“Welt”: Pseudoseriöses Unken über Mesut Özil in “Bild”

Fußballprofi Mesut Özil schlägt derzeit enorm viel Hass entgegen. Insofern ist die heutige “Welt”-Titelseite durchaus bemerkenswert:

Ausriss Welt-Titelseite - Deutschland hat Mesut Özil viel zu verdanken

Redakteur Christoph Cöln kommentiert im Blatt:

Seit Özils dummen, falschen Fotos mit Recep Tayyip Erdogan hat eine noch dümmere Hetzjagd auf den Fußballer eingesetzt. Er scheint in Deutschland Staatsfeind Nummer eins zu sein.

Cöln erwähnt “endlose Tiraden in den sozialen Netzwerken und Kommentarspalten”, den dumpfbackigen Auftritt des dumpfbackigen Mario Basler bei “Hart aber fair” am späten Montagabend und er schreibt über Lothar Matthäus:

Ähnlich pseudoseriös und verschwörerisch unkte Weltmeister Lothar Matthäus kürzlich. Özil fühle sich im Nationaltrikot nicht wohl, so Matthäus. Das ist infam.

Bei Welt.de ist die Passage zu Matthäus noch etwas länger:

Ähnlich pseudoseriös und verschwörerisch unkte Weltmeister Lothar Matthäus kürzlich. Özil fühle sich im Nationaltrikot nicht wohl, so Matthäus. Das ist infam. Die Aussage suggerierte, dass der in Gelsenkirchen geborene Sohn türkischer Einwanderer Identitätsprobleme hat, dabei spielt Özil seit seiner Jugend in der Nationalmannschaft, er ist einer ihrer verdientesten Repräsentanten.

Doch auch hier: kein Hinweis darauf, wo Lothar Matthäus “pseudoseriös und verschwörerisch” rumunken darf. Welche Redaktion ermöglicht sowas Infames? Wo kann Matthäus suggerieren, Özil habe Identitätsprobleme?

So sah die Titelseite der “Bild”-Zeitung gestern aus:

Ausriss Bild-Titelseite - Zwei Sätze, die uns bewegen - Lothar Matthäus knallhart: Özil fühlt sich nicht wohl im DFB-Trikot

Matthäus’ infames Rumunken bewegt die “Bild”-Mitarbeiter — und zwar so sehr, dass sie die unfundierte Fernanalyse auf Seite 1 gepackt haben.

Das Matthäus-Zitat auf der Titelseite ist allerdings nur der zwischenzeitliche Höhepunkt einer “Bild”-Kampagne gegen Mesut Özil. Die Redaktion lässt in letzter Zeit keine Möglichkeit aus, den Nationalspieler runter- und rauszuschreiben. Eine Auswahl aus den vergangenen Tagen:

10. Juni:
Screenshot Bild.de - Kritik an Nationalspieler - Mario Basler würde auf Mesut Özil verzichten

12. Juni:
Screenshot Bild.de - Nachgehakt - Özil denkt an sich, nicht an das Team!

13. Juni:
Screenshot Bild.de - Klartext von Effe - DFB hätte Özil & Gündogan rauswerfen müssen!
Screenshot Bild.de - Erste DFB-Pressekonferenz aus Russland - Wird Özil nur WM-Ersatz, Herr Löw?
Screenshot Bild.de - Wir haben Konkurrenzkampf - Löw will sich nicht auf Özil festlegen
Screenshot Bild.de - Protokoll zum ersten Training in Russland - Nachdenklicher Auftritt von Özil

14. Juni:
Screenshot Bild.de - Rekord-Nationalspieler stellt seine DFB-Startelf auf - Matthäus setzt zwei Jogi-Stars auf die Bank

Für Mesut Özil ist dagegen kein Platz!

15. Juni:
Screenshot Bild.de - Verpiss dich du Idiot - Theaterchef beschimpft Özil auf Twitter

16. Juni:
Screenshot Bild.de - Fifa-Pressekonferenz im Livestream - Bringt Jogi Reus für Özil?

17. Juni:
Screenshot Bild.de - 0:1 gegen Mexiko - Diese Pleite macht uns WM-Angst

Und Löw setzt auf seinen Liebling. Trotz Erdogan-Affäre, trotz der Pfiffe der eigenen Fans und der fehlenden Spielpraxis steht Mesut Özil (29) in der Startelf – wie in all seinen 26 WM- und EM-Spielen.

Screenshot Bild.de - Bild-Kommentar - Ich habe auf dem Platz keine Weltmeister gesehen

Und Özil?

Er ist ja seit dem Erdogan-Foto abgetaucht und zog das konsequent durch.

18. Juni:
Screenshot Bild.de - Zwei Weltmeister auf die Bank! So muss Jogi gegen Schweden aufstellen

ÖZIL RAUS! Seit 2009 hält Löw seinem Spielmacher Mesut Özil (29) die bedingungslose Treue! Belohnt wurde er dafür zuletzt nur noch sehr selten.

19. Juni:
Screenshot Bild.de - Körpersprache eines toten Froschs - Basler vernichtet Özil!

Und dann eben das bereits erwähnte Mätthäus-Zitat:
Screenshot Bild.de - Lothar Matthäus knallhart: Özil fühlt sich nicht wohl im DFB-Trikot

“Welt”-Chefredakteur Ulf Poschardt twitterte gestern Abend:

Screenshot des Tweets von Ulf Poschardt - Mesut Özil ist mit seiner introvertierten Melancholie und seiner existenziellen Sorge (Heidegger) deutscher und europäischer als die reaktionären Widerlinge, die ihn jetzt anzählen.

