Archiv für Februar, 2013

dpa, n-tv.de  etc.

Die Nichtzahlen nichtzahlender Piraten

Die größten Schlagzeilen sind Nachrichten, die sehr unwahrscheinlich sind. Das Problem ist nur, dass Nachrichten, die sehr unwahrscheinlich sind, oft auch gar nicht stimmen.

Die Nachricht, die die Agentur dpa am heutigen Sonntagmorgen über die Ticker schickte, klang sehr unwahrscheinlich: In Niedersachsen gebe es in der Piratenpartei nur noch zwei Menschen, die ihren Mitgliedsbeitrag zahlen. In Bayern und Baden-Württemberg sei der Anteil der zahlenden Mitglieder innerhalb eines guten Jahres “dramatisch” gefallen: von über 50 Prozent auf sechs bis sieben Prozent.

Inbesondere die Angaben über Niedersachsen wären ein guter Anlass gewesen, die dpa-Zahlen zu bezweifeln, denn bei den Piraten sind nur zahlende Mitglieder stimmberechtigt, und in Niedersachsen hat gerade erst vor vierzehn Tagen ein Parteitag stattgefunden — mit offenkundig mehr als zwei Stimmberechtigten.

Quelle für die dpa-Meldung war eine Aufstellung der Piraten im Internet, aus der sich auch scheinbar ergab, dass in Bremen kein einziger Pirat seine Mitgliedsbeiträge zahlte.

Allerdings stand über der Tabelle auch ein etwas kryptischer Hinweis, der der Agentur und den Medien vielleicht eine Warnung hätte sein sollen:

Diese Zahlen beruhen auf (noch nicht bearbeiteten) Anträgen und den schon eingepflegten Mitgliedsanträgen der Landesverbände.

Inzwischen hat die Partei den Hinweis deutlich erweitert. Jetzt lautet er:

Diese Zahlen beruhen auf (noch nicht bearbeiteten) Anträgen und den schon eingepflegten Mitgliedsanträgen der Landesverbände. An jedem 01.01. eines Jahres setzen wir den Stand der stimmberechtigten Mitglieder wieder auf “0” weil dann ein neues Jahr beginnt und damit laut Satzung die Stimmberechtigung für Mitglieder vorerst nicht gegeben ist.

Die Mitglieder zahlen in der Regel ab Dezember und im ersten Quartal regelmäßig ihren Beitrag auf unsere Konten ein. Sobald die Schatzmeister diesen Eingang in unserer zentralen Buchhaltung buchen, sehen wir intern den aktuellen Stand unserer stimmberechtigten Mitglieder. Unsere Schatzmeister arbeiten ehrenamtlich, in der Regel sind sie im Frühjahr noch damit beschäftigt, das Vorjahr ordnungsgemäß zu buchen. Diese Buchungen sind für unsere Schatzmeister aktuell vorrangig, bevor sie die Mitgliedsbeiträge im laufenden Jahr buchen, damit der Abschluss des Vorjahres fertiggestellt werden kann.

“Spiegel Online” hatte am Morgen die falsche dpa-Meldung übernommen, aber nach Hinweisen auf Twitter schnell selbst recherchiert und transparent korrigiert. Aus der Überschrift “Schlechte Zahlungsmoral: Mehrheit der Piraten zahlt Mitgliedsbeitrag nicht” wurde “Fehlende Jahresbeiträge: Verwirrung um Zahlungsmoral der Piraten”.

Die Bundesschatzmeisterin Swanhild Goetze veröffentlichte noch am Vormittag eine Erklärung.

Die Agentur dpa verabschiedete sich nur zögernd von ihrer Berichterstattung. Um 11:23 Uhr warnte sie ihre Kunden:

Der Bundesverband der Piratenpartei hat in Medienberichten angegeben, dass die im Internet verbreitete Aufstellung über die Zahl der Mitglieder nicht aktuell ist. Diese Angaben waren Ausgangspunkt der dpa-Umfrage “Piraten leiden unter dramatischem Schwund zahlender Mitglieder”. dpa bietet schnellstmöglich eine klärende Berichterstattung an.

