Nachdem etwa gestern von Polizei und Staatsanwaltschaft bekanntgegeben worden war, dass wahrscheinlich ein falsches Lichtsignal für das Zugunglück von Bad Aibling verantwortlich war, brauchte „Bild“ natürlich ein Foto davon, um so was schreiben zu können wie “Mit diesem Signal löste der Fahrdienstleiter das Unglück aus”.
Vermutlich brauchten die zuständigen Rechercheure nicht lang, um auf diese Seite zu stoßen:
Dort sind (“Von Lokführern, für Lokführer & Interessierte”) verschiedene Lichtsignale abgebildet, wie hier mit dem Signalbild „Zs1“, das wohl auch in Bad Aibling eine Rolle gespielt hat.
Und tatsächlich: Ein Mitarbeiter von „Bild“ meldete sich beim Betreiber der Seite und erklärte, dass sie das Foto gerne verwenden würden.
Und so …
Sogar überall mit korrekter Quellenangabe:
Alles ganz vorbildlich.
Bis auf einen kleinen Haken: Der Fotograf hat der Veröffentlichung gar nicht zugestimmt. Er hat nie auf die “Bild”-Anfrage reagiert. Bei Facebook schreibt er:
Der Betreiber erklärte uns, er empfinde das (gerade durch die Namensnennung im Online-Artikel) als „sehr schädigend für meine Internetseite“, vor allem weil „in dem besagten Artikel so viele fachliche Fehler und wilde Spekulationen erschienen sind“. Er habe jetzt einen Anwalt kontaktiert.
(Unkenntlichmachung von uns. Für den Verdächtigen unten rechts hat „Bild“ einen kleinen Augenbalken springen lassen, für die Frau auf dem großen Foto nichts. Quelle: “Privat”.)
Man darf wohl davon ausgehen, dass die Leute von “Bild” auch in diesem Fall keine Erlaubnis der Abgebildeten vorliegen hatten, denn der abgebildete Mann sitzt in U-Haft — und die abgebildete Frau hat überhaupt nichts mit der Sache zu tun. Da haben sie mal wieder das falsche Foto geklaut.
Inzwischen wurde die Seite aus dem ePaper entfernt und in der Ausgabe von gestern eine Korrektur veröffentlicht versteckt, drei Seiten weiter hinten und sechsmal kleiner als das falsche Foto:
Und sie haben es sich nicht nehmen lassen, bei der Gelegenheit auch gleich noch mal den Verdächtigen zu zeigen. Und das (angeblich diesmal richtige) Opfer. Ohne jede Verpixelung.
Über zwei Jahre ist es jetzt her, dass sich Formel-1-Fahrer Michael Schumacher bei einem Skiunfall schwer am Kopf verletzt hat und ins Koma fiel. Inzwischen befindet er sich in einer langwierigen Reha-Phase.
Viele Medien nehmen (abgesehen von denanfänglichenAusrastern) inzwischen Rücksicht auf Schumacher und dessen Familie, berichten nur noch selten und beteiligen sich nicht an Spekulationen.
Einige lassen immer noch nicht locker und verletzen in routinierter Regelmäßigkeit die Persönlichkeitsrechte der Familie, setzen Gerüchte und Falschmeldungen in die Welt und versuchen auf perfide Weise, den Fall Schumacher zu Geld zu machen. In aller Regel bekommt man davon nichts mit, weil es in den düstersten Ecken des Zeitschriftenregals passiert: in “Freizeit Revue”, “Bunte”, “Gala”, “die aktuelle”, den Regenbogen- und “People”-Heften.
Sabine Kehm, Schumachers Managerin, die auch seine Familie in der Öffentlichkeit vertritt, hat sich seit dem Unfall einige Male öffentlich zu Wort gemeldet. Dabei hat sie grobe Angaben zu Schumachers Gesundheitszustand gemacht und immerwieder erklärt, dass der Genesungsprozess sehr lange dauern werde. Und dass sie medizinische Einzelheiten nicht diskutieren möchte, um Schumachers Privatsphäre zu schützen.
Von Anfang an hat sie versichert, dass sie „entscheidende Neuigkeiten im Gesundheitszustand Michaels weiterhin bekanntgeben“ werde. Man müsse „einfach Geduld haben“.