Auf unsere Frage, ob er dabei an bestimmte Leute oder auch Redaktionen denke, hat Poschardt leider nicht geantwortet.

Ebenfalls zum Thema:

Zensurmaschine EU, Themensetzung bei Talkshows, NR-Leuchtturm-Preis

1. “Diese Upload-Filter wären regelrechte Zensurmaschinen”
(sueddeutsche.de, Simon Hurtz)
Es ist soweit: Heute stimmt die EU über die Reform des europäischen Urheberrechts und damit auch über die umstrittenen Upload-Filter ab. Kern des dafür einschlägigen neuen Artikel 13: Online-Plattformen wie Youtube und Facebook sollen bereits im Moment des Uploads für etwaige Urheberrechtsverstöße ihrer Nutzer haften. Dem können sich die Plattformen nur entziehen, wenn sie Upload-Filter installieren, die jede Datei auf urheberrechtliche Unbedenklichkeit prüfen. Simon Hurtz hat sich mit der Europapolitikerin und Urheberrechts-Spezialistin Julia Reda unterhalten, die in der Regelung eine Gefährdung des freien Netzes sieht.
Weil es heute ein wichtiges Thema ist, hier drei weitere einschlägige Beiträge:
EU kopiert erfolgloses deutsches Gesetz (deutschlandfunk.de, Thomas Otto im Gespräch mit Isabelle Klein)
Lobbying für Leistungsschutzrecht: Günther Oettingers Doktrin (taz.de, Anne Fromm & Daniel Bouhs)
Die zehn Mythen des Leistungsschutzrechts (golem.de, Friedhelm Greis)

2. “Was bei Claudia Neumann passiert, sprengt alle Grenzen”
(spiegel.de)
Wenn Frauen (Männer)Fußball kommentieren, scheint bei einigen Männern alles auszusetzen. Das lässt sich auf unschöne Weise am Beispiel der Fußball-Kommentatorin des ZDF Claudia Neumann zeigen, die im Netz auf übelste Weise angegangen wird.

3. Leuchtturm-Preis 2018 für MeToo-Rechercheteam der ZEIT
(netzwerkrecherche.org)
Der “Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen” des “Netzwerk Recherche” geht in diesem Jahr an das MeToo-Rechercheteam der “Zeit”. Damit würdigt der Verein die Recherchen und Veröffentlichungen zur Affäre um Dieter Wedel. Die Vorsitzende von “Netzwerk Recherche”, Julia Stein: “Es ist den Autorinnen und Autoren der ZEIT zu verdanken, dass mit ihrer Recherche ein altes Wertesystem ins Wanken geraten ist: Was an Sexismus und bisweilen sogar an Despotismus lange hingenommen wurde, darf nun nicht mehr sein.”
Weiterer Lesehinweis der Vollständigkeit halber: Das Sternchen-System: Thomas Fischers Zeit-kritische Anmerkungen zum Medien-“Tribunal” gegen Dieter Wedel (meedia, Thomas Fischer vom 29.01.2018)

4. Abmahnungen bei Creative Commons: Wer, Warum, Was tun?
(irights.info, Paul Klimpel)
Manche Nutzer greifen zur Bebilderung ihrer Beiträge auf freie Inhalte zurück, die mit einer Creative-Commons-Lizenz versehen sind und erleben ihr blaues Wunder, wenn eine Abmahnung des Lizenzgebers bei ihnen eintrudelt. Der Rechtsanwalt Paul Klimpel erklärt die Thematik und gibt konkrete Tipps, worauf zu achten ist.

5. Großteil der Nothilfe für türkische Journalisten
(reporter-ohne-grenzen.de)
Passend zum Weltflüchtlingstag hat “Reporter ohne Grenzen” veröffentlicht, wofür der Großteil der Nothilfe verwendet wurde: Für 111 verfolgte Journalisten, von denen 58 im Exil leben müssen. In einem Zweiminuten-Video stellt “Reporter ohne Grenzen” einige der betroffenen Journalisten vor. Lohnenswert, weil aus den abstrakten Zahlen plötzlich Gesichter werden.

6. Die Flüchtlinge waren nur eine Phase
(zeit.de, Theresa Krinninger, Carolin Ströbele, Julius Tröger, Andreas Loos und Alsino Skowronnek)
In letzter Zeit hatten viele den Eindruck, dass deutsche Talkshows von Flüchtlingsdebatten dominiert werden. “Zeit Online” hat sich an die Fleißaufgabe gemacht, die Themen und Quoten von 900 Sendungen auszuwerten: “Die überraschendste Erkenntnis war, dass 2017 und im ersten Halbjahr 2018 die Themen Islam, Flüchtlinge, Integration und Terrorismus eher unterrepräsentiert waren. Insofern trifft der Vorwurf die deutschen Talkerinnen und Talker zumindest zum falschen Zeitpunkt.”

Man muss jedoch erwähnen, dass sich die Rechercheure nach eigener Aussage bei der Zuordnung und Kategorisierung der Sendungen nur an den Sendungstiteln und nicht an den tatsächlichen Inhalten und/oder Teildebatten orientiert haben. Diese Überschneidungen könnten das statistische Ergebnis sicher verändern und das subjektive Empfinden mancher Zuschauer in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Das Schweigen der Schalten

Bei “Focus Online” haben sie gestern das ZDF-“Morgenmagazin” geguckt und sind mit Hilfe ihrer Redaktionsstoppuhr zu dieser Geschichte gekommen:

Screenshot Focus Online - Ich kann mit der Frau nicht mehr arbeiten - Als Hayali nach Seehofers Merkel-Spruch fragt, schweigt CSU-General sekundenlang

“Ich kann mit der Frau nicht mehr arbeiten” — dieser Ausspruch wurde am Wochenende von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) über die Bundeskanzlerin kolportiert. ZDF-Moderatorin Dunja Hayali wollte nun von CSU-Generalsekretär Markus Blume wissen: Hat Seehofer das wirklich gesagt oder nicht?

