Bild  

Alles falsch

Als “in so gut wie allen Punkten falsch und frei erfunden” bezeichnet Matthias Arends, der Sprecher der Polizeidirektion Kiel, einen “Bild”-Bericht über ein tödliches Familiendrama, das sich in dieser Woche in Tangstedt bei Hamburg ereignet hat.

“Bild” berichtet:

Polizisten richten ihre Waffen auf einen Passat Kombi. Darin sitzt ein Mann, der gerade seine Frau (40) umgebracht hat.

Die Polizei widerspricht: “Gerade” höchstens im Sinne von “mehrere Stunden zuvor”.

Doch bevor ihn die Polizei stellen kann, richtet er sich selbst.

Die Polizei widerspricht: Der Mann war beim Eintreffen der Kollegen bereits mehrere Stunden tot.

In seinem Auto schluckt er tödliches Gift.

Die Polizei widerspricht: Der Mann sei an einer Kohlenmonoxyd-Vergiftung gestorben.

Kurz nach 9.40 Uhr geht bei der Polizei ein Notruf ein. Eine junge Frau stammelt mit aufgeregter Stimme: Kommen Sie schnell. Meiner Mutter ist was Schlimmes passiert!

Die Polizei widerspricht: Der Notruf sei völlig anders über die Bühne gegangen.

Bettina K. (40) liegt in einer riesigen Blutlache, erschlagen vom eigenen Ehemann.

Die Polizei widerspricht: Am Tatort habe es kaum Blut gegeben.

Vermutlich gibt der Mann dort den drei Dobermännern mit Gift getränktes Futter. Sie sterben auf dem Rasen.

Die Polizei widerspricht: Die Dobermänner seien im Auto gewesen und ebenfalls an einer Kohlenmonoxyd-Vergiftung gestorben.

Dann setzt sich Christian K. auf den Fahrersitz, schluckt offenbar selbst eine Gift-Kapsel. Als die Polizisten auf seinen Wagen zustürmen, lebt der Täter noch.

Die Polizei widerspricht: Von “Zustürmen” könne keine Rede sein. Im übrigen habe der Mann, wie gesagt, keine Gift-Kapsel geschluckt und nicht mehr gelebt.

Philipp Rösler, Augenarzt fürs Leben

Freitag nachmittag: Die Zusammensetzung des neuen Bundeskabinetts rauscht durch alle Medien. Es eilt. Damit die Kabinettsliste am Samstag auf den Titelseiten aller wichtigen Zeitungen stehen kann, müssen die Infos jetzt fließen. Schnell.

Und so meldet der Basisdienst der dpa in Hamburg um 16:51 Uhr:

Berlin (dpa) — Der niedersächsische Vize-Ministerpräsident Philipp Rösler (FDP) wird wahrscheinlich neuer Gesundheitsminister. Dies verlautete am Freitag aus Kreisen der Verhandlungsführer. Der 36-jährige Landeswirtschaftsminister aus Hannover wollte eigentlich nicht nach Berlin wechseln. Der studierte Augenarzt hat zusammen mit Ursula von der Leyen (CDU) den Gesundheitskompromiss der neuen schwarz-gelben Koalition ausgehandelt.

Um 17:50 Uhr folgt das Portrait des bundespolitischen Newcomers:

Der bisherige Landtagsfraktionschef in Hannover hatte erst im Februar das Amt des Wirtschaftsministers in einer CDU/FDP-Koalition im Land übernommen. In dem Ressort ist er der jüngste in Deutschland. Dabei machte sich der Augenarzt und Vater von Zwillingen als Krisenmanager einen Namen. Vorher war Wirtschaft nicht unbedingt sein Steckenpferd.

In dieses bunte Potpourri an Funktionen hat sich leider ein faules Ei eingeschlichten: Rösler ist kein Augenarzt. Der Irrtum ist so verbreitet, dass der Jung-Politiker auf seiner Webseite sogar einen eigenen Abschnitt zu seinem Lebenslauf hinzugefügt hat:

ACHTUNG, wichtiger Hinweis: Entgegen vielerlei Presseartikeln und Berichten bin ich NICHT Facharzt für Augenheilkunde, sondern von Beruf einfach Arzt.

