Archiv für Januar, 2014

Parsifal, Fackellauf, Christian Wulff

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Die Absperrung in unseren Köpfen”
(queer.de, Norbert Blech)
Norbert Blech schreibt zur Berichterstattung über die Verhaftung eines Demonstranten am olympischen Fackellauf, so auch über unseren Text “Fackellauf und Fahnenfluch”. “Es ist natürlich in Ordnung, auf eine akkurate Berichterstattung zu pochen – und die Berichterstattung über LGBT in Russland ist gar nicht mal selten mangelhaft. Aber hier wird auf einer Petitesse herumgeritten, die an der eigentlichen Nachricht – Schwuler protestiert nicht grundlos gegen die homophobe Politik und Gesellschaft Russlands – nichts ändert.”

2. “Ein Star ist wunderbar!”
(tagesanzeiger.ch, Simone Meier)
Nach 16 Jahren beim gedruckten “Tages-Anzeiger” wechselt Simone Meier zum neuen Newsportal Watson.

3. “Wie die Presse Wulff zum Rücktritt zwang”
(cicero.de, Hans Mathias Kepplinger)
Hans Mathias Kepplinger offeriert eine alternative Deutung des Falls Christian Wulff: “Unter der Überschrift ‘Christian Wulff musste Uhr versetzen’ hätte stehen können: ‘Wulff zahlt seiner geschiedenen Frau und seiner Tochter 4.200 Euro Unterhalt im Monat. Deshalb hat er Schulden gehabt. Allerdings haben ihm gute Freunde aus der Klemme geholfen, darunter sein langjähriger Mentor, Egon Geerkens. Er hat ihm 90.000 Euro geliehen und einen günstigen Kredit für sein Haus vermittelt. Wulff hat Geerkens dafür seine Rolex und wertvolle Bücher als Sicherheit überlassen müssen’. Vermutlich hätten die Leser darauf ganz anders reagiert – mit Häme, Spott, Anteilnahme oder Respekt, aber kaum mit Ärger und Wut.”

4. “The Six Things That Make Stories Go Viral Will Amaze, and Maybe Infuriate, You”
(newyorker.com, Maria Konnikova, englisch)
Maria Konnikova untersucht die Frage, welche Aspekte Geschichten aufweisen, die häufig weiterverbreitet werden. “The irony, of course, is that the more data we mine, and the closer we come to determining a precise calculus of sharing, the less likely it will be for what we know to remain true. If emotion and arousal are key, then, in a social application of the observer effect, we may be changing what will become popular even as we’re studying it.”

5. “Zeitungsforscherin: ‘Nachfolgerfrage ist die Achillesferse der deutschen Verlage'”
(newsroom.de, Bülend Ürük)
Katharina Heimeier erforscht die Eigentümerstrukturen deutscher Zeitungsverlage: “Statt neue Konzepte zu entwickeln verwenden die Verleger alle Energie darauf, den Markt geschlossen zu halten, auf alten Privilegien zu beharren und hart zu sparen, um die gewohnten Renditen wenigstens halbwegs zu sichern.”

6. “Der Gralsraub von Bayreuth”
(faz.net, Christian Wildhagen)
Christian Wildhagen erinnert an den Januar 1914, als die urheberrechtliche Schutzfrist für die Oper “Parsifal” von Richard Wagner aufgehoben wurde: “Zu diesem Zeitpunkt war das Werk eine echte ‘Novität’. Lange vor Erfindung von Schallplatte, CD, DVD oder digitalem Streaming war ‘Parsifal’ in seiner Originalgestalt jahrzehntelang, seit der Uraufführung 1882, wirklich nur in Bayreuth zu erleben gewesen, wobei die strikte Exklusivität erst recht die Neugier schürte und das Stück zum sagenumwobenen Mysterium für wenige Auserwählte erhob.”