Im ZDF-“Morgenmagazin” schwieg Blume sekundenlang — und wand sich dann heraus: “Das weiß ich nicht, weil ich nicht dabei war.”

Im zugehörigen Facebook-Post der “Focus Online”-Redaktion wirkt es sogar so, als hätte Blume überhaupt nicht auf Hayalis Frage geantwortet:

Screenshot Facebook-Post von Focus Online - CSU-Generalsekretär schweigt, als er nach Seehofers Merkel-Spruch gefragt wird

Es stimmt, dass zwischen dem Stellen der Frage durch Dunja Hayali und der Antwort von Markus Blume ein paar Sekunden liegen, vielleicht zwei oder drei. Dahinter steckt allerdings kein Schweigegelübde oder Ausweichversuch.

Der Grund ist ein ganz simpler und täglich im Fernsehen zu beobachten: Bei Interviews, die per Schalte Interviewerin und Interviewten zusammenbringen, sind technisch bedingte Verzögerungen ganz normal. Hayali stand im Studio in Berlin, Blume vor dem Franz-Josef-Strauß-Haus in München. Schaut man sich das gesamte Gespräch an, erkennt man, dass es jedes Mal zwei, drei Sekunden dauert, bis Blume antwortet. Er wartet schlicht und einfach, bis die jeweilige Frage komplett bei ihm angekommen ist.

Hätte Dunja Hayali den CSU-Generalsekretär gestern gefragt, was er zum Frühstück getrunken hat — Tee oder Kaffee? –, hätte dieser vor seiner Antwort ebenfalls “sekundenlang” geschwiegen.

Der Stuss von der “Grenzöffnung”, Staat als Influencer, Organversagen

1. Hat Merkel 2015 die Grenze geöffnet?
(faktenfinder.tagesschau.de, Patrick Gensing & Konstantin Kumpfmüller)
Immer wieder bedienen sich Politiker der Legende von Angela Merkels angeblicher „Grenzöffnung“. Warum diese Formulierung „grundfalsch“ ist, erklärt der ARD-“Faktenfinder” und bezieht sich dabei unter anderem auf einen Juristen aus der Rechtsredaktion: „grundfalsch, weil es schon seit Jahren keine geschlossenen Grenzen mehr gibt innerhalb des so genannten Schengen-Raums. Es konnten also im Jahr 2015 auch keine Grenzen geöffnet werden.”

2. Organversagen
(kreuzer-leipzig.de, Juliane Streich)
Der „Zeit“-Redakteur Martin Machowecz hat mit einem kritischen Tweet über Journalisten, die privat an Anti-AfD-Demos teilnehmen, eine breite Debatte ausgelöst („Ich finde das problematisch. Kann man denn dann am nächsten Tag wirklich wieder glaubwürdig über die #AfD schreiben?“) Nun greift er die von ihm angestoßene Diskussion in der Printausgabe auf, lässt dort aber viele Argumente der Gegenseite unbeachtet, wie Juliane Streich ausführt.

3. Wenn der Staat zum Influencer wird
(motherboard.vice.com, Anna Biselli & Sebastian Meineck)
Deutsche Behörden und Ministerien haben in den vergangenen Jahren einiges Geld für Social-Media-Werbung und Influencer-Kampagnen ausgegeben. Anna Biselli und Sebastian Meineck haben sich näher angeschaut, wohin die Gelder geflossen sind. Die zwei teuersten Influencer-Kampagnen waren eine des Entwicklungsministeriums (84.600 Euro) sowie die Nachwuchswerbung der Bundespolizei (71.400 Euro). Interessanter Nebenaspekt: Nach derzeitiger Rechtslage sei unklar, ob staatliche Influencer-Kampagnen auf den Kanälen der Influencer überhaupt zulässig seien.

4. Welche Studie darf’s denn heute sein?
(meta-magazin.org, Markus Lehmkuhl)
Markus Lehmkuhl, Professor für Wissenschaftskommunikation in digitalen Medien, hat sich mit der Auswahl von Studienergebnissen durch Wissenschaftsjournalisten beschäftigt. Seine Ergebnisse sind überraschend und nicht überraschend zugleich.

5. Wird der „Strassenfeger“ von der Straße gefegt?
(bz-berlin.de, Björn Trautwein)
Seit 24 Jahren gibt es in Berlin die Obdachlosenzeitung “Strassenfeger”, doch damit ist nun Schluss: Der “Straßenfeger” soll eingestellt werden. Das Entsetzen bei Berlins Obdachlosen sei groß: “Einige Verkäufer hatten Tränen in den Augen, als sie vom drohenden Aus erfahren haben. Für viele ist es die einzige Einnahmequelle.”

