Archiv für September 6th, 2023

Die, die wenig haben, gegen die, die noch weniger haben

Bei ihrer aktuellen Kampagne gegen das Bürgergeld greift die “Bild”-Redaktion auch auf eine von ihr selbst in Auftrag gegebene Umfrage zurück:

Screenshot Bild.de - Bürgergeld-Umfrage - Mehrheit der Deutschen sagt - Arbeit lohnt sich nicht mehr

“Bild”-Redakteur Florian Kain schreibt:

Mega-Erhöhung beim Bürgergeld: Ab 2024 steigt die Stütze für Alleinstehende um 61 Euro – pro Monat!

Lohnt sich arbeiten angesichts solch üppiger Alimentierungen überhaupt noch?

Die Mehrheit der Deutschen sagt: NEIN!

Das ergibt eine neue repräsentative INSA-Umfrage für BILD. Demnach sind inzwischen 52 Prozent der Bürger NICHT der Auffassung, dass sich Arbeit in Deutschland lohnt. Eine Minderheit von 40 Prozent hat einen anderen Eindruck. Acht Prozent können oder wollen hier keine Antwort geben.

Erstmal: Das Bürgergeld soll zur “Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums” beitragen. “Bild” nennt das: “üppige Alimentierungen”.

Interessant ist, wie “Bild”-Autor Kain die INSA-Umfrage in den passenden Zusammenhang zu setzen scheint. Er schreibt, dass die “Mehrheit der Deutschen” zu der Frage “Lohnt sich arbeiten angesichts solch üppiger Alimentierungen überhaupt noch?”, also: mit Blick aufs Bürgergeld, “NEIN!” sage. Das scheint so aber gar nicht abgefragt worden zu sein. Laut “Bild” lautete die Frage allgemeiner:

Screenshot Bild.de - Haben Sie derzeit den Eindruck, dass sich Arbeit in Deutschland lohnt?

Das Gefühl, das hinter der Antwort auf diese Frage steckt, mag auch davon abhängen, wie viel Bürgergeld man bekommt, wenn man nicht arbeitet. Aber es hängt sicher auch von anderen Faktoren ab: der Höhe der Steuern und Sozialabgaben, den gestiegenen Energiekosten und Lebensmittelpreisen, den Mietkosten, allgemein von der derzeitigen Inflation, von persönlichen Lebensumständen und -einstellungen und so weiter.

Nach dem Warum scheint aber nicht gefragt worden zu sein. Dennoch schreibt die “Bild”-Zeitung heute auf der Titelseite groß von der “Bürgergeld-Umfrage”:

Ausriss Bild-Titelseite - Bürgergeld-Umfrage - Mehrheit der Deutschen sagt - Arbeit lohnt sch nicht mehr!

Ganz sicher gibt es Fälle, bei denen Leute hart arbeiten und am Ende nicht viel mehr Geld haben als Bürgergeld-Bezieher. Dass diesen Geringverdienern vor allem eine Erhöhung des Mindestlohns helfen würde und sie von einer Kürzung des Bürgergeldes überhaupt nichts hätten, liest man bei “Bild” kaum. Und natürlich ist die Aussage, dass sich Arbeit in Deutschland nicht lohne, viel zu allgemein. Für viele lohnt sich das Arbeiten im Vergleich zum Nicht-Arbeiten ganz klar, wenn sie denn ordentlich bezahlt werden. Auch diesen Aspekt findet man im “Bild”-Artikel nicht.

Stattdessen nennt Autor Florian Kain einen theoretischen Fall, bei dem es so scheint, als würde sich Arbeiten so gut wie gar nicht lohnen:

Fest steht: Viele Geringverdiener haben heute schon kaum mehr Geld im Portemonnaie als Bezieher von Bürgergeld. Wer z. B. als Alleinstehender zwölf Euro Mindestlohn pro Stunde kassiert, kommt monatlich auf rund 2000 Euro brutto.

► Nach Abzug von Steuern, Sozialbeiträgen, Abbuchung der Warmmiete (z. B. 600 Euro) bleiben dann nur noch rund 860 Euro pro Monat. Zum Vergleich: Ohne Job bekäme dieser Alleinstehende 502 Euro Bürgergeld. Dazu würde das Amt aber u. a. auch die 600 Euro Warmmiete übernehmen. Wären mindestens 1102 Euro vom Staat.

Das ist schon ausgesprochen perfide geschickt: Beim Geringverdiener zieht Kain die Warmmiete ab (und kommt so auf 860 Euro), beim Bürgergeld-Bezieher rechnet er sie hinzu (und kommt so auf 1.102 Euro). Er vergleicht die Zahlen nicht direkt, gibt sich aber auch keine besondere Mühe zu erklären, welche der von ihm durcheinandergeworfenen Werte denn nun vergleichbar sind.

Also: Nach Bezahlen der Warmmiete hat der Geringverdiener 860 Euro zur Verfügung, der Bürgergeld-Bezieher 502 Euro. Der Geringverdiener hat also 358 Euro oder, gemessen an den 502 Euro Bürgergeld, etwa 71 Prozent mehr zur Verfügung. Oder anders herum: Gemessen an den 860 Euro des Geringverdieners, hat der Bürgergeld-Bezieher rund 42 Prozent weniger zur Verfügung.

