allgemeinen Trend, andere schätzen das ausgesuchte Zielpublikum. An möglichen Gründen wurde auch die Bequemlichkeit der Empfänger genannt und das Gefühl, Teil einer “elitären Gruppe” zu sein.
4. Ralf Höcker kritisiert PR-Profis: Warum Homestorys tabu sein sollten (kress.de, Marc Bartl)
Wenn ein Vorstandsvorsitzender einem Magazin verrät, dass er im Winter fast jedes Wochenende zum Skifahren in die Berge fährt und ein passendes Foto beisteuert, hält Medienanwalt Ralf Höcker das aus presserechtlicher Sicht für „maximal dumm“. Höcker weiter: „Wer sich selbst öffnet, opfert einen Teil seiner Persönlichkeitsrechte. Homestorys sind deshalb tabu. Diese bescheuerten Fragebögen, in denen man erklärt, welche Bücher man mit auf eine einsame Insel nimmt, sind tabu. Man redet auch nicht über seine Familie. Wenn ein CEO sich mit seinem Auto, seiner Frau und seinen Haustieren fotografieren lässt und erzählt, wie toll sein Familienleben ist, und er drei Monate später besoffen aus dem Puff kommt und einen Hund tot fährt, kann er den Bericht darüber in der “Bild” natürlich nicht mehr verhindern. Ansonsten wäre ein solcher Artikel durchaus verbietbar gewesen.“
5. Auf dem Weg zum Blockbuster-Journalismus (medienwoche.ch, Adrian Lobe)
In Amerika experimentieren große Medienhäuser wie die „New York Times“ und „Washington Post“ mit Augmented- und Virtuality-Reality-Lösungen. Adrian Lobe schreibt in der „Medienwoche“ über Chancen und Risiken der neuen Technologien.
6. Dichotom-Energie (dirkhansen.net)
Dirk Hansen philosophiert über die Gründe einer zunehmend aggressiver werdenden Mediengesellschaft: „Wir streiten weit unter unserem Skalen-Niveau. Weil wir die Debatten quasi mit Dichotom-Energie anheizen. Und das ist gefährlich dumm. Denn die Verhältnisse werden schwer kalkulierbar, wenn wir nur mit „gleich/ungleich“ rechnen können.“
Julian Reichelt hatte heute Nacht eine Idee. Bei Twitter schrieb der “Bild”-Oberchef zum Amoklauf im US-Bundesstaat Florida:
Also: Das Gewehr AR-15 verbieten — und schon könnte es weniger Amokläufe geben. Ob das wirklich so einfach ist, wissen wir nicht. Es handelt sich aber sicher nicht um den schlechtesten Gedanken, den Reichelt je hatte.
Allerdings will dieser Tweet nicht so ganz zu dem Artikel passen, den Bild.de — also die Seite, die Julian Reichelt verantwortet — nur wenige Minuten zuvor mit dieser Überschrift veröffentlicht hat:
Neben dem Hinweis, dass das Gewehr “als Lieblingswaffe vieler Amokläufer” in den USA “eine traurige Berühmtheit erlangt hat”, einer detaillierten Auflistung, wo nun genau das Gewehr von welchem Schützen eingesetzt wurde, und der beruhigenden Nachricht, dass es auch “mit der AR-15” möglich sei, “sehr zügig viele Schüsse abzugeben”, findet man in dem Bild.de-Artikel eine Grafik, die in dieser Form auch aus einem Verkaufsprospekt des Herstellers stammen könnte (die Grafik zeigen wir hier natürlich nicht — wir sind ja nicht blöd). Dort erklärt die Redaktion, welche Mündungsgeschwindigkeit das Gewehr hat. Mit welchen Modulen man es erweitern kann. Dass es ein ergonomisches Design hat. Wie schwer es ist. Wie weit die Schüsse reichen. Dass das Magazin “NATO-Standard” hat. Und all diesen Mist, den man zum Beispiel wissen möchte, wenn man auf der Suche nach einer Waffe ist, um damit wasauchimmer anzustellen. Um das alles zu erfahren, muss man jetzt praktischerweise nicht mehr in einen Waffenladen gehen oder sich in düsteren Foren rumtreiben. Es reicht ein Besuch auf dem größten Nachrichtenportal Deutschlands.