6. 40 Jahre Cat Content
(spiegel.de, Danny Kringiel)
Der Zeitungskater Garfield wird 40. Das orangefarbene Katzentier mit der Vorliebe für Lasagne, Kaffee und Zynismus wurde zunächst in 41 amerikanischen Zeitungen abgedruckt, heutzutage sind es 2400 Zeitungen mit 200 Millionen Lesern in 80 Ländern. Das Erfolgsrezept: „Garfield wurde zum Welterfolg, weil er so mittelmäßig war.“

7. “Verwechseln Kritik mit Zensur”: Trump-Tweet sorgt für Twitter-Zoff zwischen Reichelt, Reschke und Bildblog
(meedia.de, Nils Jacobsen)
Außerhalb der üblichen „6 vor 9“, weil es uns BILDblogger direkt betrifft: Angeblich haben wir mit unserem „totalitären Geist“ (und einem Tweet) Julian Reichelts „Faszination für Twitter zerstört“. Darüber beschwert sich jedenfalls der „Bild“-Chef auf Twitter: „Ob @AnjaReschke1 oder @BILDblog –Twitter befindet sich zunehmend in Händen jener, die bestimmen wollen, was zitiert, berichtet werden darf und was unterdrückt werden sollte, weil es gesellschaftlich schädlich ist.“ Wir haben Julian Reichelt erklärt, dass er Kritik mit Zensur verwechselt und hoffen, dass er schon bald wieder zu seiner Faszination für Twitter zurückfindet.

“Einige wenige”

Wie hätte die “Bild”-Schlagzeile wohl ausgesehen, wenn Fußballnationalspieler Julian Brandt gestern nach der Niederlage gegen Mexiko stur in die Kabine marschiert wäre, ohne sich für seine jungen, weit angereisten Fans auf der Tribüne zu interessieren, die mit ihm ein Foto machen wollten?

Vielleicht so?

Arrogant-Brandt
Erst keine Leistung, dann kein Selfie

Nun hat Julian Brandt nach dem Abpfiff aber ein Foto mit einem Jungen gemacht, der ihn darum gebeten hatte: kurz das Handy genommen, in die Kamera gelächelt, fertig. Und schon empörten sie sich bei Bild.de:

Screenshot Bild.de - Brandt lacht in Fan-Kamera - Peinlich-Selfie direkt nach Mexiko-Pleite

Die Redaktion hielt das Ganze sogar für so bemerkenswert, dass sie eine Push-Nachricht zum Brandt-Selfie verschickte:

Screenshot Bild-Pushnachricht - Brandt lacht in Fan-Kamera - Peinlich-Selfie direkt nach Mexiko-Pleite

In der “Bild”-Zeitung ist die Sache heute ebenfalls ein großes Thema. Im Sportteil wird Brandt wie ein in fla­g­ran­ti erwischter Täter rot eingekringelt:

Ausriss Bild-Zeitung - Hummels stinksauer, Brandt macht Selfies

Einer macht sich offenbar weniger Sorgen. WM-Debütant Julian Brandt (22) sieht man nach dem Schulusspfiff im TV, wie er Selfies mit Fans macht. Und dabei lächelt …

… steht im Artikel. Und in der Bild-Unterschrift:

Nicht so clever nach einer Pleite: Julian Brandt macht ein Selfie mit einem deutschen Fan

Auf der “Bild”-Titelseite fragt Matthias Brügelmann, Leiter des “Bild”-“Sport-Kompetenzcenters” (ja, heißt wirklich so):

Was hat sich Brandt dabei gedacht, direkt nach dem Spiel grinsend Selfies zu machen?

Und im “Bild”-WM-Newsletter schreibt er:

Für mich wirkt das Grinsen in die Kamera einfach deplatziert nach einer historischen Blamage. Nicht mehr und nicht weniger.

Die Empörung der “Bild”-Medien zum Verhalten von Julian Brandt übertrug sich gestern Abend allerdings nicht so recht auf die “Bild”-Leserschaft. Eher wunderten sich viele über die scharfen Worte von Bild.de über einen Fußballprofi, der freundlich zu seinen Fans ist.

Heute fragt die Redaktion:

Screenshot Bild.de - Gute Aktion oder unnötig - Was denke Sie über das Brandt-Selfie

Julian Brandt (22) macht nach der historischen WM-Auftaktpleite gegen Mexiko (0:1) auf dem Weg in die Kabine ein Selfie mit einem Fan.

Viele Fans verstehen nicht, warum man sich darüber aufregen kann. Einige wenige üben Kritik daran, dass der Leverkusen-Profi nicht direkt in die Kabine verschwunden ist und mit seinem Lachen in die Fan-Kamera den Eindruck vermittelt, dass die Niederlage gar nicht so schlimm gewesen sei.

“Einige wenige” — um nicht zu sagen: Bild.de.

Die Meinung der Bild.de-Leserschaft ist übrigens ziemlich eindeutig:

Screenshot Bild.de - Umfrage: Selfie mit Fan. Fanden Sie Julian Brandts Aktion in Ordnung? Ergebnis: 91 Prozent ja, sechs Prozent nein, drei Prozent unentschlossen

Mit Dank an @MGSVW und @finnpetersensh für die Hinweise!

RTLs Pädophilie-Jagd auf Unschuldige, Bockige Satireopfer, Schul-Werbung

1. Lynchjustiz: Beide Männer sind unschuldig
(tagesspiegel.de, Eckhard Stengel)
Der Fernsehsender RTL hat mit seiner Lockvogel-Aktion zur Überführung von Pädophilen einiges angerichtet: Nicht nur der von selbsternannten Rächern in Bremen überfallene angebliche Täter sei völlig unschuldig, sondern offenbar auch derjenige Mann, der im RTL-Magazin “Punkt 12” unter Pädophilie-Verdacht gestellt wurde. Nun gibt es ein Vorermittlungsverfahren, aber nicht gegen irgendwelche angeblichen Pädophilie-Verdächtigen, sondern gegen die Verantwortlichen bei RTL.

