Archiv für April 22nd, 2015

Bild  

“Bild” braucht keine Erlaubnis für Opferfotos

Vor vier Wochen hat die „Bild“-Zeitung in ihrer Print- und Online-Ausgabe mehrere unverpixelte Fotos von Menschen veröffentlicht, die zwei Tage zuvor beim Absturz der Germanwings-Maschine in den Alpen gestorben waren. „Bild“ nannte auch ihre Vornamen, abgekürzten Nachnamen, in einigen Fällen auch ihre Wohnorte, Berufspläne, Hobbies und andere private Dinge.

(Alle Unkenntlichmachungen von uns.)

Als wir vom Axel-Springer-Verlag wissen wollten, ob die Angehörigen der Veröffentlichung zugestimmt hatten, verwies „Bild“-Sprecherin Sandra Petersen zunächst auf eine imaginäre Twitter-Diskussion der „Bild“-Chefs, inzwischen hat sie nach mehrfacher Nachfrage aber doch geantwortet. Sie schreibt:

Wir halten es für wichtig, die Opfer und ihre Geschichten abzubilden, nur so wird die Tragik deutlich und fassbar. Bei dem Flugzeug-Absturz handelt es sich um ein furchtbares zeitgeschichtliches Ereignis, in solchen Fällen halten wir es für möglich, Fotos von Betroffenen ohne explizite Einwilligung zu zeigen. Wir haben auf Fotos zurückgegriffen, die im medialen Umfeld oder im Umfeld der Trauer-Aktionen veröffentlicht wurden.

Heißt konkret: „Bild“ hat sich die Fotos bei Facebook besorgt oder irgendwo abfotografiert. Im Blatt selbst hieß es:

Gestern postete eine Freundin von […] dieses Foto …

Im Feuerwehrhaus der Stadt steht ein Bild des Verstorbenen …

Dieses Gruppen-Selfie der Verstorbenen wurden [sic] auf dem Marktplatz in […] aufgehängt …

Dieser Bilderrahmen […] steht in einem Versicherungsbüro auf dem Arbeitsplatz von …

Ob der Schreibtisch eines Verstorbenen zu seinem „medialen Umfeld“ oder zum „Umfeld der Trauer-Aktionen“ zählt, wissen wir allerdings nicht.

Immerhin, so schreibt die „Bild“-Sprecherin:

Dem vereinzelten Wunsch von Betroffenen, ihre Angehörigen nicht weiter abgebildet zu sehen, kommen wir nach.

Dann muss man sich also, wenn man zwei Tage zuvor ein Familienmitglied verloren hat, nur schnell durch die „Bild“-Redaktionen telefonieren und schon wird das Foto künftig nicht mehr gezeigt. Es ist dann zwar schon millionenfach gedruckt und auf der ganzen Welt herumgereicht worden, aber so ist das nun mal, wenn jemand ohne eigenes Zutun Teil eines Ereignisses wird, bei dem die „Bild“-Zeitung sich nicht in der Lage sieht, die Tragik ohne Opferfotos “fassbar” zu machen.

Übrigens: Als es um die Namensnennung des Co-Piloten ging, wurde „Bild“-Chef Kai Diekmann ja nicht müde, den Pressekodex zu zitieren:

Richtlinie 8.2 hat leider nicht mehr draufgepasst, darum reichen wir sie gerne nach:

Richtlinie 8.2 – Opferschutz
Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt.

Nachtrag, 8. Juli: “Bild” und Bild.de sind für die Veröffentlichung der Opferfotos vom Deutschen Presserat öffentlich gerügt worden.

Kakerlaken, Kinder, Care-Teams

1. “Die ‘Kakerlaken’ und wir”
(taz.de, Dominic Johnson)
“Sun”-Kolumnistin Katie Hopkins vergleicht Flüchtlinge mit Kakerlaken. Eine darauf lancierte Petition, sie zu entlassen, erhält über 200 000 Unterstützer. Siehe dazu auch “Katie Hopkins: Sun migrants article petition passes 200,000 mark” (guardian.com, John Plunkett, englisch).

2. “Bitte ein Care-Team für Journalisten”
(medienblog.blog.nzz.ch, Rainer Stadler)
Rainer Stadler wundert sich, wie Journalisten auf starken Einspruch reagieren: “Man ist fast schon versucht, ein Care-Team für die geschundenen Seelen anzufordern. Unter den Leidenden finden sich, wen wundert’s, auch solche, welche selber gerne hart austeilen, Personen beschiessen, Unwahrheiten verbreiten oder Aussagen verdrehen und zuspitzen, um besser draufhauen zu können. Schlimm ist das wohl nur, wenn es die andern tun.”

3. “Die Nierensteine waren nicht autorisiert”
(faz.net, Werner Mussler)
Der Start von Politico.eu: “Die Mitglieder der EU-Kommission und die Europaparlamentarier sehnen sich seit langem nach einem Medium wie ‘Politico Europe’. Sie beklagen, dass die traditionellen Medien nach den Bedürfnissen ihres jeweiligen Heimatlandes berichten, dass sie im Vergleich zur nationalen Politprominenz medial wenig präsent seien und dass keine europäische Öffentlichkeit existiere. Mancher Brüsseler Politiker meint, diese Öffentlichkeit lasse sich gewissermaßen herbeiinszenieren, wenn die Medien das nur wollten.”

4. “Fuck off, wenn Du nicht meiner Meinung bist”
(dondahlmann.de)
“Es ist ja ein Trend geworden, dass man jeden, der auch nur entfernt etwas anderes denkt, meint, sagt oder schreibt, sofort aus der eigenen Timeline und dem Leben entfernt”, stellt Don Dahlmann fest: “Dass man selber bestimmte Dinge in seiner Timeline nicht sehen oder lesen will – ok. Dass man andere aber ohne Diskussion dafür in Sippenhaft nimmt, hat etwas Totalitäres. Statt Fronten aufzulösen, baut man welche auf. Man teilt die Welt in Lager, in Schwarz und Weiß und verbarrikadiert sich hinter seinen Gedankentürmen, von denen man annimmt, dass nur man selber in der Lage ist, die reine Wahrheit zu erkennen. Das hat etwas religiöses, fällt mir, jetzt wo ich es schreibe, so auf.”

5. “Der Missbrauchsvorwurf zieht Schuld von Tätern ab”
(tagesspiegel.de, Susanne Mierau)
Die Debatte um das Zeigen von Kinderfotos im Internet: “Beschämende Bilder oder Videos von Kindern sind wie bei Erwachsenen unangebracht und auch Bilder von Kindern auf dem Töpfchen oder in schwierigen Situationen sind zu vermeiden. Denn tatsächlich ist ein solches Vorgehen, wie auch Frau Fetscher betont, unangebracht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Kinderbilder generell aus dem Internet verbannt werden sollten.”

6. “One of Monday’s Pulitzer Prize Winners Left Journalism Because It Couldn’t Pay His Rent. Now He’s in PR.”
(slate.com/blogs/moneybox, Jordan Weissmann, englisch)