Das ist das, was bei “Bild” unter “kaum mehr Geld” läuft. 860 Euro ist zweifelsohne nicht viel Geld für einen Monat, erst recht nicht gemessen an der harten Arbeit, die meist dahintersteckt. Aber es ist eben doch ein spürbares Stück mehr als die 502 Euro Bürgergeld. Wir können uns nur wiederholen: Die “Bild”-Redaktion spielt einmal mehr die, die wenig haben, gegen die aus, die noch weniger haben.

Mit Dank an Adrian W.!

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“Katapult” vor Insolvenz, Tatort Aufnahmestudio, Höcke-Interview

1. “Katapult” ist insolvent und wirbt um Unterstützung bei seinen Leserinnen.
(turi2.de, Daniel Sallhof)
Wie der Branchendienst “turi2” unter Berufung auf eine Mitteilung des Unternehmens Katapult berichtet, stehe der Verlag kurz vor der Insolvenz. Herausgeber und Gründer Benjamin Fredrich habe den Start der geplanten Journalismusschule auf unbestimmte Zeit verschoben und rufe die Leserschaft auf, sich mit Rettungsideen einzubringen. Fredrich, der bereits des Öfteren in der Kritik stand und Ende Januar als Geschäftsführer und Chefredakteur zurückgetreten ist, verspreche eine “Insolvenz-Transparenz” und gebe an, dass dem Verlag derzeit 450.000 Euro fehlen (ein Betrag, den Fredrich auch über den Verkauf von Grashalmen, selbstgestalteten “Insolvenztassen” und “hässlich bemalten” Beuteln ausgleichen will).

2. Brauchte es wirklich das Höcke-Interview, damit Medien der Ableismus der AfD auffällt?
(uebermedien.de, Andrea Schöne)
Andrea Schöne kritisiert auf “Übermedien” die Medienreaktionen auf Björn Höckes ableistische Äußerungen über inklusive Bildung. Schöne argumentiert, dass die Medienlandschaft in Deutschland Menschen mit Behinderung und deren Perspektiven weitgehend ignoriere, was zu einer verzerrten Darstellung von Inklusion und Behindertenpolitik führe. Sie fordert eine umfassendere und differenziertere Berichterstattung über Behindertenpolitik und schlägt verschiedene Maßnahmen vor, um dies zu erreichen.

3. Tatort: Aufnahmestudio
(mediummagazin.de, Niklas Münch)
Im “medium magazin” diskutiert Niklas Münch das wachsende Genre der True-Crime-Podcasts und deren ethische Implikationen. Während diese Formate in Deutschland immer beliebter werden, kritisieren einige, dass sie die Grenze zwischen Qualitäts- und Boulevardjournalismus verwischen. Münch stellt die Frage, ob Medien Verbrechen als unterhaltsame, spannend erzählte Inhalte aufbereiten sollten, und beleuchtet verschiedene Perspektiven von Befürwortern und Kritikern zum Thema. In einem seien sich jedoch alle einig: “Niemand mag das Label ‘True Crime’.”

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4. Die besten Floskeln aller Zeiten
(infosperber.ch, Daniela Gschweng)
Daniela Gschweng blickt zurück auf das sprach- und medienkritische Projekt “Floskelwolke”, das vor Kurzem nach neun Jahren zu Ende gegangen ist. Die beiden Journalisten Udo Stiehl und Sebastian Pertsch hatten auf ihrer Website und auf Twitter auf Floskeln, Phrasen und Framing in der Nachrichtensprache aufmerksam gemacht und damit eine breite Leserschaft gefunden. Ein endgültiges Aus ist es aber nicht: Die “Floskel des Monats” wird es auch weiterhin in der Fachzeitschrift “journalist” geben.

5. “Veränderung ist jetzt eine Konstante”
(blog.medientage.de, Lisa Priller-Gebhardt)
Der Bewegtbildexperte Evan Shapiro spricht im Interview mit dem Blog der Medientage München über die Herausforderungen und Chancen für TV und Streaming in Deutschland. Er betont, dass traditionelle Medienunternehmen ihre Geschäftsmodelle überdenken und sich dem veränderten Verhalten der Nutzerinnen und Nutzer anpassen müssen, um gegenüber Tech-Giganten wie Google, Amazon und Netflix konkurrenzfähig zu bleiben. Shapiro sieht insbesondere im Gaming-Bereich Potenzial für Medienunternehmen und warnt davor, dass diejenigen, die sich nicht anpassen, langfristig verlieren werden.

6. Anja Rützel, was können wir vom Trash-TV über das Leben lernen?
(laeuft-programmschau.podigee.io, Alexander Matzkeit, Audio: 25:58 Minuten)
Anja Rützel ist nicht nur eine der profundesten Kennerinnen der deutschen Trash-TV-Szene, sondern auch eine geistreiche Kolumnistin mit viel Sprachwitz. Bei “Läuft”, der Programmschau von epd medien und Grimme-Institut, spricht Rützel darüber, was wir vom Trash-TV über das Leben lernen können, was sie an aktuellen Produktionen langweilt und warum sie sich ein Reality-TV-Format im bürgerlichen Milieu wünscht.