Watson, Bravo, Kim Jong-un

6 vor 9

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1. “Offener Brief zur ZDF-Doku ‘Jäger in der Falle'”
(blog.natuerlich-jagd.de, Max Götzfried)
Jäger Max Götzfried beurteilt die Dokumentation “Jäger in der Falle” (zdf.de, Video, 28 Minuten) in 30 Punkten. “Das mir gegebene Versprechen, neutral zu recherchieren und ausgewogen zu berichten, haben Sie meiner Ansicht nach nicht gehalten. Jäger können durchaus mit Kritik umgehen und sie kontern – wenn man sie lässt.”

2. “‘Bin dafür, keine Bilder mehr von Kim Jong-un zu zeigen'”
(derstandard.at, Teresa Eder)
Als Abnehmer von Bildern der staatlichen Bildagentur Nordkoreas finanzierten westliche Medien das Militärsystem indirekt mit, sagt Fotograf Luca Faccio. “Ich bin dafür, keine Bilder mehr von Kim Jong-un zu zeigen.”

3. “Das wundersame Wachstum der Print-Leser”
(meedia.de, Jens Schröder)
In den letzten vier Jahren stieg die Leserzahl von “Computer Bild Spiele” um 40’000. “Im selben Zeitraum – den vier Jahren zwischen den IVW-Quartalen IV/2009 und IV/2013 ging die verkaufte Auflage des Magazins aber um fast 63% (!) zurück. (…) Angesichts der Leserzahl von 2,04 Mio. müssten sich also im Durchschnitt etwa 20 Leute eine Computer Bild Spiele teilen. Wer soll solche Zahlen noch glauben?”

4. “Hat die renovierte ‘Bravo’ eine Zukunft?”
(ndr.de, Video, 6:29 Minuten)
Die verkaufte Auflage der Jugendzeitschrift “Bravo” sinkt von 620’000 (2003) auf 190’000 Exemplare (2013). Daran kann auch auch ein Relaunch und ein junges Redaktionsteam nichts ändern.

5. “Watson – ein Bild-HuffPost-Buzzfeed-Mix”
(ausgeheckt.com, Julian Heck)
Das neue Newsportal Watson präsentiere “klassischen Nachrichtenjournalismus”, “ein bisschen Buzzfeed-Style”, “Geschichten in grandioser Aufmachung”.

6. “Schlagzeilenbasteln (6)”
(topfvollgold.de, Moritz Tschermak)
Die “Hurra!”-Rufe des “Goldenen Blatts”.

Küss mich, wo die Sonne nie scheint

Peking und andere chinesischen Metropolen leiden mal wieder unter extremer Luftverschmutzung. Aber Smog Not macht ja bekanntlich erfinderisch:

Peking versinkt im Smog - Jetzt scheint die Sonne von Bildschirmen! - Am späten Nachmittag lässt die Regierung den Sonnenuntergang auf Bildschirmen untergehen

Smogalarm in Peking: Die 12-Millionen-Metropole versinkt in Abgasen. Sogar die Sonne kommt kaum durch den dichten Dunst. Die chinesische Regierung lässt bereits auf öffentlichen Bildschirmen und Displays die Sonne auf und untergehen.

Auch der “Express” berichtet …

Auf den großen Bildschirmen, die sonst für touristische Sehenswürdigkeiten werben, werden jetzt virtuelle Sonnenaufgänge gezeigt.

… ebenso wie Blick.ch

Damit die Bürger nicht vergessen, wie schönes Wetter aussieht, hat man nun auf den Bildschirmen am Platz des himmlischen Friedens in Peking die Bilder angepasst.

… die “Berliner Morgenpost”

So installierte die Regierung am Tiananmen-Platz eine riesige LED-Wand, um Licht ins derzeitige Dunkel der 20-Millionen-Einwohner-Metropole zu bringen.

… und “Spiegel Online”:

Ein gigantischer LED-Schirm auf dem Tiananmen-Platz in Peking zeigt einen virtuellen Sonnenaufgang. […] Die Menschen strömen mit Schutzmasken über Mund und Nase zu den großen Plätzen der Stadt, dorthin, wo große Bildschirme normalerweise touristische Sehenswürdigkeiten bewerben. Nur hier können die Chinesen in diesen Wochen einen Sonnenball erblicken.