Erst um 12:59 Uhr rief sie ihre Meldung zurück. In einer Neufassung um 14:42 Uhr heißt es nun:

Bei Piraten zeichnet sich sinkende Zahlungsmoral ab

Berlin (dpa) – In mehreren Landesverbänden der Piratenpartei zeichnet sich ein Schwund zahlender Mitglieder ab. Nach einer Umfrage der Nachrichtenagentur dpa unter den Verbänden schlagen sich die Querelen in der Bundesspitze teilweise auch auf die Zahlungsmoral der stimmberechtigten Mitglieder nieder. “Die Tendenz ist klar”, hieß es am Sonntag aus Kreisen der süddeutschen Landesverbände. (…)

Die Bundespartei bestritt am Sonntag, dass sich aus den ins Internet gestellten Mitgliederzahlen ein Trend zum Rückgang ablesen lasse. Nach dieser Statistik wäre die Zahl der zahlenden Mitglieder von 60 Prozent Ende 2011 auf etwa ein Drittel Anfang 2013 gefallen. Es handele sich jedoch nur um Arbeitsstände der Landesverbände, aus denen sich nicht schließen lasse, wieviele Mitglieder aktuell ihre Beiträge bezahlt hätten und damit stimmberechtigt seien, sagte Bundesschatzmeisterin Swanhild Goetze der dpa.

Doch nicht alle Medien, die die dpa-Meldung übernommen hatten, wollten sich wieder von den aufregenden Zahlen verabschieden. So referiert n-tv.de erst das Dementi der Piraten, behauptet dann aber unberirrt:

Der größte Landesverband in Bayern hat 6835 Mitglieder – 2500 mehr als Ende 2011. Davon zahlten aber nur noch 470 Beiträge. Das sind noch 7 Prozent der Mitglieder. (…)

Düstere Zahlen verzeichnen auch die Piraten in Baden-Württemberg. Gerade mal 6 Prozent der Mitglieder zahlen noch ihren Beitrag. (…)

In Niedersachsen ist es in Sachen Finanzen noch schlimmer: Von den 782 Zahlern 2011 sind noch ganz 2 übrig geblieben.

Dass das nicht stimmt, ist für n-tv.de kein Grund, es nicht mehr zu behaupten.

Mit Dank an Christian N.

Nachtrag. n-tv.de hat den Artikel überarbeitet und um den Text ergänzt:

An dieser Stelle wurde ursprünglich gemeldet, dass der Anteil der zahlenden Mitglieder von 60 Prozent (Ende 2011) auf etwa ein Drittel (Anfang 2013) gefallen sei. Diese Information ist falsch. Sie beruhte auf einem Missverständnis der im Internet aufgeführten Mitgliederstatistik.

Die Jagd nach der nackten Wahrheit

Als die Österreicherin Natascha Kampusch im Sommer 2006 nach achtjähriger Gefangenschaft plötzlich wieder auftauchte, begann im deutschsprachigen Journalismus eine Jagd. Eine völlig groteske Jagd, die nur ein einziges Ziel hat: Die Antwort auf die Frage, ob Natascha Kampusch Sex mit ihrem Entführer hatte.

Die Jagd beginnt im Jahr 2006. Am 23. August erfährt die Welt, dass das Mädchen wieder aufgetaucht ist. Acht Jahre lang war sie verschwunden, gefangengehalten von Wolfgang Priklopil, der sich noch am Tag ihrer Flucht das Leben nimmt. Jetzt ist sie frei und wohlauf, es ist eine Sensation. Überall auf der Welt berichten Medien über den spektakulären Fall aus Österreich. Und bereits zwei Tage später wird deutlich, was einige daran am allermeisten interessiert:

(…) Vielleicht hat er das Mädchen zu seiner Sex-Sklavin gemacht, vermuten österreichische Medien.

“Bild”, 25.08.2006

***

(…) HAT DER KIDNAPPER SEIN OPFER SEXUELL MISSBRAUCHT?

“Aus meiner Sicht, ja”, meint die Polizistin. “Aber Natascha ist das noch nicht bewusst. Sie sagt, sie hat immer alles freiwillig gemacht.”