Wir raten in solchen Fällen immer: Zeigt nicht das Gesicht des Täters, nennt nicht den Namen. Er soll nicht zur “Berühmtheit” werden, sondern dem Vergessen anheimfallen. Das kann Nachahmer abschrecken.
Das sagte der Psychologe Jens Hoffmann in einem Interview nach dem Amoklauf in München im Juli 2016. Seit vielen Jahren warnt er Redaktionen davor, Amokläufer (unfreiwillig) zu Helden der Szene zu machen, indem sie die Täter in der Berichterstattung auf ein Podest heben.
Bei Bild.de scheinen sie von solchen Bedenken nicht viel zu halten. Die Mitarbeiter des Portals nennen — entgegen Hoffmanns Empfehlung — den Namen des Amokschützen, der in Florida 17 Menschen erschossen hat. Sie zeigen — entgegen Hoffmanns Empfehlung — sein Gesicht, zum Beispiel auf einem Foto, das ihn bei der Festnahme zeigt. Beides gehört seit langer Zeit zum “Bild”-Standardprogramm und wird auch von anderen Medien im aktuellen Fall praktiziert.
Bild.de geht in der Berichterstattung über den Amoklauf in Parkland aber noch einen gefährlichen Schritt weiter: Das Portal zeigt Fotos, auf denen sich der Schütze mit Waffen in Szene setzt. Er posiert darauf mit Messern und mit einer Pistole. Das Bild.de-Team tut ihm den Gefallen, diese Inszenierungen einem Millionenpublikum zu präsentieren — groß in einem Artikel und etwas kleiner, aber dafür ganz oben auf der Startseite:
Wer die Amokläufer mit Gesicht und vollem Namen zeigt, der macht sie damit zu Helden. Potenzielle Nachahmungstäter sehen das und begreifen, dass eine solche Tat sie unsterblich machen wird.
… und dass ihnen mit ihren Poser-Fotos ein prominenter Platz in den “Bild”-Medien sicher ist.
Es geht hierbei auch gar nicht darum, dass wir beim BILDblog laut “Bild”-Chefchef Julian Reichelt die “Das-darf-man-nicht-Ayatollahs” sind. Es geht schlicht um den gesunden Menschenverstand: Wenn das Veröffentlichen derartiger Fotos auch nur im Ansatz die Gefahr birgt, dass sich Nachahmungstäter dadurch angesprochen und motiviert fühlen, dann muss man eine solche Veröffentlichung unbedingt bleiben lassen.
Es ist schrecklich anzusehen, wie sich einige Spitzenpolitiker derzeit präsentieren. Sigmar Gabriel zum Beispiel, der sich als gekränkter abgesägter Außenminister dazu hinreißen lässt, in einem Interview seine kleine Tochter zu benutzen, um Rache an der SPD und Martin Schulz zu üben:
Gabriel sagte mit Blick auf seine Zukunft: “Für mich beginnt jetzt eine neue Zeit. Zuhause freuen sich schon mal alle darauf.” Seine kleine Tochter Marie habe ihm am Donnerstagfrüh gesagt: “Du musst nicht traurig sein, Papa, jetzt hast Du doch mehr Zeit mit uns. Das ist doch besser als mit dem Mann mit den Haaren im Gesicht.”
Eine Fünfjährige vorschicken und sie mit einem Spruch über das Aussehen einer anderen Person zurückschlagen lassen — das muss man erstmal für richtig halten.
Oder Olaf Scholz, dessen Versprechen, auch bei einer erneuten Großen Koalition Bürgermeister Hamburgs zu bleiben, in Anbetracht des mächtigen Postens als Finanzminister nichts mehr wert ist.
Oder Martin Schulz, der mit dem Umstoßen von unumstößlichen Positionen, ein denkbar schlechtes Bild eines Berufspolitikers abgibt.
All diese — mitunter schweren — Fehler sind traurig und tun weh, weil sie das ohnehin schwindende Vertrauen in Politiker und Politik im Allgemeinen weiter zerstören. Sie stärken die, die alle Politiker für korrupt und machtbesessen halten.
