Archiv für Februar 10th, 2016

Medien ermitteln: Es war menschliches Versagen!

Gestern Abend berichtete das „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (die Zentralredaktion der Madsack Mediengruppe) „exklusiv“ unter Berufung auf einen Ermittler beim Zugunglück in Bad Aibling:

Die Fehlentscheidung eines Fahrdienstleiters im Stellwerk von Bad Aibling ist offenbar der Grund für das Zugunglück mit mindestens zehn Toten. Dies berichten die Zeitungen des RedaktionsNetzwerks Deutschland, dem mehr als 30 Tageszeitungen angehören, unter Berufung auf Ermittlerkreise.

Und ruck, zuck stand es überall:



15 Minuten später twitterte „Spiegel Online“:

Demnach wies die Polizei die Berichte …

als Spekulation zurück. Die Behörden stünden am Anfang ihrer Ermittlungen. Man müsse jetzt die Auswertung der Blackboxes abwarten, sagte ein Sprecher des Polizeipräsidiums Oberbayern Süd SPIEGEL ONLINE.

Keine Stunde später:

In der Zwischenzeit hatte auch die dpa gemeldet, sie habe „aus zuverlässiger Quelle“ erfahren, dass “menschliches Versagen” die Ursache sei. Das reichte dann auch “Spiegel Online”, um auf der Titelseite zu verkünden:

Die Polizei wehrt sich unterdessen nach Kräften gegen die Gerüchte. Gestern schrieb sie in einer Pressemitteilungen:

Zur genauen Ursache können derzeit noch keine Aussagen getroffen werden, die Ermittlungen stehen hier noch am Anfang.

Dem BR sagte ein Polizeisprecher gestern Abend:

“Das sind reine Spekulationen, werfen Sie das weg, das weisen wir zurück”. Die Ermittlungen stünden noch völlig am Anfang.

Heute Morgen noch eine Pressemitteilung:

Zur genauen Ursache können derzeit noch keine Aussagen getroffen werden, die Ermittlungen stehen hier noch am Anfang.

Heute Nachmittag noch eine:

Nach der Bergung der Toten und Verletzten und des Streuguts am gestrigen Tag, stehen für Staatsanwaltschaft und Polizei jetzt die Sicherung von Beweismitteln und die rechtsmedizinischen Untersuchungen im Vordergrund. Darüber hinaus müssen natürlich alle Zeugen, vor allem die Zuginsassen, nach und nach vernommen werden und Sachverständige müssen mit der Auswertung von Beweismitteln und der Erstellung von Gutachten ihre notwendigen Beiträge liefern.

Die Ermittlungen werden kompliziert, aufwändig und zeitraubend. Aussagen zur Unglücksursache können und werden deshalb seitens der Behörden derzeit keine getroffen. Es wird deshalb gebeten, von Nachfragen hierzu bei Polizei und Staatsanwaltschaft abzusehen, zu gegebener Zeit äußern sich die Behörden dazu. 

Können sie sich sparen. Die Ursache steht ja schon fest:




Und auch der Schuldige ist schon gefunden:





Oder auch:

Viele Medien widmeten den Spekulationen (und widmen ihnen weiterhin) prominente Plätze auf der Startseite, präsentieren sie als „Ergebnisse“, obwohl die Ermittlungen immer noch laufen. Der Schuldige steht fest, und vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir Fotos von seinen heruntergelassenen Rollos sehen und erfahren, was eigentlich sein Lieblingspizzabäcker von der ganzen Sache hält.

Selbst wenn es stimmt, dass ein Verdacht gegen den Mann besteht — wie oft schon hat sich im weiteren Verlauf von Ermittlungen gezeigt, dass alles doch ganz anders war? So etwas braucht Zeit. Zeit, die viele Medien nicht haben sich nicht nehmen wollen.

Dabei sind Kompromisse so einfach.

„Zeit Online“ zum Beispiel stellte gestern Abend ganz unaufgeregt alle verfügbaren Informationen zusammen, auch die Gerüchte aus Ermittlerkreisen, verzichtete aber auf voreilige Schuldzuweisungen:

Auch tagesschau.de berichtete zwar über die Spekulationen und Mutmaßungen, nannte sie aber auch so:

Und einige spendierten immerhin ein Fragezeichen:

Inzwischen hat die Polizei noch einmal Stellung genommen:

“Wir wehren uns vehement gegen dieses Gerücht”, teilte ein Sprecher der Polizei am Unglücksort mit. (…) Zwar könne ein Fehler oder Vergehen des Diensthabenden nicht ausgeschlossen werden, doch stünden die Ermittlungen noch am Anfang. Der Fahrdienstleiter sei bereits unmittelbar nach dem Zusammenstoß am Dienstag befragt worden. Daraus habe sich “noch kein dringender Tatverdacht” ergeben, teilte die Polizei mit.

Mit Dank an Bernhard W. und Christian H.