“Bild”, 25.08.2006

***

(…) Die Beamtin geht auch davon aus, dass das Mädchen sexuell missbraucht worden ist – “doch das ist ihr nicht bewusst, sie ist der Meinung, es freiwillig gemacht zu haben”. Natascha schilderte auch den Tagesablauf in Gefangenschaft: Sie frühstückte mit der Sex-Bestie, musste im Haushalt helfen.

***

Seine Sklavin – Sie musste für ihn putzen. Er forderte auch Sex von ihr

(…) Was spielte sich im Keller ab? Eine Polizistin sagt, sie glaube, dass Priklopil Natascha zum Sex zwang: “Aber sie sagt, sie habe das immer freiwillig gemacht.”

“Express”, 26.08.2006

***

Zum Sex gezwungen? Natascha und ihr Entführer hatten intime Kontakte

Die mehr als acht Jahre gefangen gehaltene Österreicherin Natascha Kampusch hatte der Polizei zufolge sexuellen Kontakt zu ihrem Entführer.

“Nürnberger Nachrichten”, 28.08.2006

Nun, bis hierher unterscheidet sich dieser Fall nicht wesentlich von anderen, in denen entführte Kinder wieder aufgetaucht sind. Die Selbstverständlichkeit, mit der hier über den “sexuellen Kontakt” zwischen Opfer und Entführer spekuliert wird, ist im heutigen BoulevardJournalismus nichts Ungewöhnliches und zum Teil sicherlich unserem eigenen Voyeurismus geschuldet. Detaillierte Schilderungen der durchlebten Qualen sind zum Pflichtprogramm in der Berichterstattung geworden; wer über ein entführtes Kind berichtet, berichtet im selben Atemzug auch über das, was es durchmachen musste. Es scheint, als gehöre das dazu.

Und wenn heutzutage deutsche Journalisten – so wie im Fall von Stephanie R. vor ein paar Jahren geschehen – in einer großen Magazingeschichte die Leiden eines 13-jährigen Mädchens nachzeichnen, das “mehr als 100-mal” missbraucht wurde, gehört es offenbar auch dazu, dass geschildert wird, wo und wann und wie der Entführer das Mädchen vergewaltigt hat – und woran es dachte, “während er in ihr” war. Der “Spiegel” jedenfalls hatte 2006 kein Problem damit, solche Details zu veröffentlichen.

Read On…

Talkshows, Reality-Fernsehen, Meteor

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wer darf ins Fernsehen?”
(zeit.de, Peter Kümmel)
“Machterhalt auf beiden Seiten” sieht Peter Kümmel in den öffentlich-rechtlichen TV-Talkshows: “Man geht gemeinhin davon aus, dass Talkshows Modelle des gesellschaftlichen Lebens sind. Das ist falsch. In Wahrheit spielt das Talk-Fernsehen uns vor, was nicht stattfindet: Mitsprache, Partizipation, Debatte. Es ist ein Einwegmedium, von draußen führt kein Sprachrohr hinein.”

2. “Der Meteor und die Medien: Der Stellenwert der Wissenschaft im Fernsehen”
(scienceblogs.de, Florian Freistetter)
Astronom Florian Freistetter hätte gedacht, dass der Meteor von Tscheljabinsk, “ein außergewöhnliches und wichtiges Ereignis”, von den Talkshows und Wissenschaftssendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens aufgenommen würde. Doch er sieht sich getäuscht: “Dass die Medien dieses Thema so konsequent ignorieren zeigt deutlich, welchen Stellenwert die Wissenschaft bei ihnen einnimmt.”

3. “Der ‘Amazon-Skandal’ der ARD”
(pro-medienmagazin.de, Jörn Schumacher)
Jörn Schumacher kritisiert die ARD-Doku “Ausgeliefert!”: “Spannende Musik begleitet verwackelte Aufnahmen, die digital nachträglich so bearbeitet wurden, dass alles sehr düster wirkt – wie in einem Horrorfilm. (…) Schaufelt man die Gefühlsduselei des ambitionierten Cutters und der beiden Autoren beiseite, die sich immer wieder eitel selbst ablichten, bleibt nur ein großes Fragezeichen übrig.” Siehe dazu auch ein Interview mit den Autoren der Doku (hr-online.de) sowie “Ständig steigende Paketlieferaktivität” (notesofberlin.com, Foto).