Für diese Leute, die genug haben von “den da oben im Parlament”, scheint die “Bild”-Redaktion heute einen Kommentar auf ihrer Titelseite verfasst zu haben:
DAS MEINT BILD
Erbärmlich!
Was haben SPD-Vorsitzende und Joghurt gemeinsam?
Ein sehr kurzes Haltbarkeitsdatum. So spottet man im Berliner Regierungsviertel.
Das politische Ende von Martin Schulz, erst als Vorsitzender, jetzt als Außenminister, bevor er überhaupt Außenminister wurde, bestätigt so ziemlich jedes Vorurteil, das man über Niedertracht und Charakterlosigkeit in der Politik haben kann.
Genau die Genossen, die Schulz mit dem DDR-Ergebnis von 100 Prozent zu ihrem Oberhaupt gewählt haben, erpressen wenige Monate später seinen unwürdigen Abgang herbei.
Sigmar Gabriel, der unser Land repräsentiert und Schulz wie Kanonenfutter in den Wahlkampf geworfen hat, weil er selber nicht den Schneid hatte, gegen Angela Merkel anzutreten und zu verlieren, versteckt sich im entscheidenden Moment hinter seiner fünfjährigen Tochter und legt ihr den bitterbösen und politisch vernichtenden Satz in den Mund, Papa müsse jetzt nicht mehr so viel Zeit „mit dem Mann mit den Haaren im Gesicht“ verbringen.
Männer, die für ihre persönlichen Machtkämpfe ihre Töchter benutzen – das ist der Zustand unserer politischen Elite in Deutschland. Erbärmlich.
Sigmar Gabriel sagt etwas, das man ohne Zweifel kritisieren kann und vielleicht auch muss. Und daraus leitet “Bild” einen erbärmlichen “Zustand unserer politischen Elite in Deutschland” ab? Das ist populistisch. Das ist undifferenziert. Das ist verachtend. Das ist gefährlich. Das ist die Übernahme der Formulierung und der Stimmungsmache, die man sonst von AfD und “Pegida” kennt.
Mit ihrer Verallgemeinerung spuckt die “Bild”-Zeitung all den Politikern ins Gesicht, die wirklich gute Arbeit leisten, die teils irre viel arbeiten, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind, denen nicht alles egal ist, was nichts mit Posten und/oder Macht zu tun hat. Und die sich dennoch als “Volksverräter” beschimpfen lassen müssen. Das Wettern gegen “unsere politische Elite in Deutschland” auf der “Bild”-Titelseite ist davon zwar noch zwei, drei Schritte entfernt. Aber eben auch nur noch zwei, drei Schritte.
Angesprochen auf den AfDesken Kommentar seiner Redaktion, ruderte “Bild”-Oberchef Julian Reichelt bei Twitter ganz ordentlich zurück:
1. Gabor Steingart vor Ablösung beim “Handelsblatt” (spiegel.de, Markus Brauck & Isabell Hülsen & Veit Medick & Martin U. Müller)
Nach „Spiegel“-Informationen soll „Handelsblatt“-Herausgeber Gabor Steingart nach einem Zerwürfnis mit Dieter von Holtzbrinck, dem Haupteigner der Verlagsgruppe, seinen Posten räumen. Holtzbrinck soll Steingarts Kampagne gegen den SPD-Vorsitzenden Martin Schulz missfallen haben. Steinhart hatte sich in seinem morgendlichen Newsletter martialisch über den Konflikt zwischen Sigmar Gabriel und Martin Schulz ausgelassen: “Der andere soll stolpern, ohne dass ein Stoß erkennbar ist. Er soll am Boden aufschlagen, scheinbar ohne Fremdeinwirkung. Wenn kein Zucken der Gesichtszüge mehr erkennbar ist, will Schulz den Tod des Freundes aus Goslar erst feststellen und dann beklagen.” Weiterer Lesetipp: Die Website “Spiegelkritik” kritisiert die Vorgehensweise des “Spiegel”, nennt dafür mehrere Gründe und befindet: “Wenn ein Journalist (egal welcher Hierarchiestufe) einen Text wie diesen nicht mehr schreiben darf und wenn Politiker für einen solch harmlosen, jedenfalls unter allen Aspekten zulässigen Kommentar eine Entschuldigung akzeptieren, dann kann man sich nur angewidert abwenden.”