Bald entdeckt man bei dpa den Fehler und schickt um 18:27 Uhr eine Berichtigung hinterher:

(Berichtigung: Arzt statt Augenarzt im dritten Absatz)

Doch zu spät. Die Information hat sich bereits im Medienkreislauf festgefressen:

Bei Bild.de, …

Der studierte Augenarzt hat zusammen mit Ursula von der Leyen (CDU) den Gesundheitskompromiss der neuen schwarz-gelben Koalition ausgehandelt.

… der “Rheinischen Post”, …

Ein 36-jähriger Augenarzt, geboren in Vietnam, ist die Überraschung im Kabinett der schwarz-gelben Bundesregierung.

… dem “Hamburger Abendblatt”

Philipp Rösler, Augenarzt und niedersächsischer Wirtschaftsminister, soll an diesem Sonnabend unerwartet als Gesundheitsminister vorgestellt werden. Exklusiv im Abendblatt präsentiert der 36-jährige FDP-Politiker seine Pläne.

… und in vielen weiteren Medien findet man den falschen Beruf. “Spiegel Online” hat sich eine besondere Variante einfallen lassen — man bezieht Teile des Lebenslaufs über Twitter:

Am frühen Abend dann twitterte der FDP-Gesundheitsexperte Daniel Bahr: Ein Augenarzt mit Durch- und Weitblick wird Gesundheitsminister. Ich freue mich für Philipp Rösler und die FDP und werde ihn unterstützen!

Hm?

Landwirtschaftsminister ist Rösler übrigens auch nicht, obwohl zahlreiche Online-Medien das dank dpa in einem Bildtext verbreiten. Gemeint ist: Landeswirtschaftsminister. Komisches Wort aber auch.

Um 21:35 Uhr kehrt die Information überraschend auch wieder zu dpa zurück, wo man Röslers Heimatzeitung, die “Hannoversche Allgemeine Zeitung”, zitiert, die es erstaunlicherweise auch nicht besser weiß:

Man tritt ihm nicht zu nahe, wenn man festhält, dass die Herkunft aus Niedersachsen ihm geholfen hat. Zuvor hatte die FDP für Justiz eine Frau aus Bayern und für Wirtschaft einen Mann aus Rheinland-Pfalz nominiert. Immerhin: Rösler ist gelernter Augenarzt. Als er noch im Facharztzentrum der Bundeswehr in Hannover arbeitete, ließ er sich freilich nicht träumen, mal Bundesgesundheitsminister zu werden.

Ein einmaliger Ausrutscher? Mitnichten. Schon vor vier Tagen hatte die dpa ein kurzes Portrait der niedersächsischen Wirtschaftsministers gebracht:

In dem Ressort ist er der jüngste in Deutschland. Dabei machte sich der Augenarzt und Vater von Zwillingen als Krisenmanager einen Namen. Vorher war Wirtschaftskompetenz nicht unbedingt sein Steckenpferd. Rösler, Lakritz-Liebhaber und Hobby-Bauchredner, gilt als scharfzüngiger Schnellredner, der charmant aber auch verbindlich im Ton auftritt.

Und drei Wochen zuvor stellte die “Welt” Rösler als künftigen Wirtschaftsminister vor:

Geht das Wirtschaftsressort an die FDP, könnten die Liberalen eines ihrer größten Talente zum Zuge kommen lassen: Philipp Rösler (36), der seit Anfang 2009 dieses Ressort in Niedersachsen führt. Das von deutschen Eltern adoptierte Waisenkind aus Vietnam ist gelernter Augenarzt.

Die Reihe ließe sich noch lange weiter fortsetzen — mehr als sechs Jahre lang. Am 15. Februar 2003 meldete der Berliner “Tagesspiegel” anscheinend als erster den falschen Beruf des damaligen Fraktionsvorsitzenden:

McAllister kommt aus Bad Bederkesa im Landkreis Cuxhaven, ist in seiner Heimatstadt verwurzelt, war dort Bürgermeister und Schützenkönig. (…) Hinzu kommt der neue Fraktionschef der FDP, der erst 29 Jahre alte Augenarzt Philipp Rösler.