Wildwechsel, Hoaxmap, Paygate am Rhein

1. Großer Wildwechsel
(faz.net, Michael Hanfeld)
Was sich zunächst wie eine Provinzposse liest, hat möglicherweise Auswirkungen auf die Pressefreiheit in Deutschland. Da soll ein Jäger wenig waidmänisch gehandelt haben, als er ein totes Reh ein paar hundert Meter weit hinter seinem fahrenden Auto über die Landstraße geschleift hat. In der Presse wird er daraufhin als “Rabauken-Jäger” bezeichnet. Der sich gekränkt fühlende Jägersmann zeigt den Journalisten wegen Beleidigung an und bekommt nun in zweiter Instanz überraschend Recht: Der Journalist wird zu einer Geldstrafe von tausend Euro verurteilt! Die in Mecklenburg-Vorpommern spielende Geschichte erinnert mit ihren Nebenhandlungen und politischen Verwicklungen an derbes Bauerntheater. Und sie ist noch lange nicht zu Ende: Die Zeitung geht in Revision, das Verfahren wird fortgesetzt.

2. Hoaxmap
(hoaxmap.org)
Bei Hoaxmap werden auf einer Deutschlandkarte Falschmeldungen und Gerüchte über Flüchtlinge regional zugeordnet und dokumentiert. Der Grund: Seit spätestens Mitte des vergangenen Jahres sei zu beobachten, dass zunehmend Gerüchte über Asylsuchende in die Welt gesetzt und viral verbreitet würden. Diese würden von gewilderten Schwänen bis zu geschändeten Gräbern reichen. In der “SZ” gibt es ein Gespräch mit der anonym bleiben wollenden Initiatorin über Hintergrund und Beweggründe der Aktion.

3. Das Bayerische Fernsehen feierte erstmal weiter
(blogmedien.de, Horst Müller)
Horst Müller beschäftigt sich auf seinem Medienblog mit der Berichterstattung über das Zugunglück bei Bad Aibling. Nach dem schweren Unfall hätte das Bayerische Fernsehen am Dienstagmorgen und am Vormittag knapp vier Stunden lang sein Programm planmäßig fortgesetzt. Besonders makaber sei, dass das öffentlich-rechtliche TV-Programm, in dessen Kernsendegebiet sich zweieinhalb Stunden zuvor ein schweres Zugunglück ereignet hätte, die Faschingssendung “Närrische Weinprobe” ausgestrahlt hätte.

4. Keine Flucht ins Privatrecht
(lto.de)
Wie ein neues, jedoch noch nicht rechtskräftiges Urteil des OLG Hamm bestätigt, haben Journalisten auch gegenüber privatrechtlich organisierten Unternehmen ein Auskunftsrecht. Im vorliegenden Fall musste ein zum Großteil in öffentlicher Hand befindliches Unternehmen Auskunft über den Abschluss und die Abwicklung von Verträgen geben und konnte sich nicht hinter dem Schutz von Geschäftsgeheimnissen verstecken.

5. Was Leser wirklich wollen
(blog.tagesanzeiger.ch, Michael Marti & Marc Fehr)
Das Schweizer Medienunternehmen “Tamedia” bietet eine App an, die jeden Tag um 12 Uhr mittags 12 ausgesuchte Geschichten aus Publikationen des Konzerns aufs Handydisplay sendet. In der App werden die Leser aufgefordert, den jeweiligen Beitrag zu bewerten, was rund 20 Prozent der Leser machen würden. Von der Auswertung des Feedbacks zeigt man sich teilweise überrascht: Die Leser wollten “lange Texte, relevante Themen, kaum Unterhaltung”. Generell würden klassische journalistische Tugenden wie Relevanz, Erzähltechnik, Ausgewogenheit und sprachliche Sorgfalt zu einer hohen Wertung führen. Die Datenlage lässt jedoch verschiedene Interpretationen zu und wird in den Kommentaren kontrovers diskutiert.

6. Ein Jahr scharfes Paygate bei Rhein-Zeitung.de: weniger Visits, größerer Umsatz
(blog.rhein-zeitung.de, Marcus Schwarze)
Die “Rhein-Zeitung” betreibt seit einem Jahr ein, wie sie es selbst nennt, “scharfes Paygate”. Wie sich das auf die Anzahl der Digital-Abos auswirkt, legt die Zeitung nun in ihrem Blog offen. Man muss den zuständigen Redakteur fast dafür bewundern, wie tapfer er den Schmerz über die ernüchternden Zahlen wegatmet und zwischendurch sogar lobende Worte für das Digital-Desaster findet. So hat die Zeitung im Januar pro Tag lediglich 23 Tageszugänge (“Tagespässe”) verkauft und gerade mal 56 Leser gönnten sich einen Monatspass. Noch trauriger wird es bei den Jahrespässen; auf jeden der 140 Redakteure kommen etwa vier Jahres-Abos. Das Tröstliche dabei: Wenn jeder Redakteur nur ein Abonnement auf den Namen seiner Tante abschließt, entsteht ein fettes Wachstum, und die “Rhein-Zeitung” kann nächstes Jahr neue Erfolgszahlen melden.