Archiv für April, 2015

Bild  

“Bild” braucht keine Erlaubnis für Opferfotos

Vor vier Wochen hat die „Bild“-Zeitung in ihrer Print- und Online-Ausgabe mehrere unverpixelte Fotos von Menschen veröffentlicht, die zwei Tage zuvor beim Absturz der Germanwings-Maschine in den Alpen gestorben waren. „Bild“ nannte auch ihre Vornamen, abgekürzten Nachnamen, in einigen Fällen auch ihre Wohnorte, Berufspläne, Hobbies und andere private Dinge.

(Alle Unkenntlichmachungen von uns.)

Als wir vom Axel-Springer-Verlag wissen wollten, ob die Angehörigen der Veröffentlichung zugestimmt hatten, verwies „Bild“-Sprecherin Sandra Petersen zunächst auf eine imaginäre Twitter-Diskussion der „Bild“-Chefs, inzwischen hat sie nach mehrfacher Nachfrage aber doch geantwortet. Sie schreibt:

Wir halten es für wichtig, die Opfer und ihre Geschichten abzubilden, nur so wird die Tragik deutlich und fassbar. Bei dem Flugzeug-Absturz handelt es sich um ein furchtbares zeitgeschichtliches Ereignis, in solchen Fällen halten wir es für möglich, Fotos von Betroffenen ohne explizite Einwilligung zu zeigen. Wir haben auf Fotos zurückgegriffen, die im medialen Umfeld oder im Umfeld der Trauer-Aktionen veröffentlicht wurden.

Heißt konkret: „Bild“ hat sich die Fotos bei Facebook besorgt oder irgendwo abfotografiert. Im Blatt selbst hieß es:

Gestern postete eine Freundin von […] dieses Foto …

Im Feuerwehrhaus der Stadt steht ein Bild des Verstorbenen …

Dieses Gruppen-Selfie der Verstorbenen wurden [sic] auf dem Marktplatz in […] aufgehängt …

Dieser Bilderrahmen […] steht in einem Versicherungsbüro auf dem Arbeitsplatz von …

Ob der Schreibtisch eines Verstorbenen zu seinem „medialen Umfeld“ oder zum „Umfeld der Trauer-Aktionen“ zählt, wissen wir allerdings nicht.

Immerhin, so schreibt die „Bild“-Sprecherin:

Dem vereinzelten Wunsch von Betroffenen, ihre Angehörigen nicht weiter abgebildet zu sehen, kommen wir nach.

Dann muss man sich also, wenn man zwei Tage zuvor ein Familienmitglied verloren hat, nur schnell durch die „Bild“-Redaktionen telefonieren und schon wird das Foto künftig nicht mehr gezeigt. Es ist dann zwar schon millionenfach gedruckt und auf der ganzen Welt herumgereicht worden, aber so ist das nun mal, wenn jemand ohne eigenes Zutun Teil eines Ereignisses wird, bei dem die „Bild“-Zeitung sich nicht in der Lage sieht, die Tragik ohne Opferfotos “fassbar” zu machen.

Übrigens: Als es um die Namensnennung des Co-Piloten ging, wurde „Bild“-Chef Kai Diekmann ja nicht müde, den Pressekodex zu zitieren:

Richtlinie 8.2 hat leider nicht mehr draufgepasst, darum reichen wir sie gerne nach:

Richtlinie 8.2 – Opferschutz
Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt.

Nachtrag, 8. Juli: “Bild” und Bild.de sind für die Veröffentlichung der Opferfotos vom Deutschen Presserat öffentlich gerügt worden.

Kakerlaken, Kinder, Care-Teams

1. “Die ‘Kakerlaken’ und wir”
(taz.de, Dominic Johnson)
“Sun”-Kolumnistin Katie Hopkins vergleicht Flüchtlinge mit Kakerlaken. Eine darauf lancierte Petition, sie zu entlassen, erhält über 200 000 Unterstützer. Siehe dazu auch “Katie Hopkins: Sun migrants article petition passes 200,000 mark” (guardian.com, John Plunkett, englisch).

2. “Bitte ein Care-Team für Journalisten”
(medienblog.blog.nzz.ch, Rainer Stadler)
Rainer Stadler wundert sich, wie Journalisten auf starken Einspruch reagieren: “Man ist fast schon versucht, ein Care-Team für die geschundenen Seelen anzufordern. Unter den Leidenden finden sich, wen wundert’s, auch solche, welche selber gerne hart austeilen, Personen beschiessen, Unwahrheiten verbreiten oder Aussagen verdrehen und zuspitzen, um besser draufhauen zu können. Schlimm ist das wohl nur, wenn es die andern tun.”

