Kanzlerkandidat, Genmais, Autorisierung

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Die Dauer-Kampagne gegen jeden”
(notes.computernotizen.de, Torsten Kleinz)
In der Medienmaschinerie werde jeder “nach dem fast gleichen Rezept verhackstückt”, schreibt Torsten Kleinz: “Die erste Welle von Meldungen greift einen vermeintlichen Skandal auf, dann kommen die vernichtenden Kommentare und Analysen, dann ein paar neue Artikel über neue Interviewäußerungen und schließlich die Gegenanalyse, die gegen den Strom schwimmt, die den Medienzirkus oder das jeweilige Establishment aufs Korn nimmt.”

2. “Cicero wird Kikeriki”
(fr-online.de, Tom Schimmeck)
Die Frage nach dem Kanzlerkandidaten ist die “Seifenoper der Saison”: “Arbeit, Lohn und Steuern, Außenpolitik, Umwelt, Bildung, Energie, Militär – alles öde, langweilig, herrje, und viel zu komplex. Dafür hat der wahre Hauptstadtjournalist nur ein todmüdes Lächeln.”

3. “Genmais-Studie: ZDF wie zweifelhaft”
(medien-doktor.de, Marcus Anhäuser)
Die Nachrichtensendung “ZDF heute” berichtet über ein “höheres Krebsrisiko durch Genmais” und präsentiert dabei “allein die Sicht der Studienautoren, als gäbe es die gesamte heftige Diskussion um die Studie gar nicht. Wer solche Zweifel an einer Studie ausblendet, betreibt zweifelhaften Journalismus”.

4. “In New Policy, The Times Forbids After-the-Fact ‘Quote Approval'”
(publiceditor.blogs.nytimes.com, Margaret Sullivan, englisch)
Die “New York Times” überarbeitet ihre Haltung zur Autorisierung von Zitaten: “So starting now, we want to draw a clear line on this. Citing Times policy, reporters should say no if a source demands, as a condition of an interview, that quotes be submitted afterward to the source or a press aide to review, approve or edit.” Siehe dazu auch “NYT stoppt Autorisierung von Zitaten” (meedia.de).

5. “‘Satire reagiert nur auf Ereignisse'”
(taz.de, Julia Mateus)
“Titanic”-Chefredakteur Leo Fischer zur Debatte über die Reaktionen auf den Film “Innocence of Muslims”: “Also ich kenne Muslime, die sich über Satire freuen und sie sehr wertschätzen. Das Bild vom säbelschwingenden Moslem, der bei jeder Gelegenheit aus der Haut fährt, finde ich rassistisch und unerträglich. Die Reaktionen westlicher Medien sind ein Akt, der gegen die Muslime gerichtet sind.” Siehe dazu auch “Fischer: Muslime müssen Witze über sich aushalten” (dradio.de, Silvia Engels).

6. “Neukölln Survivor”
(migazin.de, Roman Lietz)
Das Buch “Neukölln ist überall” des Bürgermeisters von Berlin Neukölln, Heinz Buschkowsky, wird von “Bild” vorabgedruckt. Roman Lietz macht sich auf Spurensuche nach den beschriebenen Zuständen.

Selbsterfüllender Journalismus

Heute gibt’s mal keine augenzwinkernden Anmoderationen und albernen Vergleiche. Heute wird’s schlimm.

Stellen Sie sich vor, eine Angehörige stirbt mit Anfang Zwanzig, offenbar ermordet von ihrem Ex-Partner, dem Vater des gemeinsamen Kindes. Neben all der Trauer und dem Entsetzen gilt es, sich um Beerdigung und Behördengänge zu kümmern, sich um das Kind zu kümmern und generell zu funktionieren.

Vielleicht wissen Sie, dass die beiden eine Internetseite über sich und ihre Familie angelegt hatten, vielleicht wissen Sie es nicht. Vielleicht wollen Sie das Gästebuch der Seite erst mal als Kondolenzbuch verwenden. Wahrscheinlich haben Sie einfach anderes zu tun, als sich auch noch um diese Website zu kümmern.