2. Es reicht! (zeit.de, Özlem Topçu)
Der Türkei-Korrespondent der Tageszeitung „Die Welt“, Deniz Yücel, sitzt seit bald einem Jahr in türkischer Untersuchungshaft. „Es reicht!“, findet seine Kollegin Özlem Topçu, wünscht sich jedoch eine ausgewogene Berichterstattung, die sich ein mehrdimensionales Bild der Türkei macht: „Das Demokratieproblem in der Türkei beschränkt sich nicht auf die Regierung. Die anderen 50 Prozent, die Erdogan-Gegner, sind nicht automatisch die Verfechter der Demokratie in diesem Land. Sie sind vielmehr eine Feel good- Projektion, während die Demokraten zwischen den Lagern zerrieben werden und viele unserer Journalistenkollegen immer noch unter immensen Repressionen ihre Arbeit machen.“
3. BILDspitze – im Reich des Kriegsreporters (ndr.de, Gudrun Kirfel & Marvin Milatz, Video, 6:29 Minuten)
Das NDR-Magazin „Zapp“ berichtet über das Ausscheiden von „Bild“-Doppelspitze Tanit Koch. Was sind die Gründe und wie wird es mit „Bild“ weitergehen, da nun Julian Reichelt als „Bild“-Oberboss durchregieren kann? „Zapp“ hat sich bei den Medienexperten Michael Meyer und Ulrike Simon nach deren Einschätzung erkundigt. Weiterer Lesetipp: Ulrike Simons Beitrag “Der Kommandeur der Bild-Truppen” (“Horizont”).
4. Buntes Markentreiben bei “Pastewka” wirft viele Fragen auf (horizont.net, Juliane Paperlein)
Denken Sie an verschiedene Markenartikel und Herstellernamen und versuchen Sie zu erraten, in welchem Kontext man sie filmisch unterbringen könnte. Namen wie Canon, Sony, Haribo, Coca-Cola, Dethleffs, DM, Welt, Nivea, Mey und Media Markt … Ein Verbrauchermagazin? Eine Ratgebersendung? Nun, knapp verfehlt: Diese Firmen tauchen mit ihren Logos in der achten „Pastewka“-Staffel auf. Man kann sich fragen, ob es sich um eine im juristischen Sinn ungekennzeichnete Produktplatzierung oder Schleichwerbung handelt. Dies wäre jedoch eine rein akademische Überlegung: Amazon als Produzent und streamender „Sender“ hat seinen Firmensitz in Luxemburg und befindet sich damit außerhalb des Zugriffs der deutschen Medienanstalten.
5. Geheimsache Hajo Seppelt (daily.spiegel.de, Ulrike Simon)
Der Journalist und Dopingexperte Hajo Seppelt ist eigentlich ein gefragter Mann und erfährt mittlerweile viel Wertschätzung. Das „Erste“ strahlte gleich zwei neue Folgen der Dokumentationsreihe “Geheimsache Doping” aus, Seppelt kommentierte in den „Tagesthemen“ und wurde gestern in einem lesenswerten Stück des Magazins „Republik“ als „Der Dopingjäger“ gewürdigt. Leider ist nicht klar, wie es weitergehen wird. Sein Vertrag läuft im März aus, die Zukunft ist ungewiss. Ulrike Simon findet: „Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sollte sich einen wie ihn leisten können, sollte man meinen. Als Gegenleistung bekommt er publizistisches Renommee. Wie viel ist der ARD das wert?“
6. »Seid heiß! Heiß! Heiß! Heiß!« (sz-magazin.de, Rainer Stadler)
„Germany’s Next Topmodel“ geht in die 13. Staffel. Während die Tochter von „SZ“-Autor Rainer Stadler von einer Modelkarriere träumt, fragt er sich, wieso Heidi Klum in Zeiten von #MeToo immer noch ihr verheerendes Frauenbild zur besten Sendezeit auf Teenies loslassen darf.