Auch in internationalen Medien fand die kuriose Geschichte vom virtuellen Sonnenauf- bzw. -untergang (so ganz können sich die Journalisten da nicht einigen) reichlich Beachtung.

In die Welt gesetzt wurde die Meldung von der nicht gerade für ihre Zuverlässigkeit bekannte “Daily Mail”, was aber niemanden der abschreibenden Journalisten gestört hat. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass der “Daily Mail”-Reporter gar nicht in Peking sitzt, sondern in New York. Oder dass die Bildschirme schon seit 2009 auf dem Platz stehen. Oder das Logo der Touristen-Behörde der Provinz Shandong, das man bei etwas näherer Betrachtung unten rechts auf dem Bildschirm erkennen kann — und das nicht ohne Grund dort zu finden ist.

Denn das Sonnen-Video hat in Wirklichkeit einen ganz anderen Hintergrund, wie ein Journalist aus Peking berichtet:

Die Wahrheit ist, dass der Sonnenaufgang sicher weniger als zehn Sekunden zu sehen ist — als Teil einer Tourismus-Werbung für die chinesische Provinz Shandong. Die Werbung wird jeden Tag gespielt, das ganze Jahr über; unabhängig davon, wie schlimm die Verschmutzung ist. Der Fotograf hat das Foto einfach in dem Moment geschossen, als der Sonnenaufgang erschien.

(Übersetzung von uns.)

Der Autor verweist auf ein ähnliches Werbe-Video auf der offiziellen Tourismus-Website von Shandong, in dem ebenfalls viele Sonnenaufgänge zu sehen sind — und fährt fort:

Schande über alle Medien, die diese Farce verbreitet haben. China hat durchaus seine Probleme, doch die Medien haben bewiesen, dass sie viel zu sehr darauf aus sind zu kritisieren, nur um über den Schock-Faktor Klicks zu generieren. Pekings Verschmutzung ist schon schlimm genug ohne diese unehrliche Sensationsgier.

Time.com, “CBS News” und andere internationale Medien haben sich inzwischen korrigiert. Die deutschsprachigen Medien nicht.

Mit Dank an Lars A.

Nachtrag, 23. Januar: “Spiegel Online” hat den Text transparent korrigiert.

Blick, HNA, Freizeit Spass

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Warum merken die nichts?”
(topfvollgold.de, Moritz Tschermak)
Die Zeitschrift “Freizeit Spass” versucht, ein Statement der früheren Verlobten von Thomas Hitzlsperger einzuholen: “In 999.999 von einer Million Fällen geben die Regenbogenhefte ihren Berichterstattungsopfern null Chance zur Stellungnahme, bevor sie einen Kübel Schund über sie ausgießen. Und ausgerechnet dann, wenn sie jemanden mit ihren dämlichen Fragen am besten einfach in Ruhe lassen sollten, rufen sie an oder schreiben eine Mail.”

2. “‘Blick’ blitzt vor Bundesgericht ab”
(persoenlich.com)
“Blick” verliert in letzter Instanz gegen Sänger Michael von der Heide und muss ihm eine Genugtuung von 5000 Franken bezahlen: “Laut Gericht hat der ‘Blick’ von der Heide öffentlich der Lächerlichkeit preisgegeben und ihn als Homosexuellen sowie für seinen Misserfolg als Sänger verhöhnt.”

3. “Liebe Fans des BVB”
(facebook.com/BVBorussiaDortmund09)
Fußball: Borussia Dortmund dementiert verschiedene angebliche Zitate ihres Spielers Marco Reus: “Wir sind übrigens froh über jeden einzelnen Journalisten, der heute Morgen das Telefon in die Hand genommen und gefragt hat: ‘Könnt Ihr uns bestätigen, dass dieses Zitat so gefallen ist?’ Unsere Antwort war stets dieselbe: Nein.”

