Archiv für September 18th, 2023

So viele Menschen könnten arbeiten und arbeiten auch schon

Kommen wir noch einmal zum Bürgergeld und der Frage, wie die “Bild”-Redaktion mit einseitiger und/oder unvollständiger und/oder verzerrter Berichterstattung versucht, Stimmung zu dem Thema zu machen.

Und zwar so:

Screenshot Bild.de - Neue Zahlen zum Bürgergeld - So viele Menschen könnten arbeiten, kriegen aber Stütze

Neue Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) belegen: Hunderttausende Menschen könnten in Deutschland arbeiten, bekommen aber Stütze vom Staat.

Im April 2023 zählte die BA rund 3,9 Millionen “erwerbsfähige Regelleistungsberechtigte”. Sprich: Menschen, die arbeiten könnten, aber Bürgergeld erhalten.

Mehrfach schreibt “Bild” im Artikel (und ja auch schon in der Überschrift), dass sogenannte erwerbsfähige Leistungsberechtigte arbeiten könnten, stattdessen aber Bürgergeld beziehen:

Der Anteil “erwerbsfähiger Leistungsberechtigter” – also Menschen, die arbeiten können, aber Bürgergeld erhalten – lag im April …

Nirgendwo im Text steht es explizit, aber es schwingt an vielen Stellen mit: Schaut euch nur diese Faulen an. Die könnten arbeiten, lassen sich aber lieber vom Staat aushalten.

Doch schon die statistische Grundannahme der “Bild”-Redaktion ist falsch.

Die Definition der Bundesagentur für Arbeit (BA) für erwerbsfähige Leistungsberechtigte lautet:

Als erwerbsfähige Leistungsberechtigte (ELB) gelten gem. § 7 SGB II Personen, die

• das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben,
• erwerbsfähig sind,
• hilfebedürftig sind und
• ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.

3.938.055 ELB gab es im April dieses Jahres, der aktuellste Monat, für den aufgeschlüsselte Daten von der BA vorliegen (Excel-Datei). Während die “Bild”-Redaktion ihrer Leserschaft einhämmert, dass sie alle arbeiten könnten, ist es tatsächlich anders – ein beachtlicher Teil von ihnen arbeitet bereits: 779.801 Personen führt die BA als erwerbstätige erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Das sind 19,8 Prozent aller ELB. Manche von ihnen sind Selbstständige, die meisten aber sind abhängig erwerbstätig: Manche in Vollzeit, mehr in Teilzeit oder ausschließlich geringfügig beschäftigt, auch Auszubildende sind dabei. Sie alle arbeiten – und beziehen Bürgergeld als ELB. Häufig werden sie als “Aufstocker” bezeichnet.

Von ihnen ist im “Bild”-Artikel nichts zu lesen. Dort liest man nur platte Parolen wie: “Stütze statt Schuften”.

Und auch einen anderen Aspekt lässt die “Bild”-Redaktion völlig unerwähnt: Von den 3.938.055 ELB führt die Bundesagentur für Arbeit in ihrer Statistik nur 1.683.023 als arbeitslos (42,7 Prozent). Die anderen 2.255.032, also die Mehrheit (57,3 Prozent), sind “nicht arbeitslose ELB”. Und dafür gibt es ganz gute Gründe. Die BA schreibt in ihrem “Monatsbericht zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt” (PDF) für den Monat August (der auf die aufgeschlüsselten Daten vom April zurückgreift) über die “Gründe für die Nicht-Arbeitslosigkeit erwerbsfähiger Leistungsberechtigter”:

Es sind vor allem drei Gründe, derentwegen erwerbsfähige Leistungsberechtigte nicht arbeitslos sind. Für 701.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte war eine Arbeit derzeit nicht zumutbar, weil sie entweder kleine Kinder betreuten bzw. Angehörige pflegten oder noch zur Schule gingen bzw. studierten. 441.000 Personen waren nicht arbeitslos, weil sie einer ungeförderten Erwerbstätigkeit von mindestens 15 Wochenstunden nachgingen. 523.000 Personen haben an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme oder an einem Integrationskurs teilgenommen.

Über diese Gruppen hinaus zählten 253.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte nicht als arbeitslos, weil sie arbeitsunfähig erkrankt waren. Und schließlich galten für 139.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte Sonderregelungen für Ältere.

Auch von diesen Personen, die “Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende [erhalten], ohne arbeitslos zu sein”, wie die BA schreibt, liest man im “Bild”-Artikel nichts. Es handelt sich dabei natürlich auch um eine definitorische Frage, die die Zahlen für die Bundesagentur für Arbeit besser aussehen lassen kann. Aber dass “Bild” beispielsweise Schülerinnen und Schüler oder arbeitsunfähig Erkrankte als Menschen präsentiert, “die arbeiten könnten, aber Bürgergeld erhalten”, ist grotesk und eine stark verzerrte Wiedergabe der Statistik.