Doch Geduld füllt keine Titelseiten. Die Redaktionen der Knallpresse wollen Details. Sie wollen ganz genau wissen, was im Krankenzimmer vor sich geht. In allen Einzelheiten. Sie nennen das “Wahrheit”, weil “Wahrheit” so klingt, als würde da irgendwas Wichtiges verheimlicht, und als hätte die Öffentlichkeit verdammt noch mal ein Recht darauf, endlich Genaueres zu erfahren.
So sieht die aktuelle “Gala” aus, über die ihr Verlag Gruner & Jahr schreibt, sie schaffe “eine intime, aber immer respektvolle Nähe zu den Stars”.
Im Artikel (“Das Ende der Stille”) schreibt das Blatt:
Zum Gesundheitszustand von Schumacher äußerten sich seine Familie und seine Managerin Sabine Kehm generell nur spärlich und vage. Der 47-Jährige mache “der Schwere seiner Verletzungen entsprechend Fortschritte”, die Reha-Phase werde sehr lange dauern, es sei “ein Kampf”. In diesem Duktus bleiben die Statements. Kein Wunder, dass es immer wieder wilde Spekulationen um Schumacher gibt, die für Schlagzeilen sorgen.
Schlagzeilen? Was denn für Schl…
(Ausgabe 11/2015. Hintergrund: Familie Schumacher soll ihr Ferienhaus verkauft haben.)
Nach der Logik der “Gala” sind die Schumachers also selbst schuld an solchen Schlagzeilen. Nur ein “ehrliches Wort”, schreibt sie, würde “alle Spekulationen im Keim ersticken”. Anders gesagt: Das Blatt wird erst mit dem Gerüchteverbreiten aufhören, wenn die Familie genug Details ausgepackt hat.
Corinna Schumacher, 46, täte sich damit einen großen Gefallen.
Sich. Natürlich.
Auch die “Bunte” will die Stille um Michael Schumacher einfach nicht ertragen und füllt sie lieber mit ein paar exklusiven Geschichten:
Viele davon musste sie, wie diese, in der digitalen Version nachträglich schwärzen, weil sie falsch waren oder sich die Familie juristisch dagegen gewehrt hat. Hier waren es Gerüchte über Schumachers Gesundheitszustand, die das Blatt “aus dem engsten Schweizer Umfeld der Familie” erfahren haben wollte. Managerin Kehm erklärte später: Alles Quatsch.
Wenn der Burda-Verlag seine “Bunte” beschreibt, nennt er sie übrigens ohne einen erkennbaren Anflug von Ironie eine “journalistische Institution”, die für “einzigartigen People-Journalismus” stehe und “der Garant für hochprofessionelle aktuelle Berichterstattung” sei. Viele Menschen kaufen ihm das ab. Und (auch deswegen) seine Hefte.
Das gilt auch für Blätter wie “die aktuelle”.
Für alle, die sie nicht kennen, hier die Kurz-Charakterisierung vom Verlag (Funke):
Spannende und seriöse Reportagen über Showstars, VIPs und Königshäuser, ohne Sensationslust, sondern mit viel Gefühl, bestimmen das redaktionelle Angebot und prägen den „People-Magazin“ – Charakter.
Hach ja:
Das ist die aktuelle Ausgabe. Der “Insider”, von dem das Zitat auf der Titelseite stammt, ist ein französischer Rennfahrer, der angeblich mit Schumacher befreundet ist.
Gefunden hat “die aktuelle” das Zitat in diesem französischen Magazin:
Familie Schumacher hat, wie uns ihr Anwalt bestätigte, bereits eine Verfügung gegen das “aktuelle”-Titelblatt erwirkt. Die ePaper-Ausgabe ist (wie die meisten Schumacher-Ausgaben, die bisher erschienen sind) nicht mehr erhältlich.