Am 23. Februar desselben Jahres legte die “Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung” noch eins drauf:

Philipp Rösler tritt leise auf. Er führt die Fraktion der FDP in Niedersachsen, die es nach neun Jahren wieder in den Landtag schaffte. 29 Jahre ist er alt, verheiratet mit einer jungliberalen Ärztin. Rösler ist promovierter Augenarzt und nach zehn Jahren als Zeitsoldat im Rang eines Stabsarztes. Nie der beste, aber immer der fröhlichste Mediziner sei er gewesen, sagt Rösler.

Gesundheitsminister bleibt man vier — mit viel Glück sogar acht Jahre lang. Eines jedoch wird Philipp Rösler wohl immer bleiben: Augenarzt.

Mit Dank an Patti!

Nachtrag 26. Oktober, 11:20 Uhr: Während Redaktionen wie “Spiegel Online” und “Zeit.de” ihre Artikel von dem Fehler bereinigen, beharrt “Bild.de” am Sonntag abend immer noch auf der Bezeichnung “promovierter Augenarzt”.

Wie es zu dem weit verbreiteten Irrtum kommen konnte, erklärt das “Ärzteblatt”:

Tatsächlich hat Rösler über ein Thema aus der Herzchirurgie promoviert und bis 2003 als Sanitätsoffizier der Bundeswehr gearbeitet. Parallel verlief die Politikerkarriere und dabei verlief sich die begonnene Weiterbildung zum Augenarzt. Soviel zum Biografischen. Jeder wird in den nächsten Tagen allüberall nahezu alles über Rösler lesen können, seine ungewöhnliche Biografie reizt schließlich jeden Journalisten zu einer Story.

Bild, Stern  etc.

Können Journalisten noch lesen & schreiben?

Die deutsche Ausgabe der Kulturzeitschrift “Lettre International” hatte in den vergangenen Wochen soviel Aufmerksamkeit wie selten — dank eines Interviews mit Thilo Sarrazin, das zum Skandal wurde. Viele Reaktionen der Medien auf die Veröffentlichung legen für Chefredakteur Frank Berberich den Schluss nahe: “Die Alphabetisierung von Journalisten nimmt rapide ab”.

In einem Interview mit dem Online-Medienmagazin “V.i.S.d.P.” klagt er über “Dilettantismus, politisch-korrekte Phrasen, Irreführung, große Parolen” und kritisiert die Verlogenheit von “Bild”:

Die Sensationalisierung und Skandalisierung wurde vor allem von Medien inszeniert, die damit Geld verdienen wollten. (…) BILD hat die Stadt tagelang mit Sarrazin-Titeln zugepflastert und das Thema dramatisiert und hochgeputscht. An einem Tag behauptete die Schlagzeile “Sarrazin beleidigt die Berliner” am anderen “die Türken”, und am dritten wurde gefragt: “Hat Sarrazin doch Recht?” (…)

BILD ONLINE hat das Interview eingescannt und ohne unsere Einwilligung komplett veröffentlicht und erst nach einer einstweiligen Verfügung wieder aus dem Netz genommen. (…)

Wenn BILD ein so großes Interesse am Thema hatte – warum war man nicht originell genug und hat es selbst bearbeitet? Die Möglichkeiten dazu hätte sie doch. Man muss Leuten wie Diekmann auch mal unter die Nase halten: Sie geben sich als Anstandsdamen, wenn es passt, und wenn nicht, gehen sie auf Beutezug in fremden Revieren. Abgesehen davon ist es eine groteske Heuchelei, Sarrazin Rassismus vorzuwerfen und diese üblen “Beleidigungen” gleichzeitig soweit wie möglich zu verbreiten, indem man sie unter Verletzung des Urheberrechts auf die eigene Homepage stellt, um deren “traffic” zu erhöhen.

Keine Schonzeit für den Rechtsstaat

Fast scheint es so, als hätten die Terroristen gewonnen, als hätte die RAF den Rechtsstaat besiegt. Denn Gesetze gelten nicht mehr für jeden gleich, Richter und Beweiserhebungen sind unnütz. Das könnte man zumindest gelegentlich meinen, wenn man die Berichterstattung von “Bild” verfolgt.