4. “Sit Back, Relax, and Read That Long Story—on Your Phone”
(theatlantic.com, Megan Garber, englisch)
Megan Garber beschäftigt sich mit dem Leseverhalten der Nutzer von Mobiltelefonen.

5. “Start-ups im US-Journalismus: Sei das Medium!”
(carta.info, Christian Fahrenbach)
Unterschiede zwischen Journalistenschulen in Deutschland und in den USA: “Der Gedanke, selbst das Medium zu werden, steht seltener auf dem Lehrplan – dabei ist gerade das leichter als je zuvor.”

6. “Anklage gegen HNA-Redakteure”
(lokalzeitungskritik.de, L. Kiepe)
Zwei Redakteure der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen sind angeklagt, unerlaubterweise aus Ermittlungsakten zitiert zu haben. Die beteiligten Journalisten seien zu loben, findet Lukas Kiepe: “Mit ungebrochenem Elan, Ausdauer und schier unerschöpflicher Geduld berichtet die Kasseler Lokalzeitung seit Jahren über Missstände in der Justizvollzugsanstalt Wehlheiden.”

Post aus Karlsruhe

Das Bundesverfassungsgericht muss sich zwar öfter mal mit Härtefällen herumschlagen, doch vor Kurzem kam es so richtig dicke für die obersten Richter. Denn diesmal ging es um die gedruckten Gedanken von Franz Josef Wagner.

Der Brief, mit dem sich das Gericht befasst hat, stammt aus dem Jahr 2007 und richtete sich an die “Liebe Latex-Landrätin” Gabriele Pauli. Kurz zuvor war in der (inzwischen eingestellten) “Park Avenue” eine Fotoserie erschienen, in der die ehemalige CSU-Landrätin mit Lackhandschuhen posierte. Das gefiel Wagner ganz und gar nicht. Er schrieb:

Die Fotos sind klassische Pornografie. Der pornografische Voyeur lebt in der Qual, Ihnen die Kleider vom Leib zu reißen. Kein Foto löst in mir den Impuls aus, Sie zu lieben bzw. zärtliche Worte mit Ihnen zu flüstern. Kein Mann liebt eine Frau in einem Porno-Film.

Er fragte: “Warum machen Sie das? Warum sind Sie nach Ihrem Stoiber-Triumph nicht die brave, allein erziehende Mutter geblieben?” — und antwortete selbst:

Ich sage es Ihnen: Sie sind die frustrierteste Frau, die ich kenne. Ihre Hormone sind dermaßen durcheinander, dass Sie nicht mehr wissen, was wer was ist. Liebe, Sehnsucht, Orgasmus, Feminismus, Vernunft.

Sie sind eine durchgeknallte Frau, aber schieben Sie Ihren Zustand nicht auf uns Männer.

Pauli klagte gegen diese Äußerungen und bekam in erster Instanz recht: Das Landgericht Traunstein entschied 2012, Wagner habe in seinem Brief die “Grenze zur Schmähkritik” überschritten. Eine Geldentschädigung bekam Pauli aber nicht zugesprochen.

Nachdem beide Parteien Berufung eingelegt hatten, wies das Oberlandesgericht München Paulis Klage im Herbst 2012 jedoch ganz ab: Wagners Äußerungen seien von der Meinungsfreiheit gedeckt, begründeten die Richter.

Das sieht man in Karlsruhe anders. Nach Ansicht der Verfassungsrichter handelt es sich bei dem Brief “um einen bewusst geschriebenen und als Verletzung gewollten Text”. Wagner ziele mit seinen Formulierungen bewusst darauf ab, Pauli “nicht nur als öffentliche Person und wegen ihres Verhaltens zu diskreditieren, sondern ihr provokativ und absichtlich verletzend jeden Achtungsanspruch gerade schon als private Person abzusprechen”. Daher könne sich hier “die Meinungsfreiheit nicht durchsetzen”.