Und dann schlagen Sie die “Bild”-Zeitung auf und sehen ein riesiges Foto der beiden, überschrieben mit “Hier umarmt das Opfer seinen Killer”.

Wirklich schlimm (und auf eine gewisse Art absurd) wird es dann auf Bild.de:

UNHEIMLICH: IM INTERNET LEBT IHRE LIEBE WEITER.

[Sie] und [er] widmeten ihrer Beziehung ein Online-Tagebuch. [Titel] haben sie über die liebevoll gestaltete Seite geschrieben. Hier wollten sie ihre Liebe mit allen teilen.

Das Liebestagebuch lebt als digitales Dokument weiter – auf ewig gespeichert.

Das “Liebestagebuch”, auf das Bild.de selbstverständlich gleich verlinkt hat, wurde inzwischen komplett offline genommen. In ein paar Wochen wird es auch aus dem Cache der Suchmaschinen verschwunden sein.

Aber bei Bild.de, da könnten die privaten Fotos und Zitate tatsächlich auf ewig gespeichert bleiben. Falls die Angehörigen nicht juristisch dagegen vorgehen.

Mit Dank auch an Michael.

Werner Faymann, Fox News, Check-Sendungen

6 vor 9

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1. “Aussagekräftig: Das Inseratennetzwerk von Werner Faymann”
(derstandard.at)
Derstandard.at visualisiert Verbindungen zwischen Bundeskanzler Werner Faymann und verschiedenen Personen, die zum Teil bei österreichischen Boulevardzeitungen engagiert sind: “In seiner Zeit als Infrastrukturminister (2007-2008) sollen die staatseigenen Unternehmen ÖBB und Asfinag dazu gedrängt worden sein, großangelegte Werbekampagnen mit dem Konterfei des jetzigen Bundeskanzlers in diesen Boulevardmedien zu schalten. Der Vorwurf lautet, dass die Höhe der öffentlichen Gelder Einfluss auf die redaktionelle Berichterstattung in diesen Medien hatte. Alle Beteiligten dementieren die Vorwürfe.”

2. “Die Frage ist nicht, ob Journalisten bestechlich sind. Sondern, von wem. Und von was”
(blog.tagesanzeiger.ch/deadline, Constantin Seibt)
Constantin Seibt liefert drei verschiedene Verlagskonzepte und einige Gedanken zur Bestechlichkeit im Journalismus.

3. “Schutzengel”
(critic.de, Frédéric Jaeger)
Der Film “Schutzengel” mit Til Schweiger wird nur einigen ausgewählten Pressevertretern vorab gezeigt: “Ganz nach dem Motto: Sind Kritiker nicht käuflich, wähle sie mit Bedacht aus.”

4. “Chaos on Bulls**t Mountain”
(thedailyshow.com, Video, englisch)
Wie “Fox News” auf die Rede von Mitt Romney an einem Spendenanlass (Video / Transkript) reagiert.

5. “extra 3 Check: Check-Sendungen”
(ndr.de, Video, 2:59 Minuten)
Check-Sendungen im Check von extra 3 Check.

6. “Premiere”
(xkcd.com, englisch)
Eine Live-Schaltung zum Reporter auf dem roten Teppich.

Das Glas ist doppelt leer

Alkohol soll ja am Besten in Maßen konsumiert werden — und wo ginge das besser als beim Münchener Oktoberfest, wo die gängige Ausgabegröße für Bier eine sogenannte Maß (überall sonst auf der Welt: ein Liter) ist?

Ebenso Folklore wie das Oktoberfest selbst sind die jährliche Wasserstandsmeldungen, wie viel (mehr) denn im aktuellen Jahr für so eine Maß berappt werden müsse (2012: “zwischen 9,10 und 9,50 Euro”, 2010: “zwischen 8,30 und 8,90 Euro”, 2007: “ab 7,80 Euro. Rekord!”, …).

Aber das sind vergleichsweise trockene Zahlen. Hilfreich wäre natürlich eine Einordnung ins internationale Preisspektrum.