3. “Die Nierensteine waren nicht autorisiert”
(faz.net, Werner Mussler)
Der Start von Politico.eu: “Die Mitglieder der EU-Kommission und die Europaparlamentarier sehnen sich seit langem nach einem Medium wie ‘Politico Europe’. Sie beklagen, dass die traditionellen Medien nach den Bedürfnissen ihres jeweiligen Heimatlandes berichten, dass sie im Vergleich zur nationalen Politprominenz medial wenig präsent seien und dass keine europäische Öffentlichkeit existiere. Mancher Brüsseler Politiker meint, diese Öffentlichkeit lasse sich gewissermaßen herbeiinszenieren, wenn die Medien das nur wollten.”

4. “Fuck off, wenn Du nicht meiner Meinung bist”
(dondahlmann.de)
“Es ist ja ein Trend geworden, dass man jeden, der auch nur entfernt etwas anderes denkt, meint, sagt oder schreibt, sofort aus der eigenen Timeline und dem Leben entfernt”, stellt Don Dahlmann fest: “Dass man selber bestimmte Dinge in seiner Timeline nicht sehen oder lesen will – ok. Dass man andere aber ohne Diskussion dafür in Sippenhaft nimmt, hat etwas Totalitäres. Statt Fronten aufzulösen, baut man welche auf. Man teilt die Welt in Lager, in Schwarz und Weiß und verbarrikadiert sich hinter seinen Gedankentürmen, von denen man annimmt, dass nur man selber in der Lage ist, die reine Wahrheit zu erkennen. Das hat etwas religiöses, fällt mir, jetzt wo ich es schreibe, so auf.”

5. “Der Missbrauchsvorwurf zieht Schuld von Tätern ab”
(tagesspiegel.de, Susanne Mierau)
Die Debatte um das Zeigen von Kinderfotos im Internet: “Beschämende Bilder oder Videos von Kindern sind wie bei Erwachsenen unangebracht und auch Bilder von Kindern auf dem Töpfchen oder in schwierigen Situationen sind zu vermeiden. Denn tatsächlich ist ein solches Vorgehen, wie auch Frau Fetscher betont, unangebracht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Kinderbilder generell aus dem Internet verbannt werden sollten.”

6. “One of Monday’s Pulitzer Prize Winners Left Journalism Because It Couldn’t Pay His Rent. Now He’s in PR.”
(slate.com/blogs/moneybox, Jordan Weissmann, englisch)

Auflage, Franz Josef Wagner, Kinderfotos

1. “IVW 1/2015: So hoch ist die ‘Harte Auflage’ wirklich”
(dwdl.de, Uwe Mantel)
Deutsche Zeitschriften in einer Gegenüberstellung zwischen ausgewiesener Auflage (“Bordexemplare, Lesezirkel oder stark rabattierte sonstige Verkäufe, mit denen die Verlage gerne Auflagenkosmetik betreiben”) und “harter Auflage” (“Einzelverkäufe zum regulären Preis und Abonnements”).

2. “Das Recht am eigenen Foto”
(dasnuf.de)
Das Nuf greift den Text “Das Zurschaustellen der eigenen Kinder im Internet ist Missbrauch” (tagesspiegel.de, Caroline Fetscher) auf und nennt ihn reißerisch, themenvermischend und nicht ausreichend differenziert: “Am Ende ist es natürlich eine Entscheidung der jeweiligen Eltern. Ich weiß, ich persönlich würde es befremdlich finden, wenn ich auf eine im Netz dokumentierte Kindheit zurück blicken würde. Ich erinnere mich gut, dass es ein großes Baby-Foto von mir gab, das ich peinlich fand. Meine Eltern und Großeltern fanden das Foto besonders süß und rahmten es sich ein, um es jeweils gut sichtbar im Flur zu platzieren. Das alleine (und wie viele Leute liefen wohl durch den Flur dieser beiden Wohnungen) war mir jahrelang unangenehm.”

3. “So wird in afrikanischen Medien berichtet”
(tagesspiegel.de, Wolfgang Drechsler)
Wolfgang Drechsler liest afrikanische Medien zu den Bootsunglücken im Mittelmeer: “Selbst wenn die Medien in Afrika über die Flüchtlingsströme nach Norden berichten, werden selten Hauptschuldige dafür offen benannt: die afrikanischen Regierungen. Stattdessen ist, wie auch in den europäischen Medien, oft vom Versagen und der Schuld Europas die Rede.”