(Vor ungefähr einem Jahr gab es einen ähnlichen Fall: Irgendeine französische Postille hatte damals unter Berufung auf einen „Insider” Dinge über Schumachers Gesundheitszustand behauptet. Der Informant sei ein enger Freund der Familie, hieß es, und er habe die Informationen von Schumachers Frau und dessen Arzt. Die Gerüchte verbreiteten sich auch hierzulande. Schumachers Managerin teilte daraufhin mit, die Informationen seien falsch. Der Mann sei nie mit Schumacher befreundet gewesen, er habe außerdem weder Kontakt zu Schumachers Frau noch zu Schumachers Arzt gehabt.)
Oft findet “die aktuelle” ihre Geschichten auch im Internet. In einer der jüngsten Schumacher-Ausgaben schreibt sie:
Auf der Fan-Homepage von Michaels Sohn Mick, 16, fand man im Dezember 2014 rührende alte Familienbilder: Dreikäsehoch Mick mit seinem berühmten Papa. In diesem Jahr gibt es Bilder von Micks Karriere und Kollegen …
Und was schließen wir daraus? Genau:
Überall scheint der letzte Funken Hoffnung zu erlöschen. War alles Beten und Hoffen umsonst? Es macht unendlich traurig, dass immer mehr Menschen Schumi offenbar aufgegeben haben. Seine Familie wird das wohl auch schmerzlich spüren. Es wird immer schwerer, an Genesung zu glauben. Die Zeit der Entscheidung rückt näher, sich zu fragen, ob man selbst noch hoffen kann. Wenn die Kraft fehlt, noch an ein Wunder zu glauben, bleibt nur noch die Liebe und die Erinnerung.
Voilà:
So geht das seit zwei Jahren. Lieblingsthema, selbstverständlich: Schumis Gesundheitszustand.
Bei näherer Betrachtung wird schnell klar, mit welchen Tricks “die aktuelle” sonst noch arbeitet.
„Aufgewacht!“ bezieht sich nicht auf Michael Schumacher, sondern (wie die Mini-Unterzeile verrät) auf irgendwelche Menschen, die schon mal aus dem Koma erwacht sind. Die angebliche „Lungenentzündung“ basiert auf einer unbestätigten „Bild“-Geschichte, die „Bild“ später korrigierte. Die „Traurige Weihnachten“-Story ist eine Collage aus alten Zitaten und Gerüchten. Bei „Er sitzt in der Sonne!“ steht ganz klein neben dem Foto: „St. Moritz, 26.1.2013“ – es wurde also ein Jahr vor dem Unfall aufgenommen.
Zweitliebstes Thema: Schumis Familie.
Auch hier immer die gleichen Muster: Bei „Eine neue Liebe macht sie glücklich!“ geht es nicht um Corinna Schumacher, sondern um ihre Tochter, die angeblich einen neuen Freund hat. Der “neue ‘Papa’ für Schumis Sohn“ ist Formel-1-Pilot Sebastian Vettel, also “Papa” im Sinne von “Ziehvater”, weil er ihm ja bestimmt gute Formel-1-Tipps geben kann und so. Bei „’Sie standen vor der Trennung!’“ steht in der kleinen Unterzeile: „Wer setzt solche Gerüchte in die Welt? Es geht um die Zeit vor dem Unfall…“ Und: „Wie gemein!“
Das alles ist nur ein winziges Abbild des alltäglichen Irrsinns, nur ein Tropfen aus dieser gewaltigen Schlagzeilenflut.
Allein die Ausgaben, die in diesem Eintrag abgebildet sind (das französische Blatt und die erst kürzlich erschienenen Ausgaben ausgenommen), sind insgesamt über 12 Millionen mal verkauft worden. Rechnet man alle verkauften Frauen-Freizeit-Titel zusammen, kommt man in die Hunderte Millionen. Jedes Jahr.
Hunderte Millionen Zeitschriften voller hochprofessioneller Berichterstattung. Ohne Sensationslust. Sondern mit viel Gefühl.
1. Warum jeder Journalist „Spotlight“ sehen sollte (gutjahr.biz)
Der Film “Spotlight” handelt vom gleichnamigen Investigativ-Rechercheteam des “Boston Globe”, das den sexuellen Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche in Boston aufgedeckt hat. Für ihre vorbildhafte Berichterstattung haben die Reporter 2003 den Pulitzer Preis erhalten. Richard Gutjahr hat sich den Film (Kinostart in Deutschland lt. Wikipedia am 25.2.2016) angesehen und ist begeistert. Die für mehrere Oscars und Golden Globe Awards nominierte Filmbiograhie erinnere ihn daran, warum er einst Journalist werden wollte. Und er benennt 12 Dinge, die ihn “Spotlight” über journalistisches Handeln gelehrt hätte.