Drum danket dem Herrn für Bild.de:

Teures Oktoberfest: Was Bier weltweit kostet

Oder genauer: für “ECA International”.

Das Beratungsunternehmen “ECA International” mit Dependance in München hat die Bierpreise von 16 Besuchernationen mit denen der Wiesn verglichen. Besonders hart trifft es demnach Oktoberfest-Fans aus Südafrika, die gegenüber den Heimatpreisen das Doppelte für eine Maß Bier bezahlen müssen.

Bild.de hat sich aber auch die Mühe gemacht und Vergleiche angestellt:

Links oben sehen Sie die Bierpreise in 16 Nationen weltweit sowie die Abweichung vom Maß-Preis – ausgehend vom Preis im eigenen Land.

Die Bierpreise dieser 16 Nationen sind – wohl damit sie nicht so einfach miteinander zu vergleichen sind – nicht etwa in einer Tabelle aufgeführt, sondern in einer 16-teiligen Klickstrecke.

Auch gibt es eine gewisse Abweichung beim Ausgangsmaterial: Während “ECA International” mit 8,65 Euro rechnet (“Die Maß Bier kostet in den Festzelten zwischen 8,30 Euro und 8,90 Euro – im Durchschnitt über alle Zelte gerechnet sind das 8,65 Euro.”), geht Bild.de von einem anderen Preis aus: “Durchschnittlich 9,32 Euro zahlen Wiesn-Besucher dieses Jahr für den berühmten Humpen Bier.”*

Aber das sind alles noch keine befriedigenden Erklärungen für dieses Kraut und Rüben, das Bild.de da in seiner Übersicht präsentiert:

Land Preis Abweichung laut Bild.de Tatsächliche Abweichung
Norwegen 20,98 Euro 56 Prozent teurer 125 Prozent teurer
Japan 15,10 Euro 38 Prozent teurer 62 Prozent teurer
Schweiz 14,54 Euro 36 Prozent teurer 56 Prozent teurer
Dänemark 13 Euro 28 Prozent teurer 39 Prozent teurer
Frankreich 12,18 Euro 23 Prozent teurer 31 Prozent teurer
Australien 11,68 Euro 20 Prozent teurer 25 Prozent teurer
Kanada 11,26 Euro 17 Prozent teurer 21 Prozent teurer
Neuseeland 10,88 Euro 14 Prozent teurer 17 Prozent teurer
Italien 10,74 Euro 13 Prozent teurer 15 Prozent teurer
Argentinien 10,48 Euro 11 Prozent teurer 12 Prozent teurer
Niederlande 9,46 Euro 1 Prozent teurer 1,5 Prozent teurer
USA 9,02 Euro 3 Prozent billiger 3 Prozent billiger
Österreich 8,08 Euro 15 Prozent billiger 13 Prozent billiger
Großbritannien 7,28 Euro 28 Prozent billiger 22 Prozent billiger
Spanien 6,92 Euro 35 Prozent billiger 26 Prozent billiger
Südafrika 4,66 Euro 100 Prozent billiger 50 Prozent billiger

Am Schluss bekommt man wenigstens eine Ahnung, was da falsch gelaufen sein könnte: Ein Bier, das “100 Prozent billiger” ist als auf dem Oktoberfest, müsste exakt 0 Cent kosten. Bild.de hat offenbar aus der anderen Richtung gerechnet:

Besonders hart trifft es demnach Oktoberfest-Fans aus Südafrika, die gegenüber den Heimatpreisen das Doppelte für eine Maß Bier bezahlen müssen.

Mit Dank an Jens und Blox.

Nachtrag, 18.20 Uhr: Unser Leser Sönke B. hat einen plausiblen Lösungsweg herausgefunden: Bild.de rechnet offenbar in der Tat “ausgehend vom Preis im eigenen Land”.