4. “‘Wissen wollen ist ein Reflex'”
(berliner-zeitung.de, Joachim Frank)
Nach der Berichterstattung zum Absturz von Germanwings-Flug 9525 fordert Alexander Filipovic die Redaktionen dazu auf, andere Formen der Aktivität zu finden: “Es bekäme der öffentlichen Kommunikation gerade gut, wenn nicht immerzu auf allen Kanälen das Gleiche gesendet und geschrieben würde. Das hieße dann für Redaktionen: Einen Gang herunterschalten. Nichts bringen, nur weil es bei den Kollegen vom Sender X oder der Zeitung Y auch schon zu sehen war! Lieber warten, bis es wirklich etwas Neues gibt.”

5. “Je suis Franz Josef”
(stern.de, Meike Winnemuth)
Meike Winnemuth setzt sich für Franz Josef Wagner ein, dessen Ergüsse sie “regelmäßig fassungslos machen”: “Selbstverständlich kann man sich gegen Unliebsames empören, man soll es sogar, oft muss man es unbedingt. Aber wenn gefordert wird, dass alles Empörende weg soll, alles Geschmacklose, Stillose, Verdammtnochmalfalsche, und wenn diejenigen verbal an die Laterne gehängt werden, die einem nicht behagen, dann geht gerade gewaltig was schief.”

6. “Antilopen, die Löwen fressen. In elf einfachen Lektionen zum Terror-Opfer”
(derzaunfink.wordpress.com, 15. April)
Der Zaunfink kümmert sich um “die allgegenwärtige Unterdrückung der Heterosexuellen”: “Homos klagen seit Jahrzehnten darüber, wie schwer sie es haben. Aber Heteros durften das nie. Das ist ungerecht und gemein. Um nicht zu sagen: diskriminierend! Wenn Sie sich jetzt gerade nicht mit der Hand auf die Stirn geschlagen haben, dann können wir beginnen. Sie haben Potential.”

Dirk Hoerens Hartzer-Käse

Stellen Sie sich vor, Sie sind Dirk Hoeren von der „Bild“-Zeitung und sollen tun, was Sie auch sonst tun, nämlich Stimmung machen, aber diesmal nicht gegen Rumänen und Bulgaren, sondern, wie früher, gegen die „faulen“ Hartz-IV-Empfänger.

Passenderweise hat die Bundesagentur für Arbeit jüngst eine Statistik veröffentlicht (Excel-Datei), in der es um die Sanktionen geht, die Hartz-IV-Empfänger bekommen, wenn sie zum Beispiel eine Arbeit verweigern oder einen Termin verpassen; eine seit jeher willkommende Hetzgrundlage für die Leute von “Bild”.

Ein kleines Problem ist nur: Eigentlich gibt die Statistik diesmal nichts her, womit man die „Hartzer“ (O-Ton Hoeren) schlechtmachen könnte. Im Gegenteil:

  • Die Zahl der Sanktionen ist in den vergangenen zwei Jahren kontinuierlich gesunken; 2014 waren es über 23.000 weniger als 2012.
  • Auch die durchschnittliche Sanktionsquote (in Bezug auf alle Leistungsberechtigten) hat sich verringert: von 3,4 im Jahr 2012 auf 3,2 im Jahr 2014.
  • Und vor allem: Die Anzahl der sanktionierten Leistungsberechtigten war im vergangenen Jahr mit grob 440.000 so niedrig wie seit 2007 nicht. Anders gesagt: Es wurden noch nie so wenige Hartz-IV-Empfänger bestraft wie im vergangen Jahr.

Damit lässt sich das Bild des faulen Hartzer-Packs natürlich nur schwer untermauern. Also was machen Sie? Klar: Einfach alles Positive ignorieren — und weiter nach einer Zahl suchen, die man den Schmarotzern um die Ohren hauen kann:

Schon eine Idee?

Dirk Hoeren hatte eine. Sein Artikel beginnt so:

Die Zahl säumiger Hartz IV-Empfänger, die Arbeit ablehnen oder Termine beim Jobcenter verpassen, geht einfach nicht zurück!