Das Oberlandesgericht muss nun erneut über den Fall entscheiden.

Mit Dank auch an Christos, Mirko V. und Felix R.

AP  etc.

Fackellauf und Fahnenfluch

Beim olympischen Fackellauf in Russland ist am Wochenende ein Mann festgenommen worden. Den Grund dafür beschreibt die Nachrichtenagentur AP so:

Ein homosexueller Aktivist ist bei dem Staffellauf mit der olympischen Fackel in Russland festgenommen worden, weil er eine Regenbogenfahne zeigte. Von seinen Freunden ins Internet gestellte Fotos zeigen Pawel Lebedew, wie er die Fahne herausholt und dann von Sicherheitsleuten überwältigt wird.

Viele deutsche Medien griffen die Meldung auf:
Schwuler Demonstrant bei Olympia-Fackellauf festgenommen - Bei einem Staffellauf mit der olympischen Fackel ist ein homosexueller Aktivist festgenommen worden. Er hatte am Rande der Strecke eine Regenbogenfahne gezeigt.

(Screenshot: abendblatt.de)

In den Artikeln entsteht der Eindruck, als hätten die Sicherheitskräfte den Mann plötzlich in der Menge entdeckt und sofort festgenommen — nur “weil er eine Regenbogenfahne zeigte.”

Was der Leser aber nicht erfährt: Es gibt noch mehr Fotos von dem Vorfall. Und die legen einen etwas anderen Schluss nahe. Denn der Aktivist hat die Flagge nicht etwa nur “am Rande der Strecke” gezeigt, sondern die Absperrung durchbrochen:Screenshot: https://vk.com/wall-38905640_219636?&offset=20Screenshot: https://vk.com/wall-38905640_219636?&offset=20Screenshot: https://vk.com/wall-38905640_219636?&offset=20Screenshot: https://vk.com/wall-38905640_219636?&offset=20

Auch eine Sprecherin der Aktivistengruppe erklärte später:

“[Lebedew] wurde festgenommen, weil die Straße für den Fackellauf gesperrt war und niemand vor die Absperrung durfte.”

(Übersetzung von uns.)

Die Regenbogenflagge war in diesem Fall also offensichtlich doch nicht der (alleinige) Grund für das Einschreiten der Sicherheitsleute — auch wenn so etwas durchaus zu Putins Umgang mit Homosexuellen passen würde.

Mit Dank an Uwe S.

Nachtrag, 23. Januar: Queer.de hat sich kritisch mit unserem Beitrag auseinandergesetzt: “Die Absperrung in unseren Köpfen”

Kabul, Todesspiel, Expertenwesen

6 vor 9

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1. “Der 2014-Reflex”
(blog.zeit.de/kabul, Ronja von Wurmb-Seibel)
Der Anschlag auf das Restaurant Taverna in Kabul. “‘Mehrere Deutsche in Kabul getötet’, lese ich im Google-Teaser von faz.net. Ich erschrecke. Weil es bedeuten würde, dass ich wahrscheinlich einen der Toten kenne.”

2. “Das Internet ist nicht kaputt”
(faz.net, Oliver Georgi)
Oliver Georgi antwortet auf einen Artikel von Sascha Lobo: “Durch Edward Snowden, das ist sein großes Verdienst, ist Sascha Lobo, sind wir alle lediglich in der digitalen Realität angekommen.”

3. “Das Ende der allwissenden Fachleute”
(netzwertig.com, Martin Weigert)
“Das Internet ist mitverantwortlich dafür, dass das Expertenwesen heute stärker in Frage gestellt wird als im vergangenen Jahrhundert”, schreibt Martin Weigert. “Die Öffentlichkeit hat gelernt, dass ein Dr. oder ein Prof. vor dem Namen genauso wenig den Wahrheitsgehalt einer wissenschaftlichen Feststellung oder einer scheinbar fundierten Prognose garantiert wie Dekaden in einer bestimmten Branche.”