Das heißt, bezogen auf das Beispiel Norwegen: Bild.de teilt die vollen 100 Prozent durch 20,98 und rechnet dieses Zwischenergebnis (4,77) mal dem deutschen Preis von 9,32 Euro. Dabei kommt ein Wert von 44,4 heraus, die Abweichung zu 100 Prozent beträgt also gerundet 56 Prozent, weswegen Bild.de zu dem Ergebnis kommt, das Bier in Norwegen sei “56 Prozent teurer”. Tatsächlich ist es aber in Deutschland 56 Prozent billiger, was aber nicht aufs Gleiche rauskommt, wie man spätestens am Beispiel Südafrika sehen kann.

2. Nachtrag, 21. September: Bild.de hat die Klickstrecke komplett überarbeitet und dabei offenbar unsere Werte übernommen.

Außerdem gibt es diesen Hinweis:

Leider hat sich bei unserer ersten Berechnung der Fehlerteufel eingeschlichen, das tut uns sehr leid. Wir haben das geändert. Vielen Dank an die vielen Hinweisgeber!

*) 3. Nachtrag/Korrektur: Und jetzt haben wir auch eine ganz einfache Erklärung für die Werte von Bild.de: In der Pressemitteilung von “ECA International” findet sich eine Grafik, aus der Bild.de offenbar die Werte übernommen und diese dann falsch zugeordnet hatte. Die Legende der Grafik sagt nur “Wieviel teurer/billiger ist die Maß Bier auf dem Münchener”, was tatsächlich ziemlich verwirrend sein kann.

Wir hatten gestern dämlicherweise die Pressemitteilung von vor zwei Jahren zum selben Thema verlinkt, was die Abweichungen im Durchschnittspreis erklärt, die wir in der inzwischen durchgestrichenen Passage beschrieben haben. Entschuldigung!

Mit Dank an Tobias F.

Mitleid im Promillebereich

Sie haben es sicher mitbekommen: Eine bekannte deutsche Schauspielerin hat am Montag in einer Vorabendsendung des NDR das hingelegt, was Bild.de zunächst als “irren Auftritt in TV-Show” bezeichnet hatte:

[Sie] wirkt unkonzentriert, kichert wie ein Teenie. Statt auf Tietjens Fragen zu antworten, erzählt sie, was ihr gerade in den Sinn kommt.

Im Internet machen diese Szenen aus der NDR-Sendung gerade die Runde, werden mit hämischen Kommentaren bedacht.

Offenbar durfte auch ein zufällig in der Redaktion anwesender Drittklässler noch seine Einschätzung zur Situation abgeben:

Tietjen moderierte die unangenehme Situation einfach weg. Manch anderer hätte vermutlich schmunzeln müssen (der Zuschauer hat!). Was ja aber nicht nett gewesen wäre dem Gast gegenüber.

Dann zeigte sich, dass der “kuriose TV-Moment” (Bild.de) offenbar einen ernsten Hintergrund hatte: Der Ehemann und Manager der Schauspielerin wurde zunächst mir den Worten zitiert, seine Frau habe ein “schweres gesundheitliches Problem, was wir jetzt angehen werden”, was er später konkretisierte zu: “Meine Frau hat ohne Frage ein Alkoholproblem”.

Anders als in anderen Fällen, wo eine offensichtliche Suchterkrankung schon mal als Steilvorlage für miese Namenswitze taugte, reagierten “Bild” und Bild.de diesmal beinahe einfühlsam: In der heutigen Printausgabe wird der Fall der Schauspielerin beispielsweise genutzt, um darüber aufzuklären, was eigentlich so ein Alkoholentzug ist, den die Frau jetzt anstrebt.

So ganz ohne Bösewicht kann ein Boluevardmedium so eine Geschichte natürlich nicht erzählen, aber Bild.de hatte zum Glück schnell einen gefunden:

Sie lallt live im TV, ist angetrunken, stammelt, giggelt, kichert – am Montagabend in der Sendung “DAS!”. Mittlerweile ist klar: Die Schauspielerin hat ein Alkoholproblem, braucht dringend Hilfe.

Hätte der NDR [die Frau] nicht schützen, den peinlichen Lall-Auftritt verhindern müssen?