Hoeren pickt sich kurzerhand die Spalten 4 und 5 (Meldeversäumnisse) heraus, addiert sie — und behauptet dann, die Zahl „säumiger Hartz IV-Empfänger“ gehe „einfach nicht zurück!“ Das ist zwar nicht falsch. Aber eben nur ein Teil der Wahrheit.

Und während andere Medien titeln: “Zahl der Hartz-IV-Sanktionen weiter gesunken”, lautet die “Bild”-Überschrift:

Hoeren schreibt:

Drei Viertel der Strafen (747793) wurden wegen vergessener Termine beim Jobcenter oder ärztlichen Dienst ausgesprochen. Höchststand seit Einführung von Hartz IV 2005! Dabei erinnern Jobcenter die Hartzer seit April 2013 auf Wunsch per SMS an Termine.

Nur darf man dabei nicht vergessen: Diese Zahl bezieht sich auf ein ganzes Jahr — und verteilt sich auf sämtliche Hartz-IV-Empfänger. Um das mal in Relation zu setzen: Im Dezember 2014 beispielsweise gab es insgesamt 4.322.022 Leistungsberechtigte in Deutschland. Gut 90.000 Sanktionen wurden in diesem Monat ausgesprochen, davon 68.000 wegen Meldeversäumnissen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass jede Sanktion gegen eine andere Person ausgesprochen wurde (und nicht mehrere Sanktionen pro Person), macht das eine „Faulen“-Quote von sage und schreibe 1,6 Prozent.

Auf das ganze Jahr bezogen (insgesamt 441.686 sanktionierte Personen, egal aus welchem Grund) ergibt sich eine Quote von gut 10 Prozent, was bedeutet, dass sich immerhin 90 Prozent aller Leistungsberechtigten nichts hat zu Schulden kommen lassen.

Darüber verliert Dirk Hoeren freilich kein Wort. Stattdessen zitiert er am Ende des Artikels noch Vertreter aus der Politik Union:

CDU-Wirtschaftsexperten halten Sanktionen gegen säumige Hartzer weiter für nötig. Wolfgang Steiger, Generalsekretär des CDU-Wirtschaftsrates: „Die hohe Zahl der Verstöße zeigt, dass sich zu viele Empfänger von Sozialleistungen in ihrer Lebenslage eingerichtet haben.“ Der Chef der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung, Carsten Linnemann: „Bei gut 700 000 Sanktionen allein wegen Meldeverstößen sehen wir, dass ‘Fordern und Fördern’ untrennbar zusammengehören.“

Vertreter der SPD, die die Sanktionen entschärfen wollen, kommen nicht zu Wort. Auch die Grünen, die die Sanktionen ebenfalls kritisch sehen, oder die Linke, die die Sanktionen ganz abschaffen will, werden mit keinem Wort zitiert.

Vielleicht hatte Dirk Hoeren einfach keine Zeit mehr dafür, schließlich musste auch noch einen Kommentar schreiben — in dem er fordert:

Die Jobcenter sollten sich endlich mit voller Energie um die Willigen kümmern können. Um diejenigen, die sich aus der Hartz-Misere herausarbeiten wollen. (…) Hunderttausende Hartz-Bezieher wollen lieber eine Stelle statt Stütze. Genau denen gehört die volle Aufmerksamkeit.

Die von Dirk Hoeren natürlich ausgenommen.

Medienwandel, Medienkritik, Missbrauch

1. “#Lügenpresse: ‘Sagen Sie einfach die Wahrheit!'”
(watson.ch, Hansi Voigt)
Hansi Voigt hält eine Festrede zum Journalismus in Zeiten des digitalen Wandels: “Wenn alles zur Halbwahrheit wird, droht die Gefahr, dass immer die falsche Hälfte geglaubt wird. Und wenn ich niemandem mehr glauben kann, ist die Folge des Informationszeitalters nicht absolute Aufklärung, sondern absolute Ohnmacht.”

2. “Sterben, um zu leben?”
(gutjahr.biz)
Seinen Glauben daran, “dass wir das wieder hinbekommen mit dem Journalismus, der uns alle ernährt”, hat Richard Gutjahr verloren: “Ich bin mir sicher: Die großen Entlassungswellen stehen uns noch bevor. Und selbst wenn sich die Lage eines Tages wieder stabilisiert – es werden wohl kaum jemals wieder so viele Journalisten benötigt, wie einst, im goldenen Print-Zeitalter.”