2. Der “Grubenhund” der Titanic: Satire darf alles
(blog.ard-hauptstadtstudio.de, Marko Milovanovic)
Auf relativ unaufwendige Weise streute der “Titanic”-Mitarbeiter Moritz Hürtgen die Falschmeldung von der angeblichen Trennung von CSU und CDU. Nachdem sich das Ganze als Fake herausstellte, setzte bei einigen schludrig arbeitenden Medien nicht etwa Scham und Selbstkritik ein. Im Gegenteil: Es hagelte Kritik und Empörung wegen einer “Manipulation”, die weder “witzig” noch “Satire” sei. Marko Milovanovic erklärt, warum die Aktion durchaus Satire war, was die Medien daraus lernen sollten und empfiehlt den Betroffenen zu guter Letzt etwas mehr Humor.

3. „Ich kam mir wie ein Beichtvater vor“
(taz.de, Jan Pfaff & Ulrich Schulte)
Der Politikjournalist Günter Bannas war vierzig Jahre Parlamentskorrespondent der “FAZ”. Die “taz” hat sich mit der Koryphäe des politischen Journalismus über Freundschaft, Machtkämpfe und Auslandsreisen mit Kanzlern unterhalten.

4. „Denn sie wissen nicht, was sie tun“
(peter-hausmann.net)
Der Journalist Peter Hausmann war einige Jahre Sprecher der Bundesregierung und Chef des Bundespresseamtes sowie von 2008 bis 2014 Chefredakteur des “Bayernkurier” der CSU. Nach seinem Ausscheiden hat er sich nach eigener Aussage nicht mehr öffentlich zur CSU und ihrem Führungspersonal geäußert. Dieses sich selbst auferlegte Schweigegelübde hat Hausmann nun wegen der aktuellen Umstände gebrochen.

5. Dauerwerbesendung
(sueddeutsche.de, Christiane Schlötzer)
In der Türkei finden nächsten Sonntag die Präsidentschaftswahlen statt. Dementsprechend hochtourig und unausgeglichen läuft die Wahlpropaganda: Die regierende AKP und die nationalistische Partnerpartei MHP hatten in den ersten drei Wahlkampfwochen 37 Stunden Sendezeit, die gesamte Opposition gerade mal 3 Stunden. Christiane Schlötzer berichtet über eine Zeit in der Türkei, in der die Medien nur noch ein Thema und einen Kandidaten kennen.

6. Ist DIE ZEIT reif für Werbung an den Schulen?
(gutjahr.biz)
Werbung an Schulen ist in Deutschland verboten. Eigentlich. Doch uneigentlich mogeln sich Medien und Unternehmen trickreich in die Bildungsanstalten, wie Richard Gutjahr feststellte, als man ihn um eine Abdruckgenehmigung eines Artikels bat.

Fünf Jahre “Bild plus”: Geld machen mit getöteten Menschen

Auf der “Bild”-Titelseite gab es am Dienstag Torte:

Ausriss Bild-Zeitung - Bild-Plus feiert Geburtstag und 400.000 Abos - Die besten Geschichten, die besten Videos, der beste Service: Vor fünf Jahren, im Juni 2013, startete Bild das digitale Premium-Angebot Bild-Plus. Jetzt wurde pünktlich zum Geburtstag die Marke von 400.000 Abonnenten geknackt. Bild-Plus ist damit das erfolgreichste digitale Bezahlangebot für News, Sport und Unterhaltung in ganz Europa.

Nun gibt es beim “digitalen Premium-Angebot BILDplus” aber nicht nur “die besten Geschichten, die besten Videos, den besten Service”. “Bild plus” steht auch für ekliges Geldmachen.

Ein paar Beispiele aus den vergangenen Jahren …

Nach dem Tod einer 19-Jährigen im Januar 2015 schlagzeilte Bild.de:

Screenshot Bild.de - Familiendrama in Darmstadt - L. musste sterben, weil sie ihren Freund liebte

Den eher seltenen Namen haben wir unkenntlich gemacht. Das Gesicht die Bild.de-Redaktion — allerdings nicht aufgrund einer ethischen Überzeugung oder aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen. Bild.de versuchte lediglich, mit dem Foto einer Verstorbenen Kohle zu verdienen. Denn hinter der Paywall konnten alle Leserinnen und Leser, die ein Abo hatten, die Frau ohne Unkenntlichmachung sehen. “Bild plus” ist auch das Versprechen: Wer zahlt, kann Opfer in aller Ausführlichkeit anglotzen.

Und nur nebenbei: Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Bild.de die Erlaubnis der Eltern hatte, das Foto der 19-Jährigen zu zeigen. Oder dass die Redaktion sie überhaupt gefragt hatte — denn beide Elternteile saßen zur Zeit der Veröffentlichung schon länger in Untersuchungshaft.

Eine andere “Bild plus”-Geschichte: Als eine Frau im Oktober 2016 schon mehrere Tage verschwunden war, und bereits eine Mordkommission ermittelte, schrieb Bild.de auf der Startseite:

Screenshot Bild.de - Ihr Verschwinden wirft weiter Fragen auf - Doros letzte SMS

Das Gesicht der Frau haben wir verpixelt, das unscharfe Handydisplay kommt von Bild.de. Die Redaktion wollte nämlich mit “Doros letzter SMS” Geld verdienen: Nur wer zahlt, darf alles sehen — in diesem Fall war es die letzte Kurznachricht einer möglicherweise verstorbenen Person (Bild.de: “Wurde sie getötet und verscharrt?”), mit der das “Bild”-Team versuchte, Abos zu verkaufen.