Dieser Ansicht ist offenbar auch ”Bild”-Kolumnistin und Society-Expertin Christiane Hoffmann, die heute auf Bild.de eine Art “Post von Hoffmann” an die Schauspielerin schreibt:

[I]ch habe Dich leider auch bei “DAS!” im NDR gesehen. Ich musste das nach 60 Sekunden ausmachen. Ich habe mich geschämt. Hätte Dir am liebsten eine schallende Ohrfeige gegeben – und war unendlich traurig, dich so sehen zu müssen.

Schämen wirst Du dich, musst Du aber nicht.

Schämen muss sich der TV-Verantwortliche beim NDR, der hundertprozentig ein erfahrener Profi ist und genau abschätzen konnte, was passieren würde, als er Deine Alkohol-Fahne roch und Dein Lallen hörte, als Du im Studio aufgetaucht bist.

Er hörte Dich kichern wie ein dummes Kind, aber das Klingeln der Quote war lauter. Er hätte NEIN sagen MÜSSEN. Die Entschuldigung ist so easy: Magen-Darm, unser Talkgast kann leider nicht. Dann Anruf beim Management – und raus mit der Wahrheit! Macht was, ihr geht’s scheiße…

Nein, ist nicht passiert. Rein ins offene Messer – und die Klinge noch mal umgedreht.

Nee, zeig doch mal, wie toll du zeichnen kannst… “Wir schenken gleich nach – natürlich mit Wasser…”, schmunzelte Bettina Tietjen. Rasend komisch fand sie das. Ein Brüller, super. Eine öffentlich-rechtliche Hinrichtung.

Vielleicht wird Christiane Hoffmann überrascht sein, in welcher Aufmachung ihr öffentlicher Brief an die “liebe” Schauspielerin auf Bild.de erschienen ist: Eingebettet in den Text sind eine Klickstrecke, die vier Standbilder aus der kritisierten TV-Sendung zeigt, und ein Video vom Mittwoch, in dem sowohl Standbilder aus der Sendung zu sehen sind als auch Videoaufnahmen, in denen die Schauspielerin gegenüber Bild.de zunächst von einer Fischvergiftung gesprochen hatte — alles kommentiert von einer Off-Sprecherin, die Sätze wie “jetzt ist es raus: [die Schauspielerin] hat ein Alkoholproblem” so vorliest, als wolle sie ganz nebenbei noch einen Preis für den süffisantesten Textvortrag in einem Boulevardmagazin gewinnen.

Wahrscheinlich wird Christiane Hoffmann aber nicht überrascht sein. Immerhin arbeitet sie schon seit vielen Jahren für “Bild”.

Mit Dank an Marco S. und Chrissi.

PR-Tricks, Volontäre, Johnny Haeusler

6 vor 9

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1. “Alles abschalten!”
(neunetz.com, Marcel Weiss)
Suchmaschinen wie Google können “nicht jede Form von Verleumdung vorhersehen”, stellt Marcel Weiss fest: “Google ist wie der Kioskbesitzer, der (selbstverständlicherweise) nicht für falsche Behauptungen in der Bild-Zeitung verantwortlich gemacht wird, nur weil er sie in seinem Laden verkauft; und übrigens auch nicht, wenn er diese Bild-Zeitung für alle sichtbar in’s Schaufenster legt.”

2. “Die sieben nervigsten PR-Tricks”
(wuv.de, Frank Zimmer)
Tricks in der Öffentlichkeitsarbeit: “Ein beliebtes Mittel, um journalistische Anfragen ins Leere laufen zu lassen, ist die Antwort: ‘Ach wirklich? Das wusste ich noch gar nicht, da muss ich mich hier im Haus mal schlau machen.’ Fortgeschrittene PR-Profis wenden diesen Trick gerne bei sehr aktuellen Themen an.”

3. “Junge Medienmacher unter Druck”
(ndr.de, Video, 8:57 Minuten)
Wie Volontäre im deutschen Journalismus ausgebeutet werden / sich ausbeuten lassen: “Kaum Anerkennung, niedrige Bezahlung, hoher Druck, Überstunden, keine richtige Ausbildung, fehlende Autoren-Inserts.”