3. “ARD und ZDF sehen rot”
(nzz.ch, Christoph Eisenring)
Auch Christoph Eisenring betrachtet den Medienwandel und beschreibt unter anderem Reaktionen auf die Forderung zur Abschaffung der Öffentlich-rechtlichen. “Die Krise des herkömmlichen Verlagsgeschäfts ist ein Beispiel für das, was der Ökonom Joseph Schumpeter als ‘kreative Zerstörung’ bezeichnet hat: Neue Ideen – auch von nicht gewinnorientierten Firmen – brechen sich Bahn, Altes wird verdrängt. Das ist kein ‘Systemfehler’, sondern notwendig, damit Neues entstehen kann.”

4. “Kritik der Kritik der Kritik”
(blog.dasmagazin.ch, Thomas Zaugg)
“Dieser Tage” sei jeder Journalist “ein twitternder Journalistenfresser”, klagt Thomas Zaugg, Medienkritik “oft das am schnellsten und am billigsten hergestellte Produkt”: “Wie finden wir den Ausgang aus dieser Matrix des Medienbashings? Wir sollten zuallererst die Verrichtungsboxen meiden und aufstehen gegen Arbeitsumstände, die uns in sie hineinzwängen. Und wir müssen den Empörungszyklus mit gezieltem Schweigen durchbrechen. Natürlich darf man andererseits nicht aufhören, ständig an sich selbst zu verzweifeln.”

5. “‘Breaking Bad’, ‘Lilyhammer’ & Co.: Über die Schwierigkeit, heutzutage Fernsehserien aus den USA zu besprechen”
(medienkorrespondenz.de, Dietrich Leder)
Dietrich Leder fragt nach dem idealen Zeitpunkt einer Besprechung: “Soll man über eine neue Serie schreiben, wenn sie zunächst bei einem der diversen Pay-TV-Sender zu sehen ist, die nur eine sehr eingeschränkte Zuschauerschaft haben? Oder soll man erst dann über diese Serie schreiben, wenn sie in einem frei zugänglichen Programm ausgestrahlt wird? Oder nur in dem Fall, wenn es sich dabei um ein Vollprogramm handelt?”

6. “Das Zurschaustellen der eigenen Kinder im Internet ist Missbrauch”
(tagesspiegel.de, Caroline Fetscher)
Caroline Fetscher hält die Publikation von Aufnahmen von Kindern für Missbrauch: “Wie würde man es als Erwachsener finden, wenn solche Szenen aus der Kinderzeit von einem selber weltweit abrufbar wären? Wie könnten juristische Langzeitfolgen aussehen, wenn die unfreiwillig zu digitalen Hofzwergen Gemachten eines Tages Entschädigung verlangen, oder immerhin Erklärungen für solches Vorgehen Erwachsener gegen Kinder, das klar gegen Artikel 1 des Grundgesetzes verstoßen dürfte.”

Leserreporter, IVW, Slow-TV

1. “Leser-Reporter sind eine Plage”
(heise.de, Sascha Steinhoff)
Sascha Steinhoff schreibt über Leserreporter: “Bild bewirbt die hauseigene Fotocommunty 1414 offensiv mit Verdienstmöglichkeiten. Seit dem Jahr 2006 hat die Bild eigenen Angaben zufolge 22.000 Bilder aus der Community im Print und Online veröffentlicht und dafür 3,2 Millionen Euro bezahlt. Für eine Veröffentlichtung gibt’s im Schnitt also rund 150 Euro, nicht wenige Profis verdienen mit einem Bild weniger. Der Leser-Reporter ist eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte für beide Seiten. Für besonders wertvolle Leserbeiträge hat die Bild neulich erst goldene Handys (iPhone, 699 Euro) ausgelobt.”

2. “Kein Ende in Sicht: die IVW-Tricks der Nachrichten-Websites”
(meedia.de, Jens Schröder)
Wie deutsche Nachrichtenseiten bei der IVW-Zählung fremde Seiten mitzählen lassen: “Das ist legal, für die Transparenz der Zahlen aber ärgerlich. Neuester Fall: Zeit Online nutzt das Spektrum der Wissenschaft, um Süddeutsche.de zu überholen.”

3. “‘Ich muss mich nicht rechtfertigen'”
(persoenlich.com, Roger Schawinski)
Roger Schawinski beobachtet, wie Journalisten reagieren, wenn sie selbst in die Kritik geraten: “Die meisten Journalisten sind es eben nur gewohnt, auf die Pauke zu hauen, wenn sie einer heissen Story hinterherhecheln. Wenn aber ausnahmsweise ihre Arbeit öffentlich hinterfragt wird, reagieren sie oft panisch, weil sie in ihrem Selbstverständnis eine solche Rolle nicht internalisiert haben. Sie sehen sich als Kritiker und nicht als persönlich Kritisierte.”