Wer erinnert sich nicht an den riesigen Aufschrei der “Bild”-Zeitung im Juni 2017? “Ausländer dürfen über deutsche Regierung abstimmen” stand damals groß auf der Titelseite, nachdem die FDP ihre Basis über den Koalitionsvertrag in Nordrhein-Westfalen hat abstimmen lassen. Oberchef Julian Reichelt schrieb einen deftigen Kommentar: Die Demokratie werde beschädigt, wenn Ausländer, die bei der Landtagswahl gar nicht wählen durften, nun mitentscheiden können, ob eine Regierung zustande kommt oder nicht.
Wir. Wir erinnern uns nicht daran. Und das dürfte vor allem daran liegen, dass es keinen Aufschrei gab auf der “Bild”-Titelseite. Und auch keinen beschädigten “Demokratie”-Kommentar von Julian Reichelt.
Aber hier! Wer erinnert sich nicht an den riesigen Aufschrei der “Bild”-Zeitung im Dezember 2013? “Ausländer dürfen über deutsche Regierung abstimmen” stand damals groß auf der Titelseite, nachdem die Grünen ihre Mitglieder über den Koalitionsvertrag in Hessen haben abstimmen lassen. Julian Reichelt schrieb damals einen deftigen Kommentar: Die Demokratie werde beschädigt, wenn Ausländer, die bei der Landtagswahl gar nicht wählen durften, nun mitentscheiden können, ob eine Regierung zustande kommt oder nicht.
Wählen darf in Deutschland nur, wer deutscher Staatsbürger ist. Nur Deutsche können also entscheiden, wer Deutschland regiert. Sollte man meinen.
Mit ihrem Mitgliederentscheid unterwandert die SPD dieses zwingend logische und eigentlich unumstößliche Prinzip. Denn über die für Deutschland so wichtige Frage, ob wir eine Regierung bekommen, dürfen in der SPD auch Mitglieder ohne deutschen Pass abstimmen.
Menschen, die hier nicht wählen dürfen, dürfen darüber entscheiden, ob eine gewählte Mehrheit eine Regierung bilden darf — oder nicht.
Kevin Kühnert, Vorsitzender der Jusos, macht sich das auch noch zunutze und mobilisiert, wen immer er in seinem Kampf gegen eine Regierungsbildung mobilisieren kann.
Ohne Rücksicht auf Verluste. Ohne Rücksicht darauf, ob dieses Verfahren dem widerspricht, was Wählerwille ist.
Das ist unanständig und schadet unserer Demokratie.
Das, was im Dezember 2013 in Hessen und im Juni 2017 in Nordrhein-Westfalen kein Problem war aus “Bild”-Perspektive, soll nun beim Mitgliederentscheid der SPD die Demokratie beschädigen. Worum geht es Julian Reichelt und seinem Team hier? Um Stimmungsmache gegen Ausländer? Um Stimmungsmache gegen die SPD? Um beides?
Allein ein Blick auf die Zahlen zeigt, um was für ein krampfhaft konstruiertes Problem es sich bei dem angeblichen Skandal handelt: Bis zum 4. März können 463.726 SPD-Mitglieder abstimmen, ob ihre Partei bei der Großen Koalition mitmachen soll oder nicht. Laut “Bild” sind etwa 7000 von ihnen Ausländer, also rund 1,5 Prozent. Genauere Zahlen gibt es nicht, da die SPD die Nationalität ihrer Mitglieder nicht erfasst.
Dass es sich bei diesen 7000 nicht komplett um von Wladimir Putin eingeschleuste Abstimmungstrolle handeln kann, die Deutschland in eine schwere Krise schubsen wollen, bewies “Bild” gestern selbst: Die Redaktion hat fünf Menschen gefunden, die ein SPD-Parteibuch, aber keinen deutschen Pass besitzen. Drei von ihnen wollen gegen den Eintritt in die Große Koalition stimmen, einer dafür, einer will sich noch den Koalitionsvertrag anschauen, bevor er entscheidet.
Diese Fokussierung auf die Ausländer beim anstehenden SPD-Mitgliederentscheid, dieses Aufteilen in die Deutschen und ihre Regierung einerseits und die Ausländer andererseits, diese 1,5-Prozent-Thematik auf die Titelseite zu heben — all das ist eine maßlose Übertreibung, entworfen für die analogen und digitalen Stammtische.