In diese Denkweise ordnet sich der Artikel auf Bild.de ein, der über die Verurteilung der früheren RAF-Terroristen Inge Viett berichtet:

Viett hatte im Juni 2008 in Berlin gegen ein Bundeswehr-Gelöbnis protestiert und dabei — so die Überzeugung des Gerichts — leichten Widerstand gegen zwei Polizeibeamte geleistet, indem sie sich beim Abführen mit den Füßen gegen die Laufrichtung stemmte. Dafür ist sie zu einer Geldstrafe von 225 Euro verurteilt worden.

Der ursprünglich erhobene Vorwurf der versuchten Gefangenenbefreiung wurde vom Gericht fallen gelassen. Für Bild.de ist auch dies offenkundig keine Folge der Beweisaufnahme, sondern ein Zeichen unbotmäßiger Milde des Gerichts.

Damit der Artikel diesen Eindruck erwecken konnte, mussten freilich einige Details wegfallen, die sich zum Beispiel bei Welt.de finden:

Nach Auffassung des Gerichts Tiergarten hatte Viett nicht — wie von der Staatsanwaltschaft angeklagt — am Arm eines Polizeibeamten gezerrt, um die Festnahme eines jungen Mannes zu verhindern. Vielmehr habe sie versucht, die “aggressive Situation zu beruhigen”. Die Richterin sprach von einer “beschwichtigende Geste, weil es zuvor ganz schön zur Sache gegangen” sei.

Doch entlastende Fakten stören nur, Bild.de setzt lieber auf vollmundige Empörung:

Ein Skandal-Urteil! Denn Normalbürger ohne Vorstrafe müssen mit Haft bis zu zwei Jahren rechnen.

Und die Antwort auf die Frage “Schonzeit für eine Ex-RAF-Terroristin?” hätte sich Bild.de selbst geben können. Sie lautet: Nein.

Es ist zwar richtig, dass die Höchststrafe für Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte bei zwei Jahren Gefängnis liegt. Dass unbescholtene Bürger wegen geringfügigen Widerstands jedoch zu solchen drakonischen Strafen verurteilt werden, ist jedoch ein Ammenmärchen.

So gibt der “Tagesspiegel” ein wenig Perspektive:

Krawalle bei Demonstrationen, Attacken auf Polizisten, Autobrände – fast täglich laufen derzeit im Moabiter Kriminalgericht Prozesse gegen mutmaßliche Linksextremisten. Mai-Randalierer erhielten zum Teil deutliche Gefängnisstrafen. Zu jeweils drei Jahren und drei Monaten wegen versuchter Körperverletzung wurden zwei 19-Jährige verurteilt, die einen Brandsatz warfen. Dass auch der Wurf einer gefüllten Plastikflasche auf einen Polizisten zu einer harten Sanktion führen kann, erlebte am Mittwoch ein 29-Jähriger, der sich nach Ausschreitungen bei der gescheiterten Besetzung des Flughafens Tempelhof verantworten musste: Ein halbes Jahr Gefängnis erging gegen den vorbestraften Angeklagten.

Mit Dank an Johannes G. Und Torsten B.

So wird auch Ihr Ferrari noch edler!

Der Presserat hat also einen Leitfaden veröffentlicht, der anhand konkreter Beispiele anschaulich macht, was Schleichwerbung ist. Leider beschränkt er sich ausschließlich auf gedruckte Medien.

Doch die Leute von Bild.de waren so aufmerksam, in ihrem Angebot ein aktuelles Musterbeispiel für die unzulässige Vermischung von redaktionellen und werblichen Inhalten in Online nachzuliefern: eine 20-teilige Bildergalerie, die zunächst mit Fotos von “Starkickern und ihren Autos” beginnt, um dann unvermittelt…

Aber sehen Sie selbst:





Mit Dank an Angus S.

Stats Monkey, Presserat, Simpsons

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Journalismus: Jetzt auch aus Textbausteinen vom Kollege Automat”
(carta.info, Jürgen Kalwa)
Jürgen Kalwa weist auf die Software “Stats Monkey” der Northwestern University in Evanston, Illinois hin, die, gefüttert mit Zitaten und Resultaten, einen kompletten Artikel für den Sportteil erzeugt.