4. “Zahlreiche Medien berichten falsche Schlepperzahlen”
(kobuk.at)
Österreichische Medien berichten fälschlicherweise von einer Verzehnfachung von aufgegriffenen Syrern gegenüber 2013. Der Fehler stammt aus dem Schlepperbericht des Bundeskriminalamts.

5. “Jetzt mal langsam”
(freitag.de, Lennart Laberenz)
Der Erfolg von Slow-TV-Formaten in Norwegen: “Die Nationale Stricknacht vom Freitag, dem 1. November 2013, bis zum Abend des darauffolgenden Samstags verfolgten eine Million Zuschauer live. Zwei Wochen später sahen sich ebenso viele Zuschauer eine dreistündige Einführung ins Holzspalten und –lagern an.”

6. “Politik – wie sie wirklich ist”
(opinion-club.com, Falk Heunemann)
Falk Heunemann lässt sich von der Arbeit von Ben Bloom inspirieren.

E-Zigaretten, Mario Mandzukic, Roger Köppel

1. “Verification Handbook”
(verificationhandbook.com, englisch)
Ein Handbuch zeigt auf, wie man Bilder, Videos und Inhalte verifiziert und wie man bei der Berichterstattung über Katastrophen und Notfällen vorgeht.

2. “Stellungnahme zum Bericht über die e-Zigarette von Frontal 21 (ZDF)”
(ismokesmart.de)
Der E-Zigaretten-Händler iSmokeSmart beschäftigt sich mit dem Frontal21-Beitrag “E-Zigaretten: Warnung vor Chemiecocktail” (zdf.de, Video, 7:20 Minuten): “Im Gegensatz zu den ca. 4000 chemischen Verbindungen (hiervon ca. 270 giftig und 70 krebserregend) im Rauch einer herkömmlichen Tabak-Zigarette, beinhalten die Liquids der e-Zigarette selbst jedoch nicht einen einzigen krebserregenden Stoff in gesundheitsschädlicher Konzentration – und auch nicht der Dampf nach sachgemäßer Anwendung der e-Zigarette.”

3. “Präsent: Polizeigewerkschaften in den Medien”
(ndr.de, Video, 5:56 Minuten)
Ein Blick auf die Polizeigewerkschaften, die in den Medien regelmässig mehr Polizei fordern.

4. “Roger Köppels Auftrag”
(nzz.ch, Christina Neuhaus)
Ein Porträt von Journalist Roger Köppel, der im Herbst für die Schweizerische Volkspartei SVP in das Schweizer Parlament einziehen möchte.

5. “Jurgen Klopp to quit Borussia Dortmund on July 1 – as it happened”
(telegraph.co.uk, Ben Bloom, englisch)
Ein britischer Reporter ohne Deutschkenntnisse tickert live von einer Pressekonferenz des Fußballvereins Borussia Dortmund: “I’d love to tell you what Klopp is saying. He is saying a lot. But I can understand precisely none of it. So here’s a photo of him pouring some water instead.”

6. “Soccer star sports reverse Hebrew tat”
(timesofisrael.com, Stuart Winer, englisch)
Eine Tätowierung des Fußballers Mario Mandzukic: “Once the bizarre lettering had been sorted out, it emerged that the tattoo aimed to proclaim ‘What doesn’t kill me makes me stronger,’ although spelling errors rendered the actual translation closer to the grammatically awkward ‘Which doesn’t to kill me, makes me stronger.'” Siehe dazu auch “Hebrew or gibberish? Soccer star’s faulty tattoo appears straight out of Google translate” (haaretz.com, englisch).

“Tja, bald ist Tröglitz halt überall”

Was ist das beste Kraftfutter für “Bild”-Redakteure und ihre Leser, wenn sie sich mal wieder so richtig über das europäische Schmarotzertum aufregen wollen?

Viele Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien wären gut. Noch besser: Zuwanderer aus den beiden Ländern, die in Deutschland keinen Job finden. Am besten wäre aber ein riesiger Zuwachs von Hartz-IV-Rumänen und Stütze-Bulgaren.