4. “Schlüpfrige Panne bei SRF-Untertiteln”
(werbewoche.ch)
Die Sendung “Sport Aktuell” des Schweizer Fernsehens wird mit Untertiteln des Spielfilms “Jungfrau (40), männlich, sucht” ausgestrahlt.

5. “Es wird nicht lange dauern”
(freitag.de, Matthias Dell)
Matthias Dell bespricht die “Tatort”-Folge “Todesspiel”: “Das Schwierige bei diesem allerhöchsten Lob, das auf Todesspiel formuliert werden muss, ist die Frage: Wo anfangen?”

6. “Der Mann aus dem Wald”
(fr-online.de, Gesa Fritz)
Ein Mann, der seit zwei Jahren in einem Wald bei Wiesbaden lebt: “Paul H. investiert viel Zeit, um den Schein zu wahren. Er ist bekannt in der Stadt, niemand soll sein Scheitern auch nur erahnen. Er erzählt, wie er im Wald seine Wäsche schrubbt, sie an Kleiderbügeln trocknet. ‘Nass aufgehängt, unten mit Gewichten beschwert, wird sogar mein lachsfarbenes Hemd glatt.'”

Bascha Mika, Fleischbällchen, Reddit

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1. “Bascha Mika wird 60: Frau Chefredakteur”
(blogs.taz.de, Dirk Knipphals)
Dirk Knipphals gratuliert Bascha Mika zum 60. Geburtstag: “Das Klischee besagt, dass erst sie in dem genial-chaotischen Haufen der tazler professionelle Strukturen und Hierarchien eingeführt hat. Sie selbst weiß es besser. In einem Fernsehinterview mit dem Journalisten Hajo Schumacher sagte sie, dass die Redaktion selbst auf der Suche danach war, sich funktionierende Hierarchien zu geben.”

2. “Wie Markus Lanz ein paar Mal bei der ‘schönsten Linken aller Zeiten’ einhaken musste”
(stefan-niggemeier.de)
Sahra Wagenknecht bei Markus Lanz. “Es war, als würde man versuchen, eine inhaltliche Diskussion mit einem Sechsjährigen zu führen, der als Argumente zweihundert Fleischbällchen in Tomatensoße hat und bereit ist, jedes einzelne abzufeuern.”

3. “Sind Blogs das Dschungelcamp des Journalismus?”
(scienceblogs.de/astrodicticum-simplex, Florian Freistetter)
“Verstehen, dass viel Journalisten Angst davor haben, öffentlich Fehler zu machen”, kann Florian Freistetter. “Aber ich sehe eigentlich keinen Grund, wieso man deswegen nicht bloggen sollte. Man muss sich nur klar machen, dass ein Blog ein völlig anderes Medium ist als eine gedruckte Zeitung.”

4. “Die selbsternannte Titelseite des Internets”
(sueddeutsche.de, Hakan Tanriverdi)
Hakan Tanriverdi stellt Reddit vor, jene Website, die “pro Monat mehr als dreimal so viele Besucher hat wie die New York Times online, ziemlich genau 100 Millionen Menschen”.

5. “‘Merkel setzt sich niemals auf ein Moped'”
(stern.de, Johannes Dudziak)
“Weshalb sind unsere Spitzenpolitiker so leistungsfixiert, so kontrolliert, so konturlos?”, fragt Johannes Dudziak. “Heute dominieren dort weiße, männliche Juristen, die in ihrem Leben nie etwas anderes gemacht haben als Politik. Gut funktionierende Maschinen, die einen ähnlichen Auswahlprozess überstanden haben wie die Kollegen aus dem Showgeschäft.”

6. “Messer, Gabel, Schere, Licht – sind für kleine Kinder”
(dasnuf.de)
Dasnuf lässt ihre Kinder “im Großen und Ganzen alles im Haushalt machen, was sie machen wollen.”