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Presserat rügt, Wagenknechts Medienhype-Partei, EU straft TikTok

1. Rügen wegen Vorverurteilung und Verstößen gegen den Opferschutz
(presserat.de)
Der Deutsche Presserat hat in seiner vergangenen Sitzung insgesamt 16 Rügen ausgesprochen. Einige der Rügen betrafen Vorverurteilungen, Verstöße gegen den Opferschutz und die journalistische Sorgfaltspflicht. So erhielt die Bild.de-Redaktion eine Rüge, weil sie einem Beschuldigten im Zusammenhang mit einem Kinderporno-Vorwurf nicht ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hatte. Gerügt wurden “Bild” und Bild.de auch für weitere Verstöße, wie die Darstellung der Vorwürfe gegen einen Rapper als Tatsache, die Veröffentlichung des Fotos eines Mordopfers sowie die erkennbare Abbildung ermordeter Kinder und deren Mutter.

2. “Natürlich habe ich Angst”
(taz.de, Johanna Treblin)
Devrim Akçadaǧ, deutscher Staatsbürger und Journalist kurdischer Herkunft, wurde während seines Urlaubs auf Sardinien von italienischen Behörden festgenommen, da die Türkei seine Auslieferung wegen einer angeblichen PKK-Mitgliedschaft fordert. Johanna Treblin hat Akçadaǧ gefragt, was genau ihm vorgeworfen wird, wie es zu seiner Festnahme und Inhaftierung kam, und was er von der Bundesregierung erwartet: “Die deutschen Behörden wissen, dass die Vorwürfe falsch sind und dass mich in der Türkei viele Jahre Gefängnis erwarten. In Italien entscheiden nicht nur Gerichte, sondern auch Behörden. Auf Gerichtsentscheidungen kann die Bundesregierung natürlich keinen Einfluss nehmen, aber bei den Behörden kann sie dies sehr wohl versuchen.”

3. Nun auch in “Zeit” und “Bild am Sonntag”: Wagenknechts Medienhype-Partei
(uebermedien.de, Johannes Hillje)
Seit Sommer 2022 gibt es Medienberichte über die mögliche Gründung einer neuen Partei durch Sahra Wagenknecht, obwohl die offizielle Gründung erst Anfang 2024 stattfinden könnte. Wagenknecht nutze die Medienaufmerksamkeit geschickt, indem sie Informationen nur häppchenweise preisgebe und so einen kontinuierlichen Medienhype erzeuge, findet der Politik- und Kommunikationsberater Johanns Hillje: “Sollte Wagenknecht ihre Partei tatsächlich bald gründen, wäre sie wohl auch die erste Medienhype-Partei unserer durchmedialisierten Demokratie.”

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4. Investigativer Journalismus
(mdr.de)
“Medien360G”, die “Medienkompetenzredaktion” des MDR, hat ein umfangreiches Dossier zum Thema “Investigativer Journalismus” veröffentlicht. Darin geht es unter anderem um die Frage, was eigentlich investigativer Journalismus ist, wie Medienschaffende aus dem Investigativbereich mit Drohungen, Angriffen und Klagen umgehen, und wie die Recherche-Redaktionen des MDR arbeiten.

5. Haushaltsmittel aufstocken
(djv.de, Hendrik Zörner)
Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) kritisiert die aus seiner Sicht zu geringe Erhöhung der Mittel für die Deutsche Welle: “Eine gerade mal einprozentige Erhöhung des Bundeszuschusses ist die versteckte Forderung der Politik an den Intendanten, Leute rauszuschmeißen oder ihre Reallöhne drastisch zu kürzen”, so der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall: “Das haben die Kolleginnen und Kollegen bei der Deutschen Welle nicht verdient.”

6. EU verhängt Strafe in Höhe von 345 Millionen Euro gegen TikTok
(zeit.de)
Die Europäische Union hat gegen TikTok eine Geldstrafe in Höhe von 345 Millionen Euro verhängt, weil die Plattform gegen die Datenschutz-Grundverordnung verstoßen habe, insbesondere im Umgang mit Daten von Minderjährigen. Zu den Verstößen gehörten unzureichende Altersüberprüfungen bei der Registrierung und Voreinstellungen, die Beiträge von Kindern und Jugendlichen öffentlich sichtbar und kommentierbar machten. TikTok zeige sich mit der Höhe der Strafe nicht einverstanden und betone, dass viele der beanstandeten Einstellungen bereits vor Beginn der Untersuchung geändert worden seien.