Archiv für Oktober 6th, 2016

Heute beginnt das Kandidatinnen-Vergessen

Wenn Ralf Schuler mal nicht Witze der Flensburger Linksfraktion als ernstgemeinte Vorschläge miss­in­ter­pre­tie­rt, Burger-Interviews führt oder den Untergang des Abendlandes an Weihnachten herbeisingt, schreibt er als Leiter des “Bild”-Parlamentsbüros über Politik. Zusammen mit “Bild”-Politik-Chef dem leitenden “Bild”-Politik-Redakteur Rolf Kleine hat er heute eine Prognose zur Nominierung der Kandidaten für die im kommenden Jahr anstehende Bundespräsidentenwahl geliefert:

Die zwei “Bild”-Polit-Profis haben sich schon mal festgelegt, wer nicht Kandidat werden wird: Außenminister Frank-Walter Steinmeier (den wolle Angela Merkel nicht) und Bundestagspräsident Norbert Lammert (der habe nicht genug Anhänger).

Aber wer dann? Schuler und Kleine haben da so ihre Infos:

Union und SPD gehen nach BILD-Informationen davon aus, dass Merkel in den nächsten Wochen einen dritten “unparteiischen” Kandidaten präsentieren wird, der für alle GroKo-Delegierten in der Bundesversammlung (setzt sich überwiegend aus Abgeordneten des Bundestages und der Landtage zusammen) wählbar ist. Denkbar wäre z. B. ein hochrangiger, anerkannter Wissenschaftler.

In der SPD heißt es zudem: Wenn Merkel “eine einigermaßen akzeptable Frau” als überhaupt erste Anwärterin fürs Schloss Bellevue präsentiere, könnten zumindest die GenossINNEN kaum Nein sagen.

Das wär’ was — die “überhaupt erste Anwärterin fürs Schloss Bellevue”. Also nach Beate Klarsfeld, die 2012 gegen den derzeitigen Bundespräsidenten Joachim Gauck angetreten ist.

Und nach Luc Jochimsen, die 2010 angetreten ist.

Und nach Gesine Schwan, die 2009 angetreten ist.

Und noch mal nach Gesine Schwan, die auch schon 2004 angetreten ist.

Und nach Dagmar Schipanski, die 1999 angetreten ist.

Und nach Uta Ranke-Heinemann, die ebenfalls 1999 angetreten ist.

Und nach Hildegard Hamm-Brücher, die 1994 angetreten ist.

Und nach Luise Rinser, die 1984 angetreten ist.

Und nach Annemarie Renger, die 1979 angetreten ist.

Marie-Elisabeth Lüders war zwar nie offiziell angetreten, bekam bei der Bundespräsidentenwahl 1954 allerdings eine Stimme.

Aber von denen mal abgesehen, haben Ralf Schuler und Rolf Kleine mit ihrer Aussage recht.

Mit Dank an C. F. und Tobias N. für die Hinweise!

Aus dem Gerichtssaal auf die Titelseite

Quizfrage: Was ist knapp 22 mal 29 Zentimeter groß, gibt es 800.000 Mal und erzählt ständig Quatsch?

Richtig: die “Neue Post”.

Auf seinem Titelblatt der vergangenen Woche will das Regenbogenheft die potentielle Kundschaft unter anderem mit einer dramatischen Geschichte über die niederländische Königin Máxima (“Nach der Schock-Diagnose weicht sie Willem nicht mehr von der Seite — Kann sie ihrem Mann das Leben retten?”) vom Kauf überzeugen, mit “überraschenden Details” über Helene Fischer (“Sie plant ihre Zukunft ohne Florian!”) und mit dieser Geschichte über Michael Schumacher:

Nun ist es wahrlich nichts Neues, dass Regenbogenblätter über den Gesundheitszustand von Michael Schumacher spekulieren. Im Gegenteil: Es gehört in der Branche zum guten Ton, selbst 33 Monate nach Schumachers Ski-Unfall regelmäßig Geschichten über ihn aufs Cover zu packen, auch wenn es gar nichts Neues zu berichten gibt. Das kann man jede Woche an so gut wie allen deutschen Kiosken begutachten. Doch dieser Artikel der “Neuen Post” ist besonders, besonders fies.

Im Heftinnern wird, wie schon auf der Titelseite, Schumachers Anwalt als Quelle für die Geschichte ins Spiel gebracht:

Schumachers Anwalt, Felix Damm, hat jetzt vor einem Gericht in Hamburg ausgeplaudert, wie schlimm es wirklich um den großen Sportler steht. Der Anwalt sagt: “Er kann nicht laufen! Auch nicht mithilfe von Therapeuten.”

