Archiv für Mai 26th, 2014

Tina Turner erleidet Schlagzeilenanfall

Es ist die goldene Regel des Onlinejournalismus: Wenn die Konkurrenz über irgendwas Spektakuläres berichtet — erst mal abschreiben. Überprüfen kann man das ja später noch. Irgendwann. Vielleicht. Hauptsache, man hat die Geschichte auch.

Die über Tina Turner zum Beispiel:

Ihre gigantische Rock-Karriere hat sie längst an den Nagel gehängt, lebt ruhig und skandalfrei am Zürichsee. Doch jetzt die Schock-Nachricht: Tina Turner (74) hatte einen Schlaganfall.

Ihr österreichischer Freund und Fahrer Albert B. (58) verriet der MOPO, dass Tina Turner ihren geplanten Urlaub am Wörthersee in Kärnten absagen musste. Regelmäßig macht sie dort eine Schönheitskur – normalerweise. Denn, so der Vertraute: “Sie hatte einen leichten Schlaganfall, ist aber wohl auf dem Weg der Besserung.”

Diese “Schock-Nachricht” ist heute von den Schwesterblättern “Hamburger Morgenpost” und “Express” in die Welt gesetzt worden, und es dauerte nicht lange, bis sie auch bei Dutzenden anderen Medien zu lesen war:



So richtig überzeugt waren die Abschreiber vom Wahrheitsgehalt der Story zwar nicht, wie man an den vielen Fragezeichen und Konjunktiv-Konstruktionen und den Verweisen auf “Medienberichte” erkennen kann. Aber egal. Denn wie gesagt: Das Wichtigste ist, dass man es auch hat. Die Recherche kommt dann später. Vielleicht.

Einige Journalisten aus der Schweiz waren dagegen weit weniger faul vorschnell und fragten lieber mal bei der Agentur Richterich und Partner nach, die für Teile von Turners PR-Arbeit zuständig ist. Und dort erfuhren sie: Tina Turner plane gar keinen “Urlaub am Wörthersee”, wie die deutschen Medien behauptet hatten. Es gebe auch keinen Fahrer namens Albert B. Und vor allem habe die Sängerin keinen Schlaganfall gehabt. “Fakt ist, dass sich Tina bester Gesundheit erfreut”, sagte der Sprecher dem Schweizer Portal 20min.ch.

Gegenüber BILDblog hat die Agentur bestätigt, dass an der Schlaganfall-Geschichte nichts dran sei. Wie es zu der Falschmeldung gekommen ist, könne man sich auch nicht erklären. Nachgefragt habe bei ihnen jedenfalls keiner der deutschen Journalisten.

Inzwischen haben viele Medien ihre Berichterstattung immerhin korrigiert. Manche drehen die Sache auch klickträchtig weiter und sprechen jetzt von einem “Wirbel” um den Gesundheitszustand von Tina Turner. Andere — so wie mopo.de und express.de — haben ihre Artikel einfach gelöscht.

Nachtrag, 27. Mai: Die “Morgenpost” schreibt heute in einer kleinen Meldung: “Tina geht es gut”. Eine Erklärung oder Entschuldigung für ihre ursprüngliche Berichterstattung sucht man allerdings vergebens.

Und dann ist da noch die “Welt”, die heute verkündet:

Tina Turner erleidet Schlaganfall

Ihre Fans sind in großer Sorge um Tina Turner. Die 74-Jährige hat offenbar einen Schlaganfall erlitten. […]

Man könnte sich das selbst nicht ausmalen

Immer dann, wenn ein Mensch von einer Heuballen-Maschine zerschreddert wird oder sich beim Kitesurfen aus Versehen selbst erdrosselt, wenn jemand überfahren, ertränkt, vom Blitz erschlagen, erschossen, verbrannt, in Stücke gehackt oder auf eine andere brutale oder “bizarre” Weise getötet, verletzt oder gedemütigt wird, immer dann ärgert sich die “Bild”-Zeitung, dass sie nicht mit dabei war.