4. “Rockstar, Moderator, Kindergärtner”
(taz.de, Meike Laaf)
Johnny Haeusler im Porträt von Meike Laaf.

5. “A Letter from a Scared Actress”
(journal.neilgaiman.com, englisch)
Die Schauspielerin Anna Gurji ist erschüttert, sich als “one of the supporting actresses” des Films “Innocence of Muslims” wieder zu finden, wurde sie doch im Glauben gelassen, in einem Film mit dem Titel “Desert Warrior” mitzuwirken, in dem es um einen Kometeneinschlag in der Wüste geht: “I want to send my condolences to the families and friends of those who lost their lives.”

6. “Erschöpfte Islamisten bitten darum, Propheten nicht so oft hintereinander zu schmähen”
(der-postillon.com)

Kein Flugsteig ist eine Insel

Genauso wie es bei der Übersetzung englischsprachiger Größenordnungen jenseits der Millionen häufig zu Fehlern kommt, geht auch bei der Umrechnung englischsprachiger Flächenmaße regelmäßig etwas schief.

Erst letzte Woche schrieb Bild.de über das Haus, das die sogenannte “Octomom” gekauft bezogen hatte:

Wie “tmz” berichtet, hat ihre neue Bleibe in Palmdale fünf Zimmer, drei Bäder, eine Riesengarage für drei Autos und einem Riesengarten (13000 Quadratmeter).

Dabei hatte “TMZ” von einem “14,000 sq. ft. back yard” geschrieben, also einem Garten von 14.000 Quadratfuß oder 1.300 Quadratmetern.

Es braucht aber nicht mal zwingend fremde Sprachen und Maßeinheiten, um sich bei Flächen zu vertun, wie die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” beweist, die heute über den neuen Flugsteig A-Plus des Frankfurter Flughafens schreibt:

185400 Quadratmeter Fläche sind hinzugekommen – das entspricht der Größe Fehmarns.

Die Ostseeinsel Fehmarn allerdings ist 185,5 Quadratkilometer groß, was 185.500.000 Quadratmetern entspricht — also rund tausendmal dem Flugsteig A-Plus.

Seit gestern Nacht weisen zwei Kommentare auf diesen Rechenfehler hin. Bisher erfolglos.

Mit Dank an Manuel L. und Sebastian.

Nachtrag, 14.13 Uhr: FAZ.net hat sich transparent korrigiert:

Im Originaltext ist uns ein Umrechnungsfehler unterlaufen. Die Fläche des neuen Flugsteigs entspricht, anders als zuerst vermerkt, nicht Größe Fehmarns (siehe Leserbriefe).

Notruf, Rentner, #muslimrage

6 vor 9

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1. “Die zweite Welle”
(journalist.de, Benjamin O’Daniel)
Benjamin O’Daniel berichtet über hyperlokale Websites wie meinesüdstadt.de aus dem Kölner Bezirk Neustadt-Süd und tegernseerstimme.de aus dem Tegernseer Tal.

2. “VG Köln: Keine Herausgabe von Notruf-Aufnahme an Presse”
(wbs-law.de, Christian Solmecke)
Das Verwaltungsgericht Köln lehnt einen Eilantrag eines “Bild”-Mitarbeiters ab, der damit die die Herausgabe von Tonbandaufzeichnungen über einen abgesetzten Notruf erreichen wollte: “Das Gericht begründete dies damit, dass ansonsten die Ermittlungen der Polizei womöglich beeinträchtigt werden. Darüber hinaus würde durch die Herausgabe der Aufnahmen über den Notruf das allgemeine Persönlichkeitsrecht des verstorbenen Opfers und seiner Angehörigen verletzt werden.”