Et voilà:

Die Zahl stimmt sogar. Im März hat die Bundesagentur für Arbeit berichtet (PDF), dass seit der kompletten Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgaren und Rumänen die Summe der Hartz-IV-Empfänger aus den beiden Ländern angestiegen ist: von 45.260 im Dezember 2013 auf 83.082 ein Jahr später.

Europa und Hartz IV? Das ist was für Dirk Hoeren, „Bild“-Chefkorrespondent für irre EU-Verordnungen und erfahrener “Hartz-IV-Inspektor”. Hoeren hat also seinen Taschenrechner gezückt, Schnappatmung bekommen und seinen Gemütszustand am Mittwoch vergangener Woche in ein Ausrufezeichen gepackt:

ein Plus von 83,6 %!

Auf diesen Wert kommt die Bundesagentur für Arbeit ebenfalls. Sie schreibt aber auch:

Bei der Bewertung der starken prozentualen Anstiege ist zu berücksichtigen, dass die absoluten Ausgangszahlen sehr klein sind […].

Dazu kommt: Hoeren lässt bei seiner “Bewertung” völlig außer Acht, dass im gleichen Zeitraum reichlich zugezogene Rumänen und Bulgaren einen Arbeitsplatz gefunden haben, oft sogar einen sozialversicherungspflichtigen (Stand Dezember 2014: 199.976). Das erfahren die Leser ganz am Ende von Hoerens Artikel zwar auch — wenn sie bis dahin vor lauter Empörung überhaupt durchgehalten haben.

Wie tendenziös die Wahl der 83,6-%-Schlagzeile ist, soll ein kleines Rechenbeispiel zeigen: Nehmen wir mal an, Dirk Hoeren schreibt im April zehn „Bild“-Artikel. In einem davon reißt er Zahlen so aus dem Zusammenhang, dass sie für seine Stimmungsmache gegen Rumänen und Bulgaren bestens passen. Im Mai darf Hoeren stolze 100 Artikel schreiben. Dieses Mal bekommt er es hin, in zweien davon die entscheidenden Zahlen wegzulassen, um wieder ordentlich gegen Zuwanderer zu wettern. Hat sich seine Hetzer-Quote jetzt um 100 Prozent gesteigert?

Natürlich nicht. Und so müsste die Rechnung zu den Hartz-IV-Empfängern aus Bulgarien und Rumänien auch anders aussehen: Als Basis müssten alle Bulgaren und Rumänen herangezogen werden, die in Deutschland leben. Und auf dieser Grundlage kann man dann den Anteil der Hartz-IV-Empfänger berechnen.

Das Ergebnis (PDF): im Dezember 2013 waren es 10,9 Prozent, im Dezember 2014 15,4 Prozent — ein sattes Plus von 4,5 Prozentpunkten. Damit machen Bulgaren und Rumänen gerade mal 1,4 Prozent aller in Deutschland lebenden Hartz-IV-Empfänger aus.

Für all diese mickrigen Zahlen war in Dirk Hoerens Artikel natürlich kein Platz mehr. Sonst hätte das Stimmungsbarometer womöglich auch nicht so schön eindeutig ausgesehen:

Und in welche Richtung diese Wut zielt, ist auch klar:

Tja, bald ist Tröglitz halt überall. Nur weiter so liebe Politiker!

Mit Dank an Mau Mue.

Show-Gipfel, Vice, Do Not Track

1. “Die Letzten machen das Licht aus”
(faz.net, Oliver Jungen)
Oliver Jungen besucht den “Show-Gipfel 2015” in Köln: “Hunderte zum Verwechseln ähnliche Formate werden zurzeit in einzelnen Märkten getestet. Es ist ein Graus.”

2. “Ebola-Kannibalen in Liberia”
(zeit.de, Felix Stephan)
Felix Stephan beschäftigt sich mit dem Erfolg von “Vice”: “Vice nimmt die Perspektive des regular dude ein, des normalen Typen, was jegliches Erkenntnisinteresse quasi im Vorhinein ausschließt, schließlich läuft der regular dude ständig Gefahr, durch plötzliche Verständnisschübe zu einem überdurchschnittlich informierten, enervierend differenzierenden irregular dude zu werden.”

3. “Nichtssagende Propagandaschau für Extrem-Spätgebärende”
(tagesspiegel.de, Richard Weber)
Richard Weber schaut die RTL-Sendung “Extra” zur Schwangerschaft einer 65-Jährigen: “Keine unpassenden Antworten dürfen die Idylle stören. 27,30 Minuten dauert diese Mutterkreuz-Propagandaschau für Extrem-Spätgebärende.”