Ein weiteres Beispiel: Im März dieses Jahres berichtete Bild.de über einen schrecklichen Fall, bei dem eine 17-Jährige lebensgefährlich mit einem Messer verletzt wurde:

Screenshot Bild.de - Screenshot Bild.de - Scharia-Gericht im Kinderzimmer - Bruder rammt seiner Schwester Messer in die Brust - Schwer verletzt - Familie dreht Video von der Tat - Mit Video

Der Hinweis “MIT VIDEO” war tatsächlich so gemeint, wie man direkt befürchtet. Bild.de zeigte die Aufnahmen, die die Familie gemacht hatte. Für Leserinnen und Leser ohne “Bild plus”-Abo erschien folgender Teaser:

Mit BILDplus lesen Sie das grausame Protokoll einer Familie ohne Gnade, verhaftet in einem vorsintflutlichen Weltbild. Außerdem dazu, das Video der schrecklichen Tat — von der Familie gefilmt.

Unter welches Qualitätsmerkmal des “Premium-Angebots” “Bild plus” fällt das wohl? “Die besten Geschichten”? “Die besten Videos”? “Der beste Service”? Auf jeden Fall ist das billigster, menschenverachtender Sensationsjournalismus.

Die Bild.de-Mitarbeiter haben das Video übrigens gelöscht, nachdem sich die zuständige Staatsanwaltschaft bei ihnen gemeldet hatte.

Und noch ein Beispiel: Nach dem Terroranschlag in Manchester im Mai 2017, bei dem 22 Menschen getötet wurden, ein Großteil von ihnen Kinder und Jugendliche, brachte Bild.de einen Artikel über die 18-jährige Georgina. Titel: “Ausgelöscht!”. Der Beitrag bestand fast ausschließlich aus Postings des Mädchens in verschiedenen sozialen Netzwerken. Um ihn lesen zu können, brauchte man ein “Bild plus”-Abo.

Auch das ist “Bild plus”: Geld verdienen mit dem Tod junger Menschen.

Manchmal ist auch einfach die Paywall an sich problematisch, weil die Bild.de-Redaktion ganz entscheidende Informationen erst dahinter verrät.

Im März vergangenes Jahres beispielsweise wollte Bild.de wohl sowas wie Aufklärung betreiben und stellte dafür “Fragen, die sich keiner zu stellen traut”:

Screenshot Bild.de - Tag des Down-Syndroms - Bild fragt Fragen, die sich keiner zu stellen traut - Darf man Mongo zu Ihnen sagen

Die Antwort schon mal jetzt: Nein, darf man nicht. Das ist eine üble Beleidigung.

Das erfuhren auch die Bild.de-Leserinnen und -Leser — blöderweise aber nur jene paarhunderttausend mit “Bild plus”-Abo. Für die anderen Millionen Besucher der Seite hatte die Redaktion an prominenter Stelle ein Schimpfwort reproduziert, ohne die Auflösung zu liefern, dass dessen Verwendung überhaupt nicht in Ordnung ist.

Ein ähnliches Problem bei diesem Bild.de-Artikel aus dem Januar 2018:

Screenshot Bild.de - Nach 1300 Unterrichtsstunden - 4 von 5 Flüchtlingen bestehen Deutschtest nicht

Nur für “Bild plus”-Kunden gab es die Info, dass gar nicht “4 von 5 Flüchtlingen” bei ihrem Deutsch-Test durchfallen, sondern dass vier von fünf Flüchtlingen, die als Analphabeten in einen Sprachkurs kamen, nicht das Sprachniveau B1 erreichen. Das war gleich ein doppelter Unterschied: Es ging weder um alle Flüchtlinge noch um die Frage “bestehen oder nicht bestehen?”, sondern darum, ein gewisses Niveau beim Bestehen zu erreichen. Alle, die kein “Bild plus”-Abo hatten und nur die Überschrift sehen konnten, wurden von Bild.de falsch informiert.

Oder von gestern:

Screenshot Bild.de - Asyl-Streit mit Seehofer - Merkel ganz allein! Nur drei Unions-Abgeordnete stellen sich hinter die Kanzlerin

Nur mit einem “Bild plus”-Abo kann man herausfinden, dass an der “Bild”-Umfrage zum Thema “Zurückweisung von Flüchtlingen”, auf der der Artikel fußt, längst nicht alle 246 Unions-Abgeordneten im Bundestag teilgenommen haben, sondern nur 69 von ihnen. “Merkel ganz allein” also nur im Sinne von “Merkel ganz allein in Bezug auf 69 von 246 Unions-Abgeordneten”. Für Bild.de-Besucher ohne “Bild plus”-Abo wird das nicht klar.

Das waren jetzt nur ein paar Beispiele aus der Geschichte von “Bild plus”. Es gibt noch viele mehr. Es kommen ständig neue dazu. Und das seit fünf Jahren. Glückwunsch!

Terrorgefahr Nummer 1: das Auto, Lynchjustiz, Sprachlicher Schrott

1. Der Berliner Straßenverkehr ist Barbarei!
(tagesspiegel.de, Stefan Jacobs)
Es soll und darf keine Aufrechnung von Toten geben, doch der Vergleich drängt sich auf: Auf der einen Seite wird ein Mordfall wie der an Susanna F. medial und politisch ausgeschlachtet und dient als Treibstoff für Hass und Hetze. Auf der anderen Seite kommen im Berliner Straßenverkehr binnen 24 Stunden zwei Kinder ums Leben und verschwinden in wenig aussagekräftigen Polizeistatistiken. Und alles geht weiter, als wäre nichts geschehen. Tote und Verletzte im Straßenverkehr sind anscheinend etwas, bei dem viele abgestumpft zur Seite schauen, weil es ihnen “normal” erscheint. Stefan Jacobs hat einen erschütternden und bewegenden Kommentar verfasst, der auch wegen der darin enthaltenen Wut und Bitterkeit ein Weckruf sein könnte. Für die zuständigen Stellen, Institutionen und Politiker, für uns alle: „Künftige Generationen werden sich wundern, wenn sie aus den Geschichtsbüchern von dieser Barbarei erfahren, die wir uns so lange schon antun.“ Man möchte diesen Beitrag vervielfältigen und per Helikopter über der Stadt abwerfen.