3. “Die haben auch!”
(blog.dasmagazin.ch, Mathias Plüss)
Mathias Plüss liest auf faz.net die Leserkommentare mit den meisten Empfehlungen zum Artikel “Polens Rolle im Holocaust: Die Wahrheit schwarz auf weiß”: “Alles trieft von diesem unsäglichen Relativismus: Die haben zwar auf den Deckel bekommen, aber auch ausgeteilt. Waren Täter und Opfer, wie wir alle, gell. Der traurige Höhepunkt ist folgender Kurzkommentar: ‘Polen war antisemitisch und bleibt antisemitisch.’ 97 Empfehlungen.” Zu Leserkommentaren siehe auch “Die BILD.de-Community präsentiert sich wieder von ihrer besten Seite” (mediensalat.info, Ralf Marder).

4. “Newsweek-Cover löst Spott und Ärger aus”
(zeit.de, Till Schwarze und Juliane Leopold)
Die Redaktion von “Newsweek” fordert ihre Leser dazu auf, unter dem Hashtag #muslimrage ihre aktuelle Titelgeschichte zu kommentieren und “eigene Erfahrungen mit muslimischer Wut zu beschreiben. Der Aufruf zeigte Wirkung: Newsweek bekam die Aufmerksamkeit, die es wollte – allerdings aus einer ganz anderen Richtung.” Siehe dazu auch “13 Powerful Images of Muslim Rage” (gawker.com).

5. “Das Schweigen der Medien”
(perlentaucher.de, Thierry Chervel)
Thierry Chervel denkt nach über den Zusammenhang von kursierenden Gerüchten und Ereignissen auf der einen Seite und Medienberichten auf der anderen Seite. Den Medien gehe es um die “Konstruktion einer Symmetrie”: “Hier das Hassvideo – dort die Empörung, ein Reiz-Reaktions-Schema, das die Verantwortung gleich verteilt und zu tiefsinnigem Unken der Leitartikler Anlass gibt.”

6. “Die Armuts-Rentner”
(ndr.de, Video, 44:30 Minuten)
Rentner, die arbeiten müssen, weil ihre Rente zum Leben nicht ausreicht.

Keinoscarhase

Man tut sicher keinem der Beteiligten Unrecht, wenn man Til Schweiger als guten Freund von “Bild” bezeichnet. Er ist so etwas wie die männliche, schauspielende Vicky Leandros mit gewöhnungsbedürftigerer Stimme.

Heute nun übertrug Bild.de gar die Deutschlandpremiere von Schweigers neuestem Film “Schutzengel” im Livestream.

Im Begleittext schreibt Bild.de:

“Schutzengel” ist unter den Bewerbern für den besten nicht-englischsprachigen Film für den Oscar 2013.

Das Action-Drama startet offiziell am 27. September in den deutschen Kinos. Dann wird auch klar sein, ob der Film im Februar bei der Oscar-Verleihung in Los Angeles vertreten sein wird.

Dabei ist jetzt schon klar, dass er es nicht sein wird: Zwar werden die fünf Nominierungen erst im Januar bekanntgegeben, aber schon Ende August entschied eine unabhängige Fachjury, dass der Film “Barbara” von Christian Petzold der deutsche Vorschlag für den besten nicht-englischsprachigen Film ist.

Darüber hatte sogar Bild.de berichtet.

dapd, dpa  etc.

Das Phantom der Opfer

Die Sommerferien sind vorbei und ich begrüße Sie ganz herzlich zur ersten Stunde unseres Englisch-Leistungskurses! Es sind noch zwei Jahre bis zum Abitur, deswegen wollen wir es heute erst mal etwas ruhiger angehen lassen – hart wird’s noch früh genug – und gucken zum Einstieg erst mal ein Video:

Sie haben es natürlich schon gemerkt (bis auf den Kollegen da am Fenster, der schon – HALLO! – eingeschlafen war): Wir haben das Video nicht nur zum Vergnügen gesehen. Zum einen machen wir gleich ein paar kleine Übersetzungsübungen, zum anderen werden wir uns in diesem Herbst zunächst intensiv mit dem Thema “Wahlkampf in den USA” beschäftigen. Also, wer hat den Mann erkannt?

Richtig, Mitt Romney war das, der republikanische Präsidentschaftskandidat und Herausforderer von Barack Obama.