4. “Leif Kramp: Öffentlich-rechtliche Inhalte brauchen Archivierungs-Pflicht”
(irights.info, Henry Steinhau)
Leif Kramp will die Öffentlich-rechtlichen verpflichten, ihre Inhalte “an eine externe Sammlungseinrichtung zur systematischen öffentlichen Überlieferungsbildung” abzuliefern. “Für die – freiwillige – Hinterlegung von Filmen ist das Bundesarchiv zuständig – immerhin. Doch für das Fernseh- und Radioerbe fühlt sich der Staat nicht verantwortlich, hier ist die Überlieferung im sprichwörtlichen Sinne auf Gedeih und Verderb den Sendern überlassen.”

5. “Es ist jedes Mal wieder unfassbar, wie viel Falsches die Bild in 36 Zeilen Text unterbringen kann”
(facebook.com, Thomas Kuhn)
Thomas Kuhn korrigiert einen kurzen “Bild”-Bericht.

6. “Do Not Track S01E01: Morgenrituale”
(donottrack-doc.com)
Siehe dazu auch “S01E02: Breaking Ad”.

Newtopia, Annegret R., Harald Welzer

1. “Scripted Entertainment: Talpa demontiert ‘Newtopia'”
(dwdl.de, Thomas Lückerath)
Die Sat.1-Sendung Newtopia: “Seit vergangener Nacht ist jetzt dokumentiert, was in der Branche ohnehin niemanden überrascht: In der Praxis ist ‘Newtopia’ Scripted Entertainment. Wenn das erklärte Ziel der Sendung darin bestand, zu erfahren, ob die für das Format ausgewählten Pioniere im Alleingang eine neue Gesellschaft aufbauen können, dann lässt sich an diesem 13. April sagen: Experiment gescheitert.”

2. “Vulkanasche auf das Haupt des ORF”
(kobuk.at, Moriz Büsing)
Die Nachrichtensendung “Zeit im Bild” berichtet über einen angeblich aktuellen Vulkanausbruch in Island: “Die Bilder sind zwar echt, aber schon ziemlich alt. Dasselbe Bildmaterial wurde schon im November 2014 auf Youtube veröffentlicht.”

3. “Wie RTL die Vierlings-Schwangerschaft vermarktet”
(tagesspiegel.de, Maria Fiedler)
RTL berichtet exklusiv über die Schwangerschaft einer 65-jährigen Frau: “Mit anderen Medien darf Annegret R. nicht sprechen, das ist vertraglich so vereinbart. Sprecher Bolhöfer bestätigte, dass es für Annegret R. einen ‘finanziellen Ausgleich, eine Aufwandsentschädigung’ gebe.”

4. “Journalismus – Dienst an der Gesellschaft”
(br.de, Video, 15 Minuten)
Teil 1 einer sechsteiligen Serie zur Medienethik mit Zuschauerinterviews, Immanuel Kant, Horst Köhler, dem “Spiegel”-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und dem Empörungsjournalismus.

5. “‘Journalisten hängen an Klickzahlen wie Junkies an der Nadel'”
(osk.de/blog)
Ein Interview mit Journalist Lars Wienand: “Aufgebauschte Un-Skandale in einer an Informationen überbordenden Welt führen zum Empfinden, dass ‘die Medienmenschen’ in einer abgehobenen Welt leben. Ich spreche hier nicht einmal von unsauberem Journalismus, sondern von Prioritätensetzung bei knappen Ressourcen.”

6. “‘Einfach mal Löcher in die Luft starren!'”
(berliner-zeitung.de, Joachim Frank)
Ein Interview mit Harald Welzer: “Wir bejubeln jede beschissene App oder den Fernseher, der auf Sprachkommandos reagiert. Aber zugleich sind wir empört über Angriffe auf unsere Privatsphäre, obwohl wir den Angreifern Tür und Tor öffnen. (…) Es wäre doch Micky-Maus-Denke, anzunehmen, dass eine Veränderung der Verhältnisse an einem so entscheidenden Punkt zu haben wäre, ohne einen Preis dafür zu bezahlen. Widerstand kostet. Schlimmstenfalls das Leben, wie wir aus der Geschichte wissen. Uns hingegen erscheint es schon als zu teuer bezahlt, wenn wir auf Whatsapp verzichten sollten. Obwohl wir wissen, dass wir uns mit jeder Message einer Totalüberwachung ausliefern.”

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