2. Angebliche Lynchjustiz nach TV-Reportage: RTL und die Unschuldigen
(uebermedien.de, Boris Rosenkranz)
Hat RTL einem Unschuldigen unterstellt, ein Pädosexueller zu sein, und indirekt dazu beigetragen, dass ein anderer Unschuldiger zusammengeschlagen wurde? Einiges deutet darauf hin, wie Boris Rosenkranz auf „Übermedien“ ausführt.
Weiterer Lesetipp: Wie BuzzFeed News Deutschland zu sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch recherchiert (buzzfeed.com, Pascale Mueller & Daniel Drepper)

3. So ein Quatschgesetz
(spiegel.de, Sascha Lobo)
Sascha Lobo hat sich in seiner Kolumne das Leistungsschutzrecht für Presseverleger vorgenommen: „Das Leistungsschutzrecht ist ein realitätsfernes Quatschgesetz. Es soll bewirken, dass die Anzeige von Suchergebnissen von Verlagen kostenpflichtig wird. Hört sich nach einem Anti-Google-Gesetz an, ist aber viel größer, denn dadurch könnten Links im Netz kostenpflichtig werden. Kritiker nennen das LSR deshalb “Linktax”, also Linksteuer, zu entrichten allerdings an private Verlage.“ Ein lesenswerter Artikel, der vom Informationsgehalt weit über das übliche Kolumnenformat hinausgeht.

4. Ali Bashar oder Ali B.? Warum wir den Täter mit Namen nennen – Anmerkungen in eigener Sache
(allgemeine-zeitung.de, Christian Matz)
Bei der Berichterstattung zum Mordfall Susanna F. galt es wieder einmal, zwischen Persönlichkeitsrecht und öffentlichem Interesse abzuwägen. Die VRM Mediengruppe hat in allen ihren Printausgaben und Newsportalen einen Text veröffentlicht, der diesen Abwägungsprozess erläutert.

5. Der eigentliche BAMF-Skandal – erst der Rufmord, dann die Recherche?
(community.beck.de, Henning Ernst Müller)
Der Strafrechtler Prof. Dr. Henning Ernst Müller geht mit den Medien ins Gericht, die über den angeblichen Bremer BAMF-Skandal berichteten. Sein Schlussurteil: „Die Rechercheure von SZ, NDR und Radio Bremen haben etwas getan, was sie auf keinen Fall tun durften: Sie haben  Menschen mit Vorwürfen maximal geschadet, um eine Geschichte zu bringen, die schlecht recherchiert und unausgegoren war und damit den Rufmord vor die Recherche gestellt. Und als sich fast zwei Monate später herausstellt, dass sie daneben lagen, haben sie sich weder entschuldigt noch ihre ursprünglichen Berichte transparent berichtigt, sondern einfach geschrieben: „Zunächst hatte es geheißen“.“

6. “Das ist sprachlicher Schrott”
(sueddeutsche.de, Thomas Hummel)
Der Schriftsteller Jürgen Roth beschäftigt sich seit Jahren mit der Sprache rund um den Fußball. Den Fußballreportern empfiehlt er mehr Mut zum Schweigen: „In der Auslassung kann ein Gewinn liegen. Weil man damit zeigt, dass das Ereignis größer ist als die Worte, mit denen man es beschreiben möchte. Der Sport ist immer größer als das, was über ihn erzählt wird. Deshalb gibt es auch keine vernünftigen Fußballfilme. Weil das Spiel größer ist als jede künstlerische Bearbeitung.“
Weiterer Lesetipp: Statistiken sagen wenig über Sieg und Niederlage (deutschlandfunk.de, Matthias Jungblut)

Fotos von “G20-Plünderin”: Bild.de muss 50.000 Euro zahlen

DIESE Fotos von den G20-Ausschreitungen in Hamburg darf BILD so nicht mehr zeigen — wenn es nach dem Landgericht Frankfurt/Main geht. (…)

BILD zeigt die Fotos dennoch, ohne die Personen zu verfremden — weil die Abbildung von Straftaten, gerade im Zusammenhang mit schweren Krawallen, Plünderungen und Landfriedensbruch bei einem so wichtigen Ereignis wie dem G20-Gipfel, zum Auftrag der Presse gehört.

Das schrieben die “Bild”-Medien am 11. (Bild.de) beziehungsweise 12. Januar (“Bild”-Zeitung) dieses Jahres. Es ging um Fotos einer Frau, die während der Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel im Hamburger Schanzenviertel geklaut haben soll. Bei “Bild” und Bild.de wurde sie als “G20-Plünderin” bezeichnet. Auf den Fotos ist sie zu erkennen und fällt auf, allein schon weil sie von lauter dunkelgekleideten Menschen umgeben ist und selbst ein pinkfarbenes T-Shirt trägt.

Das Landgericht Frankfurt am Main erließ also eine einstweiligen Verfügung, die “Bild”-Medien durften die Aufnahmen nicht mehr zeigen — und taten es im Januar trotzdem, extra-bockig, interessiert “Bild” doch nicht, was so ein blödes Gericht will.

Jetzt hat dasselbe Landgericht entschieden, dass Bild.de für den erneuten Abdruck ein Ordnungsgeld in Höhe von 50.000 Euro zahlen muss.* Auf Nachfrage sagte uns Severin Müller-Riemenschneider, der Anwalt der Frau, dass es noch ein weiteres Verfahren gebe, gegen die “Bild”-Zeitung, die die Fotos ja ebenfalls erneut gezeigt hat.