Abenteuer Wege, Kundendaten, Oradour

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1. “Die dumpfe Seite des BILD-Journalismus – Primitive Berichterstattung über ein NS-Verfahren ohne rechtsstaatliches Augenmaß”
(strafblog.de, Rainer Pohlen)
Rainer Pohlen vertritt einen 88-Jährigen, dem “die Beteiligung am Massaker von Oradour vorgeworfen wird”. “‘Trotz der Anklage geht der Scherge seinem geregelten Alltag nach’, heißt es in dem BILD-Beitrag, und weil das offensichtlich von besonderem Interesse für die Öffentlichkeit ist, wird dann genüsslich aufgezählt, welche Lebensmittel der alte Mann im Supermarkt für 23,03 Euro eingekauft hat. Haben die noch alle Tassen im Schrank, frage ich mich da. Was hat das mit dem Tatvorwurf zu tun? Wir schauen doch auch nicht in den Kühlschrank irgendwelcher Bildzeitungsfuzzies.” Siehe dazu auch den Beitrag “Riesiges Medieninteresse an Oradour-Verfahren – Abmahnung an BILD geschickt”.

2. “Datenleck legt Kundendaten von ‘Kurier’ und ‘Krone’ offen”
(derstandard.at, Markus Sulzbacher)
Software-Entwickler Roman Ranzmaier stösst auf ungeschütze Kundendaten, siehe dazu den Beitrag “Hundertausende Kundendaten von Krone und Kurier ungeschützt im Netz verfügbar” (ranzmaier.at).

3. “Urlaubswelt ohne Sponsor”
(dradiowissen.de, Nail Al Saidi, Audio, 7 Minuten)
Das Reisemagazin “Abenteuer Wege” profiliert sich mit unabhängigen Reisejournalismus.

4. “Der Dschungelcamp-Effekt. Oder warum Journalisten Angst vorm Bloggen haben”
(lousypennies.de, Karsten Lohmeyer)
Bloggen als Journalist berge auch die Möglichkeit der Selbstentblößung, schreibt Karsten Lohmeyer: “Ich enthülle plötzlich, dass meine angeblich so gute Schreibe der letzten Jahre der Arbeit eines guten Textchefs zu verdanken ist. Und dass ich es schaffe, orthografisch und grammatikalisch fehlerfreie Texte zu schreiben, nur der Arbeit von Schlussredakteuren, den leider viel zu wenig gewürdigten Textrettern unserer Branche, zu verdanken ist.”

5. “‘Ein fester Job wäre ein Ausschlusskriterium'”
(sueddeutsche.de, Matthias Kohlmaier)
Micky Beisenherz, einer der Autoren der heute startenden RTL-Sendung “Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!”, im Interview: “Ich halte die Teilnehmer auch nicht für Opfer, wie das immer wieder zu lesen ist. Die wissen alle, was sie tun und werden ziemlich ordentlich dafür bezahlt.”

6. “Super-Symbolfoto (100)”
(stefan-niggemeier.de)

Journalistische Handtaschenspielertricks

Am Montag hat die grüne Bundestagsabgeordnete Tabea Rößner ihre Handtasche am Frankfurter Flughafen vergessen. Sie bemerkte das erst, als sie im Flugzeug saß und die Türen schon verschlossen waren. Sie hatte aber Glück: Der Start des Flugzeuges verzögerte sich wegen Nebel. Der Kapitän entschied, dass noch genügend Zeit sei, um die Tasche an Bord bringen zu lassen. So geschah es.

Klingt spontan nicht nach einer Geschichte, die die Republik in Wallung bringt? Weit gefehlt.

Der Hauptstadt-Korrespondent des “Berliner Kurier” erzählt die Geschichte nämlich anders: als einen Aufreger über die unglaublichen Privilegien, die deutschen Politikern zuteil werden — auf Kosten der normalen Bevölkerung:

Lufthansa-Flieger stoppt für Politikerin

(…) Grünen-Politikerin stoppt Lufthansa-Flugzeug! Klingt unglaublich, ist aber wahr.