Den Gerichtstermin in Hamburg gab es tatsächlich, und auch die Aussage von Felix Damm. Das weiß ich, weil ich selbst dabei war, als Zuschauer. Nur war die Situation etwas komplexer als von der “Neuen Post” dargestellt: Damm hatte nicht einfach irgendwas über den Gesundheitszustand seines Mandanten “ausgeplaudert”, er hatte eine Frage des Gerichts beantwortet. In dem Gerichtsverfahren, das noch immer läuft, geht es um einen “Bunte”-Artikel aus dem Dezember 2015. Das Burda-Blatt hatte von einem “Weihnachtswunder” berichtet und behauptet, Michael Schumacher könne mithilfe seiner Therapeuten wieder gehen. Schumachers Managerin Sabine Kehm, normalerweise sehr zurückhaltend mit öffentlichen Reaktionen auf Medienberichte, hatte die “Bunte”-Neuigkeit direkt in “Bild” dementiert:

“Leider werden wir durch einen aktuellen Pressebericht zu der Klarstellung gezwungen, dass die Behauptung, Michael könne wieder gehen, nicht den Tatsachen entspricht. Solche Spekulationen sind unverantwortlich, denn angesichts der Schwere seiner Verletzungen ist für Michael der Schutz seiner Privatsphäre sehr wichtig. Leider führen sie außerdem dazu, dass viele Menschen, die ehrlich Anteil nehmen, sich falsche Hoffnungen machen.”

Die Familie Schumacher ist dann auch juristisch gegen den “Bunte”-Artikel vorgegangen. Deswegen der Gerichtstermin vor zweieinhalb Wochen in Hamburg, auf den sich die “Neue Post” bezieht. Das Gericht fragte Schumachers Anwalt Felix Damm in der Verhandlung — so jedenfalls meine Erinnerung –, wie das Dementi von Sabine Kehm zu verstehen sei. Darauf antwortete Damm: “Was verstehen Sie daran nicht? Er kann nicht wieder gehen.” Dieses Wiederholen einer schon längst bekannten Aussage biegt die Redaktion der “Neuen Post” also zu einer Verkündung von “schlimmen Neuigkeiten”.

Der Fall ist deswegen bemerkenswert, weil er zeigt, wie das Vorgehen der Regenbogenpresse die rechtliche Verteidigung von Michael Schumacher und anderer Personen beeinflussen kann. Die Hefte machen aus jedem kleinsten Informationsfitzelchen, das sie zum früheren Formel-1-Fahrer bekommen können, eine riesige Geschichte. Eben auch aus Äußerungen seines Anwalts zur Rechtsverteidigung. Daraus resultiert, dass die Familie gegen manche falschen Bericht nicht in der Form vorgeht, wie sie es eigentlich tun könnte. Ein theoretisches Beispiel: Regenbogenheft X behauptet, Promi Y könne nach seinem schweren Unfall schon wieder Fußball spielen, was aber gar nicht wahr ist. Will Promi Y nun, dass Regenbogenheft X eine Richtigstellung druckt, in der es klarstellt, dass das mit dem Fußballspielen gar nicht stimmt, muss Promi Y beweisen, dass der Bericht falsch ist. Die Beweislast liegt bei ihm. Wenn sein Anwalt nun vor Gericht sagt, dass Promi Y allein aus gesundheitlichen Gründen gar nicht in der Lage ist, Fußball zu spielen, ist die nächste Titelgeschichte von Regenbogenheft X schon so gut wie geschrieben: “Sein Anwalt spricht! Promi Y — So schlecht geht es ihm wirklich!”

Und so ist es eben auch bei Michael Schumacher. Dadurch, dass es in den Berichten so gut wie immer um dessen Gesundheit geht, auch in den falschen, liefert der für eine Richtigstellung nötige Umkehrschluss automatisch auch immer Infos zu Schumachers Gesundheit mit, die dann für neue Artikel verwurstet werden können.

Für einen “Spiegel”-Artikel hatte ich Felix Damm vergangenes Jahr bei einigen Gerichtsverhandlungen begleitet. Bereits damals ist er für die Familie Schumacher gegen mehrere Hundert Veröffentlichungen vorgegangen. In nur einem einzigen Fall hat er eine Richtigstellung verlangt.