Und jetzt lesen wir gemeinsam diesen Text von der Deutschen Presse-Agentur dpa, wenn Sie den mal eben rumgeben, danke!

Dann lesen wir doch mal:

Der republikanische Präsidentenkandidat Mitt Romney hat sich in einem heimlich aufgenommenen Video abfällig über Wähler des demokratischen Präsidenten Barack Obama geäußert. Romney beschrieb 47 Prozent der Obama-Wähler als Abzocker, die keine Einkommenssteuer zahlten und glaubten, sie seien Opfer und die Regierung müsse für sie sorgen.

Wem ist was aufgefallen? Ja, Sie da in dem Ringelpulli!

Genau, dpa schreibt, Romney beschreibe 47 Prozent der Obama-Wähler als Abzocker. Da fragt man sich natürlich, was mit den anderen 53 Prozent ist, nicht wahr? In Wirklichkeit hat er ja aber gesagt:

There are 47 percent of the people who will vote for the president no matter what. All right, there are 47 percent who are with him, who are dependent upon government, who believe that they are victims, who believe the government has a responsibility to care for them, who believe that they are entitled to health care, to food, to housing, to you-name-it. That that’s an entitlement. And the government should give it to them. And they will vote for this president no matter what…These are people who pay no income tax.

Der einzelne Satz ist ein bisschen schwer zu verstehen, aber es wird dann schnell klar, dass es um 47 Prozent aller Wähler geht. Also, Romney meint: 47 Prozent stimmen eh für Obama. Er sagt dann später, er muss die fünf bis zehn Prozent in der Mitte überzeugen, die vorher noch nicht festgelegt sind.

Ich hab hier auch noch einen Text von der Nachrichtenagentur dapd, ich les den grad mal vor:

Mitt Romney hat sich im US-Präsidentschaftswahlkampf mal wieder selbst ein Bein gestellt. Vor wohlhabenden Spendern bezeichnete der republikanische Präsidentschaftskandidat Anhänger von Amtsinhaber Barack Obama als Opfer. Fast die Hälfte aller Amerikaner glaubten, sie seien Opfer und hätten Anspruch auf finanzielle Unterstützung.

Wem fällt was auf? Ja, Sie hier vorne? Genau: Im zweiten Satz heißt es, Romney bezeichne die Leute als “Opfer”, im dritten heißt es – richtig – er sagt, sie sähen sich selber als welche. Die Überschrift der Meldung lautet: “Romney bezeichnet Obama-Anhänger als Opfer”, die der dpa-Meldung lautet: “Romney bezeichnet Obama-Wähler als Abzocker und Opfer”.

Und das ist ja wohl ein Unterschied, ob ich sage “Du Opfer” (sagt man das noch unter jungen Leuten?) oder “Ooooch, der Arme: sieht sich als Opfer”. Man könnte sagen: Mitt Romney spricht diesen Menschen ab, sich rechtmäßig als Opfer fühlen zu dürfen.

Und jetzt gucken Sie sich mal an, was die deutschen Online-Medien so schreiben:

“Spiegel Online”:

“Die Welt:”
Romney beschimpft Wähler von Obama als "Opfer"

“Focus Online”:
Mitt Romney schmäht Obama-Wähler als "Opfer"

stern.de:
Romney verhöhnt Obama-Wähler als "Opfer"

“RP Online”:
Romney nennt Obama-Wähler "Opfer"

So, das war’s für die erste Stunde. Wir machen fünf Minuten Pause und dann fangen wir richtig an. Damit Sie nach dem Abi was Vernünftiges studieren können und nicht Journalist werden müssen.

Mit Dank auch an Wolfgang.

Nachtrag, 17.10 Uhr: dpa hat eine Berichtigung des Artikels verschickt:

## Berichtigung
– Im zweiten Satz wurde klargestellt, dass Romney alle Obama-Wähler meinte. Es heißt richtig “die 47 Prozent Obama-Wähler”, nicht: “47 Prozent der Obama-Wähler”)
– In der Überschrift wurden die Worte “und Opfer” gestrichen

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