2. “Lust am Frust”
(merkur.de, Antje Hildebrandt)
Doku-Serien des Privatfernsehens werden vermehrt mit Laiendarstellern besetzt: “Kriterien wie Glaubwürdigkeit spielen in der Krise kaum noch eine Rolle. Der Zuschauer trifft immer häufiger auf alte Bekannte. Auf Familien wie die Birkhahns aus Schleswig-Holstein, die keinen Hehl daraus machen, dass sie den TV-Teams für einen Hunderter genau das erzählen, was sie hören wollen.”

3. “Trennung von Werbung und Redaktion”
(presserat.info)
Der deutsche Presserat gibt einen Leitfaden heraus, der anhand von praktischen Beispielen aufzeigt, was geht und was nicht geht bei der Trennung von werblichen und redaktionellen Inhalten. Vom geräuschvollen Umblättern der virtuellen Seiten sollte man sich nicht irritieren lassen.

4. “Wiederholte Schleichwerbung für rosa Wundermittel bei der ARD”
(blog.esowatch.com)
“Wie blöd sind eigentlich Redakteure, Filmemacher und leider auch die Patienten, die die absurde Geschichte über die preiswerte Heilung von Neurodermitis aus dem Hobbylabor sofort glauben, sobald nur laut jemand die Pharmalobby als Schuldigen hinstellt. Haben die alle zu viele Hollywoodthriller geschaut?”

5. “Lesen Sie dies bitte ohne Unterbrechung!”
(ftd.de, Horst von Buttlar)
Horst von Buttlar glaubt, dass Journalisten so oft unterbrochen werden, dass sie kaum noch zum arbeiten kommen.

6. Interview mit John Ortved
(artsbeat.blogs.nytimes.com, Lisa Tozzi, englisch)
Die Simpsons laufen seit vielen Jahren beim Fox Network von Rupert Murdoch und erreichen bald den Bekanntheitsgrad von Disney-Produkten. John Ortved fragte Murdoch einst: “Rupert, how much money has ‘The Simpsons’ made for you?” And he just sat back, smiled and was like, “Let’s just say it’s a lot.”

Koalitionsverhandlungen, 9Live, Zeit Campus

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wie die Koalitionäre Journalisten instrumentalisieren”
(ndr.de, Video, 7:02 Minuten)
Obwohl die Koalitionsverhandlungen von CDU, CSU und FDP noch nicht abgeschlossen sind, finden täglich Pressekonferenzen statt, auf denen nichts bis kaum etwas mitgeteilt wird. Unzählige Kamerateams und Korrespondenten sind vor Ort und berichten über Vermutungen.

2. “Auf dem Balkan-Boulevard”
(stuttgarter-nachrichten.de, Dan Alexe und Vladimir Jokanovic)
Ein Bericht über Boulevardblätter in Serbien und Rumänien, die nur wenige Cents kosten und mit deutlichen Schlagzeilen aufmachen.

3. “ZAK verhängt Geldbußen gegen 9Live”
(alm.de)
Der TV-Sender 9Live wird von der Kommission für Zulassung und Aufsicht der Landesmedienanstalten (ZAK) mit einer Geldstrafe von 95’000 Euro bestraft. Die Vorwürfe: “Irreführende Äußerungen, Intransparenz, Vorspiegelung von Zeitdruck und fehlende Informationen in sieben Gewinnspielsendungen.”

4. “Es bedurfte nur eines Tweets”
(freitag.de, Alan Rusbridger)
“Guardian”-Chefredakteur Alan Rusbridger schreibt über die Folgen eines Tweets, den er am 12. Oktober publizierte.

5. “Das Leistungsschutzrecht – oder: Wie bastle ich mir ein Gesetz”
(print-würgt.de, Michalis Pantelouris)
Michalis Pantelouris denkt das Leistungsschutzrecht nach: “Es wird also in Zukunft Texte geben, die ein besonderes Recht genießen gegenüber dem Angebot eines Elektronikmarktes oder dem Newsletter einer Bio-Käserei. Da stellt sich schon die erste Frage: Warum?”