In größter Ausführlichkeit schildert er, wie die Menschen in der Maschine saßen, wie alles bereit zu sein schien zum Start, wie die Gangway zurückgefahren und das Schleppfahrzeug eingehakt gewesen sei. Doch plötzlich:

Doch plötzlich wirbelt in der Businessklasse Tabea Rößner (47) mit den Händen durch die Luft und ruft um Hilfe. (…) Ihre Handtasche ist weg.

In noch größerer Ausführlichkeit schildert der “Berliner Kurier” nun, wie die Politikerin mit dem Bordpersonal verhandelt habe, wie ein Flughafen-Mitarbeiter ins Terminal geeilt sei, wie der “Taschen-Retter mit einem Steigerfahrzeug an die Tür” gebracht worden sei, “an der normalerweise das Bord-Essen angeliefert wird”.

Er lässt keinen Zweifel, dass die zwanzig Minuten Verspätung dadurch entstehen, dass Rößners Tasche besorgt werden musste:

Taschen-Gate am Gate!

Dabei weiß es der “Kurier” besser. Gegen Ende des Artikels zitiert er unauffällig in einem Nebensatz, dass laut Rößner “die Verspätung auch schon wegen einer fehlenden Starterlaubnis erfolgt sei”. Und fügt hinzu, dass die Lufthansa das bestätigt: Die Verspätung sei “aufgrund des zugewiesenen Zeitfensters” erfolgt.

Diese Tatsachen haben die “Kurier”-Leute aber ausgeblendet, um die Geschichte von einer Politikerin, wegen deren Schusseligkeit ein Flug gestoppt wird, erzählen zu können.

Bis hierher ist es eine Geschichte über den “Berliner Kurier” und seiner Schwesterblätter “Express” und “Morgenpost”, die sie übernehmen.

Aber dabei bleibt es natürlich nicht.

Bild.de steigt ein:

Ohne Rückfrage bei Rößner übernimmt Bild.de die Darstellung des “Berliner Kurier”, ergänzt sie um ein paar weitere falsche Details und spricht von einer “peinlichen Anekdote”.

Nun kopiert die “Rhein-Zeitung” die Geschichte* und bringt sie online unter der Überschrift:

Flieger wartete: Mainzer Abgeordnete bekommt vergessene Handtasche gebracht

Erst später — laut Rößner nach einem Anruf von ihr — wird sie geändert zu:

Flieger wartete ohnehin: Mainzer Abgeordnete bekommt vergessene Handtasche in Flieger gebracht

Die “Mainzer Allgemeine” und der Landesdienst der Nachrichtenagentur dpa machen etwas Ungeheures: Sie rufen in Rößners Büro an und fragen nach. Die “Mainzer Allgemeine” veröffentlicht daraufhin einen ausführlichen Artikel; dpa beschließt vorläufig, dass die Geschichte kein Thema ist.

Andere Medien verzichten auf Recherche und steigen unter Verweis auf den “Berliner Kurier” in den Ring. Darunter sind die Online-Auftritte von “Focus”

“Bunte”

… und “Rheinischer Post”:

Schließlich schaltet Rößner einen Anwalt ein, der unter anderem erreicht, dass Bild.de den Artikel löscht.

Von den anderen Medien will Rößner nun eine Unterlassungserklärung fordern.

*) Nachtrag/Korrektur, 17:00 Uhr. Die “Rhein-Zeitung” widerspricht unserer Formulierung, sie habe die Geschichte “kopiert”. Der Autor sagt, er habe vor der Veröffentlichung bei der Lufthansa nachgefragt und von Anfang an im Artikel erwähnt, dass die Maschine wegen des Nebels wartete.

Nachtrag, 17. Januar. “Focus Online” hat die Meldung nun einfach gelöscht; “RP-Online” hat sie überarbeitet.

Nachtrag, 15:30 Uhr. Nun hat auch der “Berliner Kurier” seine Geschichte gelöscht.

Nachtrag, 21. Januar. Inzwischen hat auch Bunte.de die Falschmeldung ohne Erklärung entfernt.

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