Menschen ohne deutschen Pass bestimmen schon seit Jahrzehnten in Parteien mit, wenn es um wichtige, die Wahl und das Parlament betreffende Fragen geht. Wäre es aus “Bild”-Sicht etwa genauso demokratiegefährdend, wenn bei der SPD einzig der Parteivorstand über das Zustandekommen der Regierung entscheiden würde, dieser Parteivorstand zuvor aber von denselben Ausländern in der SPD gewählt worden wäre?
Oder schauen wir zur CDU: Am 26. Februar wird es in Berlin einen Sonderparteitag der Christdemokraten geben. Angela Merkel hatte ihrer Partei dies nach der Wahl versprochen. Dort werden knapp 1000 Delegierte über denselben Koalitionsvertrag abstimmen, über den auch die SPD-Basis entscheidet. Diese Delegierten werden von den Landes-, Bezirks- und Kreisparteitagen gewählt. Und dort dürfen — alle “Bild”-Mitarbeiter festhalten! — Ausländer mitbestimmen.
Bei der CDU werden also Menschen, die bei der Bundestagswahl nicht ihre Stimme abgeben durften, über die Delegierten abstimmen, die über den Koalitionsvertrag abstimmen. Ist das dann in Ordnung aus Sicht der “Bild”-Redaktion? Ist der Ausländer damit noch weit genug entfernt von der Macht? Oder bedeutet Julian Reichelts Logik konsequent zu Ende gedacht, dass Ausländer eigentlich über gar nichts mehr in deutschen Parteien entscheiden sollten, was irgendwie mit einer Regierungsbildung zu tun haben könnte, und dass man sie dann am besten gleich gar nicht erst eintreten lassen sollte?
Aber mal weg von dem Ausländer-Fokus der “Bild”-Redaktion. Der zweite Teil ihrer Titelzeile ist auch interessant: “über deutsche Regierung abstimmen”. Das stimmt im Detail nicht. Die Regierung besteht aus Bundeskanzler beziehungsweise Bundeskanzlerin und Bundesministern. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages wählen den Bundeskanzler/die Bundeskanzlerin. Und die Minister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers/der Bundeskanzlerin vom Bundespräsidenten ernannt. So entsteht in Deutschland die Regierung. Weder die deutschen Wähler (die die Abgeordneten wählen) noch die SPD-Mitglieder mit ihrem aktuellen Mitgliederentscheid stimmen über die Regierung ab.
Stattdessen wird die SPD-Basis bis zum 4. März darüber entscheiden, wie sich ihre Partei verhalten soll. Es entsteht ein Meinungsbild dazu, was sie mit dem Koalitionsvertrag machen soll. Von dieser “politischen Willensbildung”, bei der die Parteien mitwirken sollen, spricht schon das Grundgesetz in Artikel 21.
Ob der SPD-Mitgliederentscheid 463.726 Menschen in Deutschland viel mehr Macht gibt als allen anderen — dazu gibt es eine völlig legitime Debatte. Schlagzeilen, wie die der “Bild”-Zeitung von gestern, tragen dazu nicht bei. Sie vergiften sie.
1. “Bild”-Chefin sagt tschö (taz.de, Peter Weissenburger)
Das Modell Doppelspitze war einmal: Die „Bild“-Chefredakteurin Tanit Koch hat den internen Machtkampf verloren und verlässt Axel Springer. Übrig bleibt Julian Reichelt als Boss von Print und Online. Tanit Koch hatte sich am Freitag mit deutlichen Worten von den Mitarbeitern verabschiedet: „Wenn zwei Menschen professionell nicht harmonieren, lässt sich das eine Zeitlang durch Kompromisse ausgleichen. 2017 war davon geprägt, bis meine Kompromissbereitschaft an ihre Grenzen gelangte.“
Weitere Lesetipps: Medienkennerin Ulrike Simon kommentiert den Vorgang auf Horizont.net mit “Es war an der Zeit”, und Martin Kaul schreibt Tanit Koch seinen zweiten Brief: “An meine Brieffreundin Tanit”.