6. “Über Campus und Karriere”
(vids.myspace.com, Nico Semsrott, Video, 3:27 Minuten)
Nico Semsrott hat den “Zeit Campus Ratgeber Berufseinstieg” geklaut und getestet.

Tokio Hotel essen in der Gerüchteküche

Am Montag fragte “Bild” in großer Aufmachung:

Ist Tokio-Bill etwa magersüchtig?

Anlass waren “Fans in großer Sorge”, die “in Internet-Foren” über das Gewicht des Tokio-Hotel-Sängers rätselten.

Als “Bild” den Sänger mit den Gerüchten “konfrontierte”, erfuhr die Zeitung übrigens “Erschreckendes”:

“Manchmal ess ich den ganzen Tag über nichts und trinke nur Kaffee”, sagt Bill.

(Eine Antwort, die man mutmaßlich in jedem zweiten Büro, noch dazu in Redaktionen erhielte.)

Garniert war dieser sonst etwas dünne Artikel mit Fotos, die Bill Kaulitz “erschreckend dürr” zeigten. (In der Online-Version des Artikels sind die Bilder übrigens “nicht mehr verfügbar”, was bei Bild.de aus Lizenzgründen zwar regelmäßig vorkommt, nach zwei Tagen aber doch etwas ungewöhnlich ist.)

Doch schon heute sieht die Welt – vielleicht – ein bisschen anders aus:

Nach Magersucht-Gerüchten gibt uns diese Foto Rätsel auf: Füttert hier Tokio-Tom seinen Bruder Bill?

Es ist ja schön, dass die Redakteure von Bild.de so offen zugeben, dass ihnen das Foto Rätsel aufgibt (und nicht “ganz Deutschland”, wie es sonst gerne heißt), aber wir lösen gerne:

Nein. Hier isst Bill Kaulitz (links im Bild) seine Tintenfischringe selbst. Gut zu erkennen an der Gabel, mit der er das Essen in Richtung des eigenen Mundes führt.

Mit Dank an Klaus B.

Pressefreiheit, Afrika, Sonneborn

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Rangliste der Pressefreiheit weltweit”
(reporter-ohne-grenzen.de)
Die “Rangliste zur weltweiten Situation der Pressefreiheit” der Reporter ohne Grenzen für 2009 ist da. Am besten schneiden Dänemark, Finnland, Irland, Norwegen und Schweden ab. Die Schweiz belegt Platz 7, Österreich Platz 13, Deutschland Platz 18. Am wenigsten Pressefreiheit gibt es in Myanmar, Iran, Turkmenistan, Nordkorea und Eritrea.

2. “Afrikas Blogosphäre”
(blaetter.de, Geraldine de Bastion)
Ein langer Artikel über Internet-Publizisten auf dem afrikanischen Kontinent. Facebook und Twitter spielen eine wichtige Rolle, Blogbeiträge aber auch. In Krisensituationen während Nachrichtensperren werden diese via SMS weitergeleitet oder am Radio vorgelesen. Bisher verfügen nur 11 Prozent der Haushalte über einen Internetanschluss.

3. Interview mit Richard R. Ernst
(persoenlich.com, René Worni)
Chemiker und Nobelpreisträger Richard R. Ernst glaubt, dass Medien mehr sind als bloße Übermittler von Informationen: “Hinter Medien stecken Menschen, die selber eine Meinung haben. Und diese Meinungen sollten durchaus zum Ausdruck kommen.”

4. “Geschäftsprinzip: heiße Luft”
(sueddeutsche.de, Hans-Jürgen Jakobs)
Hans-Jürgen Jakobs über “Quatschgeschichten”, die von den Medien aufgenommen und verbreitet werden: “Offenbar finden Leute viel Spaß daran, mit journalistischer Mogelware Aufmerksamkeit zu erlangen, das wertvollste Gut der modernen Gesellschaft. Das falsche Spiel mit dem ‘hoax’, wie der Hokuspokus verkürzt im Englischen heißt, legt zugleich Schwächen im Journalismus bloß.”