Das Urteil gegen Bild.de ist noch nicht rechtskräftig. Der Springer-Verlag kann noch dagegen vorgehen.

Das Frankfurter Landgericht stellte übrigens schon im Verfahren, das zur einstweiligen Verfügung führte, fest, dass die Frau offensichtlich keinen Landfriedensbruch begangen habe. Eher, so steht es im Urteil, habe sie “geringwertige Sachen” gestohlen, die bereits vor einer zerstörten Drogerie lagen. Dennoch hätten die “Bild”-Medien die Frau “sichtlich an den (Fahndungs)Pranger” gestellt, so die Richter.

Mit Dank an @SeWaTUC und @gerdgerdgerdger für die Hinweise!

*Korrektur: Fehler unsererseits: Wir hatten zuerst geschrieben, dass Bild.de die 50.000 Euro an die Frau zahlen müsste, wenn das Urteil rechtskräftig werden sollte. Das stimmt aber nicht. Ordnungsgelder gehen an die Staatskasse.

“Bild” lässt Angela Merkel allein dastehen

In der heutigen “Bild”-Ausgabe kann man wunderbar sehen, wie die Redaktion Informationen weglässt, verbiegt und zuspitzt, um an eine knallige Titelzeile und eine verkaufsträchtige Geschichte zu kommen. Und zwar an diese hier:

Ausriss Bild-Zeitung - Asyl-Streit mit Seehofer - Merkel ganz allein! Nur drei Unions-Abgeordnete stellen sich hinter die Kanzlerin

BILD fragte alle Unions-Abgeordneten des Bundestags, ob sie FÜR oder GEGEN eine Zurückweisung von [in anderen EU-Ländern] bereits registrierten Flüchtlingen [an den deutschen Grenzen] sind. Alarmierend für die Kanzlerin: Von den 246 Bundestagsabgeordneten der Unionsfraktion stellten sich lediglich Sybille Benning, Antje Tillmann und Kees de Vries (alle CDU) hinter die Haltung der Kanzlerin!

Das wäre ohne Frage ein ziemlicher Knaller und ein deutlicher Rückschlag für Angela Merkel — wenn es denn so einfach und eindeutig wäre.

Erstmal: Es ist schon bemerkenswert, wie “Bild” eine inhaltlichen Frage (für/gegen Zurückweisung) stellt und sie im Nachhinein zu einer Personalfrage (für/gegen Merkel) umdefiniert. Vor allem aber hat die Redaktion auf ihrer Titelseite eine wichtige Information weggelassen: Längst nicht alle der 246 Abgeordneten von CDU und CSU haben auf die “Bild”-Anfrage reagiert. Gerade mal 69 von ihnen schickten eine Antwort. Nur weil jemand auf die Frage “A oder B” nicht mit “B” antwortet, sondern gar nichts sagt, heißt das nicht, dass er oder sie nicht hinter der Person steht, die Variante “B” vorgeschlagen hat. Es kann sein, dass er oder sie nicht hinter dieser Person steht. Aber so eindeutig, wie “Bild” es suggeriert, ist es keineswegs.

Korrekt müsste die Titelzeile also lauten:

Merkel fast ganz allein unter denen, die uns geantwortet haben! Nur drei von 69 Unions-Abgeordneten, die auf unsere Anfrage reagiert haben, stellen sich hinter die Kanzlerin

Im Blatt erwähnt “Bild” den mauen Rücklauf zur eigenen Aktion immerhin:

Ausriss Bild-Zeitung - Übersicht der Doppelseite mit dem Artikel zur Bild-Anfrage

Na, nicht direkt gefunden? Hier hat die Redaktion den Hinweis versteckt:

Ausriss Bild-Zeitung - Übersicht der Doppelseite mit dem Artikel zur Bild-Anfrage, dieses Mal mit Hervorhebung des Hinweises

Obwohl BILD gestern bei allen Abgeordneten-Büros telefonisch oder schriftlich nachfragte, wollten oder konnten bis 19.45 Uhr nur 69 Abgeordnete offen sagen, welche Haltung sie unterstützen.

Während man bei “Bild” umblättern und mit etwas Suchen herausfinden kann, dass die Titelzeile nicht automatisch bedeutet, dass 243 Unions-Abgeordnete gegen die Position der Kanzlerin sind (wobei die Print-Redaktion natürlich genau weiß, was für eine mächtige Wirkung eine derartige Schlagzeile hat — Auflösung hin oder her), ist es bei Bild.de noch schwieriger, sich ordentlich zu informieren. Denn die Auflösung steckt dort hinter der Paywall:

Screenshot Bild.de - Asyl-Streit mit Seehofer - Merkel ganz allein! Nur drei Unions-Abgeordnete stellen sich hinter die Kanzlerin

Die vielen Bild.de-Leserinnen und -Leser ohne “Bild plus”-Abo erfahren also nicht, dass nur ein Teil der Unions-Abgeordneten sich überhaupt geäußert hat.

Wie verzerrend es ist, aus drei von 69 “nur drei Unions-Abgeordnete” zu machen, wird klar, wenn man sich die jeweiligen Antworten der einzelnen Abgeordneten anschaut, die die “Bild”-Medien mitliefern. Aus dem Büro von Angela Merkel etwa gab es keine Antwort:

Ausriss aus der Bild-Zeitung, der zeigt, dass das Büro von Angela Merkel nicht geantwortet hat

Nach “Bild”-Logik würde das bedeuten, dass nicht mal Angela Merkel hinter Angela Merkel steht.

Mit Dank an Jochen Z., Marvin und @Facesworld für die Hinweise!

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