2. Was steckt hinter der Twitter-Amnestie der Frankfurter Polizei? (netzpolitik.org, Matthias Monroy)
Das Verhalten der Polizei auf Twitter wird teils überschwänglich gelobt, teils heftig kritisiert. Letzteres liegt daran, dass das polizeiliche Auftreten auf Twitter häufig undurchsichtig und ungeregelt scheint. Einige Social-Media-Teams würden ohne Rechtsgrundlage und Verfahrensregelungen agieren, so Matthias Monroy auf netzpolitik.org. Monroy hat einschlägige Erfahrungen: Er wurde von der Polizei Frankfurt auf Twitter blockiert. Ein Vorgang, der von Rechtsexperten als Eingriff in die Informationsfreiheit bewertet wird.
3. Wie die FAZ Äpfel mit Birnen vergleicht (stefan-fries.com)
Die „FAZ“ spricht in Zusammenhang mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gerne von „Staatsfunk“ und „Zwangsgebühr“. Dieser Sprachgebrauch sei nach der Einschätzung von Stefan Fries zurückgegangen, die Artikel zum Thema seien dennoch tendenziös. So hätte „FAZ“-Medienredakteur Michael Hanfeld mit falschen Zahlen operiert und den Eindruck erweckt, der ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm fordere unverschämt viel Geld.
4. Sabotage am Förderband der Realität (republik.ch, Anja Conzett & Simon Schmid & Christof Moser & Constantin Seibt)
Als “die Geschichte eines Totalversagens” beschreibt “Republik” die Vorgänge um die altehrwürdige Schweizerische Depeschenagentur SDA. Der Streik dort zeige die ganze Misere der Schweizer Verlage. Der Artikel erzählt die spannende Geschichte des Niedergangs nach, bei der man lernen kann, wie man es nicht machen sollte: „Sparen ohne Strategie, ohne Leidenschaft und Investitionen. Ausdünnung der eigenen Produkte und Marken. Auflösung der Reserven. Angriff auf die eigenen Grundlagen wie Redaktionen, Glaubwürdigkeit, systemrelevante Institutionen wie SRG oder SDA. Und dann der erbitterte Kampf aller gegen alle um ein paar Franken, Vorteile oder Werbeanteile.” Weiterer Lesetipp: “‘Wir sind die Hauptakteure gegen Fake-News'” (Medienwoche, Adrian Lobe) mit einem “Blick in den Maschinenraum” von weltweit führenden Nachrichtenagenturen wie AP, AFP, dpa, “Reuters” und “Xinhua”.
5. Journalistik: Zeitschrift für Journalismusforschung (journalistik.online)
“Journalistik” nennt sich eine neue Publikation zum Thema Journalismus. Die Herausgeber schreiben im Editorial: “Anders als in den angelsächsischen Ländern, wo es eine ganze Reihe von Zeitschriften für “journalism studies” gibt und sogar wissenschaftliche Spezialorgane u. a. für Geschichte des Journalismus, journalistische Berufsethik oder literarischen Journalismus, fehlt den deutschsprachigen Ländern bisher eine Fachzeitschrift der Journalistik, die das Profil der Disziplin schärft. Deutschsprachige Journalismusforscherinnen und -forscher sind auf kommunikationswissenschaftliche Zeitschriften ohne Berufsbezug oder auf Praxisjournale angewiesen. Um diese Lücke zu füllen, starten wir die Zeitschrift “Journalistik”.”
6. Spanien empört sich über einen ironischen Text (faz.net, Hans-Christian Rößler)
Ein britischer Autor hat in der „Sunday Times“ ironisch über die Spanier gewitzelt. „Kommen Sie immer zu spät, außer ein Stier greift Sie an“, lautete seine erste Empfehlung. Andere, meist klischeebefrachtete Weisheiten über die Spanier folgten, zusammen mit dem Ratschlag , seine Landsleute sollten dort ihre „angelsächsischen Vorstellungen von Höflichkeit, Diskretion und Anstand vergessen“. Der darauf einsetzende Shitstorm war immens: Nach einer vergeblichen Klarstellung hätte sich der Autor nicht mehr anders zu helfen gewusst, als sein Twitter-Konto zu löschen.