5. “Koalition plant Leistungsschutzrecht für Verlage”
(carta.info, Robin Meyer-Lucht)
Nach Informationen von carta.info soll im Entwurf des derzeit von CDU, CSU und FDP ausgehandelten Koalitionsvertrags folgende Passage drin stehen: “Verlage sollen im Online-Bereich nicht schlechter gestellt sein als andere Werkmittler. Wir streben daher die Schaffung eines Leistungsschutzrechts für Presseverlage zur Verbesserung des Schutzes von Presseerzeugnissen im Internet an.”

6. “Martin Sonneborn zu Gast bei Zimmer Frei!”
(wdr.de, Video, 59:02 Minuten)
Zunächst wollte man die “sechzig langen Minuten, in denen” Martin Sonneborn “aus Sicht der Redaktion leider wenig zur Unterhaltung beizutragen wusste”, nicht ausstrahlen. Dann wurde die Ausgabe ins Nachtprogramm verbannt. Nun ist sie online.

Von Aliens und anderen Kometen

Schon seit geraumer Zeit gönnt man sich bei Bild.de einen für ein, nun ja, Nachrichtenportal ungewöhnlichen Luxus: Die Sensationsberichte aus dem seit jeher beliebten Bereich “Ufos, Aliens, 2012 und Übersinnliches” haben ein eigenes Online-Ressort erhalten: “Mystery”. Hier schreibt vornehmlich der einschlägig bekannte Attila Albert über alles, was ihm mysteriös genug erscheint — vom baldigen Weltuntergang über Vampirhunde bis hin zum knuffigen Alien-Baby. Das hat nicht nur den Vorteil, dass interessierte (und leichtgläubige) Leser durch die Bündelung von “Mystery”-Nachrichten in eine Parallelwelt des Übersinnlichen eintauchen können. Gleichzeitig gelingt es “Bild”, den wohl selbst in der eigenen Redaktion etwas verrufenen Verschwörungsschmuddelkram, vom seriösen — oder sagen wir besser: anders unseriösen — Teil der Inhalts-Produktion zu trennen.

Die Einteilung einer Nachrichtenseite in offensichtlichen und nicht offensichtlichen Unfug birgt aber auch Schwierigkeiten: Wann genau ist eine Nachricht blödsinnig genug, um ins Mystery-Ressort verbannt zu werden? Was passiert mit tatsächlichen Geschehnissen, in die man jedoch das Walten übersinnlicher Kräfte hineininterpretiert? Die Ergebnisse dieser ständigen Abwägungen sind bisweilen durchaus amüsant. So ist ein angeblicher Schädel auf dem Mars unter “News” eingeordnet, während ein Alien-Fingerabdruck als “Mystery” behandelt wird, und das obwohl noch im selben Artikel aufgelöst wurde, dass es sich bei dem “Fingerabdruck” um ein mehrere tausend Quadratkilometer großes Gangsystem handelt.

Noch anschaulicher wird die ewige Frage nach Mystery oder Nicht-Mystery, wenn man die Berichterstattung zu einem Ereignis in der vergangenen Woche betrachtet.

Als am Dienstagabend vergangener Woche mehrere Menschen bei verschiedenen Behörden anriefen, weil sie eine Lichtkugel am Himmel sahen, konnte das bei Bild.de nur eine Konsequenz haben: UFO-Alarm! Damit lag das Ereignis klar im Aufgabenbereich von “Mystery”, wo auch der erste hysterische Artikel zum Thema erschien (mittlerweile deutlich entschärft, aber noch in der URL erkennbar):

ufo-alarm-norddeutschland/lichtkugel-erschreckt-menschen-alien-meteorit.html

Als sich irgendwann nicht mehr verleugnen ließ, dass die Erscheinung auf einen Meteoriten zurückzuführen war und die von “Bild” ersehnte Alien-Invasion einmal mehr ausblieb, schob man drei weitere Artikel nach, die im Gegensatz zum ersten als “News” gekennzeichnet waren.

Sollte wirklich eines Tages eine Alien-Invasion bevorstehen, würde dank “Bild” bestimmt niemand mehr auch nur zum Himmel blicken. Schwierige Frage übrigens: Wären echte Aliens eigentlich noch “Mystery” oder doch schon wieder “News”?

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