Neoliberal-Battle, Kopp-Kongress, Böhmermann-Verlautbarung

1. Oskars Rage
(taz.de, Georg Löwisch)
Oskar Lafontaine hat auf Facebook geschimpft, die “taz” gehöre zu einer „neoliberalen Kampfpresse“. Er hatte sich über einen “taz”-Artikel geärgert, in dem es um das Doppel-Interview der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” mit Sahra Wagenknecht und der AfD-Chefin Frauke Petry ging. Das kann und will Chefredakteur Georg Löwisch nicht auf sich sitzen lassen und antwortet in einem Kommentar: “Den taz-Artikel, den Lafontaine als Ergebnis neoliberaler Kampfpresse schmäht, hat ausgerechnet Ulrike Herrmann geschrieben: unsere wirtschaftspolitische Korrespondentin, die kundig wie keine andere im Land neoliberale Politik auseinandernimmt. Bizarr, ausgerechnet diese Korrespondentin greift er an. Es ist ein Detail, aber es gehört zur Tragik dieses Mannes, der einmal die Courage selbst war und dem nun nur noch die Rage geblieben ist.”

2. Nicolaus Fest zieht es zur AfD
(tagesspiegel.de, Fabian Leber)
Die Berliner AfD freut sich über einen prominenten Neuzugang. Dabei soll es sich um den Ex-Springer-Journalisten Nicolaus Fest handeln. Fest war ehemaliger stellvertretender Chefredakteur der “Bild am Sonntag” und Sohn des früheren FAZ-Herausgebers Joachim Fest. Ende 2014 hatte er auf eigenen Wunsch die “Bild am Sonntag” verlassen. Dem vorausgegangen war ein islamkritischer Beitrag von Fest, der viel Kritik und eine Rüge des Presserats auslöste. “BamS”-Chefredakteurin Marion Horn und “Bild”-Chefredakteur und “BamS”-Herausgeber Kai Diekmann hatten sich danach von dem Kommentar distanziert und auf mehreren Seiten eine Entschuldigung abgedruckt.

3. Wenn die Grossen bei den Kleinen klauen
(presseverein.ch, Janosch Tröhler)
Dem Online-Magazin “Negative White” ist zum wiederholten Male ein Foto gemopst und ohne Erlaubnis veröffentlicht worden. Übeltäter soll “20min.ch” gewesen sein, das größte Newsportal der Schweiz. Entsprechend sauer und frustriert fällt die Reaktion der beklauten Seite aus: “Wir könnten theoretisch mal eine dieser Abmahn-Agenturen für Nachforschungen anfragen. Doch – wie gesagt – arbeiten alle bei Negative White auf freiwilliger Basis. Wir verdienen etwas an Werbung und Partnerschaften, aber davon gibt’s knapp ein kühles Blondes, nachdem wir alle Rechnungen bezahlt haben. Und das ist es, was mich an der Sache so wütend macht. Die Leute bei Negative White arbeiten aus Leidenschaft, opfern ihre Freizeit und nehmen sogar Ferien, um der Leserschaft etwas bieten zu können. Eine unerlaubte Verwendung ihrer Arbeit ist nicht nur illegal, sondern man spuckt ihnen geradezu vor die Füße.”

4. Der kleine Mann beim Kongress des Kopp-Verlags
(ndr.de, Jakob Leube & Tobias Döll)
Am Wochenende fand in Stuttgart der Kopp-Kongress statt. Pressevertreter waren bei der Versammlung der Lügenpresse-Ankläger und Verschwörungstheoretiker nicht zugelassen. “Extra 3” hat dennoch einen Reporter entsandt, der zumindest einige der am Einlass wartenden Besucher befragen konnte, was faul im Staate ist. Ohne zu viel spoilern zu wollen: Genannt wurden die Rothschilds, die Illuminati, Obama und Marionetten…
Wer umfangreichere Kongressberichte lesen will: Moritz Tschermak war für “Übermedien” vor Ort, Anja Rützel für den “Spiegel” (Bezahllinks). Beiden sei von dieser Stelle aus gute Genesung gewünscht!

5. Can Dündar will Medienprojekt in Deutschland starten
(persoenlich.com)
Der im Exil lebende Ex-Chefredakteur der regierungskritischen türkischen Zeitung “Cumhuriyet”, Can Dündar, will in Berlin ein neues Medienprojekt starten. Er wird mit den Worten zitiert: “Ich möchte hier das tun, was wir in der Türkei mit gefesselten Händen und Füssen zu machen versucht haben.”

6. Böhmermann-Affäre: Persönliche Stellungnahme von Jan Böhmermann zur Sache.
(youtube.com, Jan Böhmermann, Video: 7:09 Min.)
Jan Böhmermann gibt eine persönliche Stellungnahme zur Einstellung des Schmähgedicht-Verfahrens ab. Böhmermann steht, wie er sagt, zu 100 Prozent zum ZDF und leitet dann zum Inhaltlichen über: “Im Vergleich zu dem, was kritische Journalisten, Satiriker oder Oppositionelle damals und auch jetzt gerade durchmachen, ist dieses ganze Theater um die “Böhmermann-Affäre” schon wieder ein guter, trauriger Witz für sich, der sich leider völlig außerhalb meiner professionellen Qualitätskontrolle befindet.”