2. Social Media Forensics Siegen (netzpiloten.de, Marinela Potor)
Viele Journalisten, Politiker und Bürger haben ein genaues Auge auf die sozialen Netzwerke, die in vielerlei Hinsicht ein politisches Stimmungsbarometer sind. Doch tatsächlich würden viele Social-Media-Trends durch aggressive Bot-Netze und Trolle bewusst manipuliert. So entstünden zunehmend gesellschaftliche Debatten über Themen, die künstlich gepusht würden. Bots könnten gesellschaftliche Debatten durch ihre schiere Masse bestimmen und in eine gewünschte Richtung lenken. In einem Forschungsprojekt über “Social Media Forensics” entwickeln Forscher der Universität Siegen nun Algorithmen, um die Bot-Netze zu entlarven. Das Forschungsteam hätte beispielsweise ein Netz aufgedeckt, das während der Ukraine-Krise täglich massiv gefakte Posts verbreitete. Aber auch eine Invasion von CSU-Seiten mit fremdenfeindlichen Kommentaren zur Flüchtlingskrise sei den Forschern aufgefallen.
3. Blogger: Am Ende Verleger – oder Verleger am Ende? (indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
Der Blogger und gelernte Journalist Thomas Knüwer ärgert sich über einen Beitrag seines Kollegen Michael Spehr in der “Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung”. Spehr schreibt darin, Blogs seien am Ende, was u.a. die diesjährige Ehrung zum Blogger des Jahres beweise (eine Auszeichnung, die im Rahmen der Verleihung der “Goldenen Blogger” vergeben wurde, an der Knüwer beteiligt ist). In einer Art persönlicher Gegendarstellung schildert Thomas Knüwer seine Sichtweise. Der Zwist hat sein Gutes: Der Artikel ist zu einem kurzweilig zu lesenden, subjektiven Abriss der deutschen Bloggergeschichte geraten.
4. Auf der Netz-Spur der “Lügenpresse” (ndr.de, Fiete Stegers)
Fiete Stegers hat sich auf eine spannende Spurensuche nach den Ursprüngen des Worts “Lügenpresse” gemacht. Ein Blogger hatte 2014 anhand der Google-Buch-Suche ermittelt, dass der Begriff bereits im frühen 20. Jahrhundert verwendet wurde, in der “Zeit völkischer und nationalsozialistischer Ideologie”. Stegers hat nun weitere Suchtools hinzugezogen: Die “Google-Suchtrends” als Indikator für Themen-Popularität im Netz und “Brandwatch” als Messwerkzeug für die Popularitätbestimmung des Begriffs auf News- und Social-Mediaseiten. Interessante Analyse mit verschiedenen Deutungsansätzen.
5. Offener Brief der L-IZ.de (augenzeugen.info, Anna-Maria Wagner)
Immer wieder werden Journalisten bei “Pegida”-Demonstrationen an der Ausübung ihrer Arbeit gehindert, werden beschimpft oder gar tätlich angegriffen. Darunter zu leiden hat besonders die “Leipziger Internetzeitung”, die lange Zeit regelmäßig von den sogenannten “Legida”-Aufmärschen berichtet hat. Doch die Leipziger Lokalzeitung stellt die Live-Berichterstattung bis auf Weiteres ein. Man fühle sich von der Polizei und der Politik im Stich gelassen. Der in vollem Wortlauf veröffentlichte offene Brief zeigt das gesamte Ausmaß der unerfreulichen Entwicklung.
6. Lobbyist wird neuer Chef des BSI (zeit.de)
Nun ist bekannt, wer neuer Präsident des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik wird: Arne Schönbohm. Ein ehemaliger Rüstungsmanager, der von seinen Kritikern als IT-Lobbyist bezeichnet und im Umfeld des Chaos Computer Club als “Cyberclown” geschmäht wird.