Aber sie weiß sich zu helfen. Statt grausamer Fotos gibt’s dann eben so etwas:

(Nachtrag, 13. September: Wir haben die erste Zeichnung — “Bauernsohn von Heumaschine zerschreddert” — ausgetauscht, weil sie vom Presserat missbilligt wurde.)

Immerhin kann man den “Bild”-Zeichnern nicht vorwerfen, sie würden sich keine Mühe geben. Beim “Express” dagegen, wo sie sich am Wochenende ebenfalls an einer Illustration versucht haben, wurden nicht nur die moralischen (sofern vorhanden), sondern gleich auch alle ästhetischen Ansprüche mit Schmackes über Bord geworfen:Ausriss:

Josef Joffe, Grundgesetz, Doppelwähler

1. “Leitartikler und Machteliten”
(heise.de/tp, Marcus Klöckner)
Josef Joffe, Herausgeber der “Zeit”, beschwert sich bei ZDF-Chefredakteur Peter Frey über einen Beitrag in der Satiresendung “Die Anstalt”. “Mit etwas mehr Ruhe und Sachlichkeit in der Diskussion könnte man nicht nur über die Frage deutscher Spitzenjournalisten und ihrer Nähe zu Eliten-Kreisen diskutieren, man könnte vielmehr auch eine für unsere Gesellschaft und vor allem: für unsere Demokratie nicht unerhebliche Frage stellen: Welche Einfluss haben die vielen Think Tanks, Stiftungen und machtelitären politischen Elite-Zirkel, in denen auch die Meinungsmacher der Leitmedien unterwegs sind, auf die Politik und unsere Gesellschaftsordnung?”

2. “Bekennender Doppelwähler”
(lawblog.de, Udo Vetter)
“Zeit”-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo in der Talkshow “Günther Jauch”: “Er habe, so Lorenzo, zwei Stimmen fürs EU-Parlament abgegeben. Einmal in einer Hamburger Grundschule, außerdem aber auch am Vortag im italienischen Konsulat.”

3. “Paneuropäische Medien? Macht’s euch doch selber!”
(derstandard.at, Wolfgang Blau)
Wolfgang Blau vermisst eine “starke journalistische Stimme” in Kontinentaleuropa: “Im globalen Ranking des Marktforschers Comscore kommen von den 25 weltweit meistgelesenen Nachrichtensites elf aus den USA, elf aus China und drei aus Großbritannien.”

4. “We used to read the newspaper, now the news reads us.”
(okfn.de, englisch)
Die Open Knowledge Foundation Deutschland zeigt, welche Websites beim Besuch einer Nachrichtenseite auch noch kontaktiert werden: “Visiting Facebook will only request data from Facebook’s own servers, while a visit to Die Welt or F.A.Z. will notify 59 and 55 different sites, respectively.”

5. “Kunstaktion mit kolonialistischem Elan”
(martin-lejeune.tumblr.com)
Martin Lejeune berichtet über eine “Kunstaktion, die sich als Initiative der Bundesregierung ausgibt”: “Eine gefälschte ‘Flüchtlingszulassungsstelle des Bundes’, die vorgibt zum Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Berlin zu gehören, behauptet, 55.000 Kinder aus Syrien nach Deutschland transportieren zu wollen.”

6. “Rede von Dr. Navid Kermani zur Feierstunde ’65 Jahre Grundgesetz'”
(bundestag.de, Navid Kermani)
Schriftsteller Navid Kermani hält eine Rede zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes: “Befragt, wann es Deutschland am besten gegangen sei, entschieden sich noch 1951 in einer repräsentativen Umfrage 45 Prozent der Deutschen für das Kaiserreich, 7 Prozent für die Weimarer Republik, 42 Prozent für die Zeit des Nationalsozialismus und nur 2 Prozent für die Bundesrepublik. 2 Prozent! Wie froh müssen wir sein, dass am Anfang der Bundesrepublik Politiker standen, die ihr Handeln nicht nach Umfragen, sondern nach ihren Überzeugungen ausrichteten.” Siehe dazu auch “Danke, Navid Kermani!” (zeit.de, Lenz Jacobsen).