4. “Extrem schön, extrem misogyn”
(flannelapparel.blogspot.de, Teresa Bücker)
Teresa Bücker schaut die RTL2-Dokusoap “Extrem schön! – Endlich ein neues Leben!”: “Medien tragen massiv dazu bei, Schönheit und die Möglichkeiten, sich mit dem eigenen Körper wohlzufühlen, zu definieren und zu verengen. Die Vielfalt der Schönheit wird aus der Welt geschnitten. Sie wird nicht gesendet und nicht gedruckt.”

5. “Die Klappe fällt, der Kandidat geht pleite”
(faz.net, Peer Schader)
Kandidatenverträge im Reality-Fernsehen: “Zwischen dem, was das Fernsehen bereit ist, seinen Protagonisten für deren Mitwirkung zu zahlen, und dem, was es von ihnen haben will, wenn die nicht mehr spuren, liegen Welten.”

6. “Zahlen, bitte”
(sueddeutsche.de, Johannes Boie)
Bislang werden TV-Sendungen vor allem nach ihrer Quote bewertet, aber nicht nach ihrem Erfolg im Netz, schreibt Johannes Boie: “Wenn plötzlich die Abrufe aus dem Netz dazukommen, könnte das zu einer Verschiebung zugunsten der jüngeren Formate führen, vor allem in Hinsicht auf die Sendeplätze. Ob das allen wichtigen Menschen in den Sendern gefallen würde?” Zur Messung von Videos im Internet siehe auch “How Netflix is turning viewers into puppets” (salon.com, Andrew Leonard, 1. Februar, englisch).

Bild  

Eine Zeitung mit 50 Siegeln

In gewisser Weise war der Aufmacher der “Bild”-Titelseite selten so wahr wie gestern:

Pferdefleisch-Skandal deckt auf: Der Irrsinn mit den Güte-Siegeln! Wer blickt da noch durch?

Ja, das ist Irrsinn. Und die “Bild”-Redaktion beweist eindrucksvoll, dass sie überhaupt keinen Durchblick hat.

Aber der Reihe nach:

Mehr als 1000 Gütesiegel gibt es in Deutschland, BILD zeigt die 50 wichtigsten für Lebensmittel. Jetzt kommt raus: Auch Produkte, die Pferdefleisch enthielten, waren mit Qualitätssiegeln ausgezeichnet. Wer die Siegel vergibt, welchen Siegeln Sie vertrauen können — Seite 2.

Bevor Sie auf Seite 2 lesen, wer die Siegel vergibt, zeigt “Bild” auf Seite 1 erst mal “die 50 wichtigsten [Gütesiegel] für Lebensmittel — oder das, was die Redaktion dafür hält. Neben offiziellen Gütesiegeln (etwa vom TÜV oder Bundesministerium für Verbraucherschutz) zeigt “Bild” nämlich auch diese Logos:

“Bild” war mit dem gelegentlich verwendeten Wort “Eigenmarke” eigentlich schon auf dem richtigen Weg — und ist dann doch irgendwie falsch abgebogen: Diese Logos sind keine Gütesiegel, sondern Markenlogos. Netto etwa bezeichnet “BioBio” explizit als “Eigenmarke”, Aldi “GutBio” als “Marke”. Das “Greenpeace-Magazin” hat das vor ein paar Jahren mal ein bisschen genauer erklärt.

Oder, in den Worten von “Bild”:

Zahlreiche Supermarktketten und Händler haben eigene Siegel, vergeben diese nach eigenen Kriterien, zeichnen sich damit also selbst aus!

IRRSINN!

Die Worte “unabhängig” und “überparteilich” hat der Axel-Springer-Verlag auch eigenständig ins rote “Bild”-Logo eingefügt, das ist kein Prüfsiegel irgendeiner journalistischen Aufsichtsbehörde.

Andererseits: Was hat der aktuelle “Skandal” um Pferdefleisch in Rindfleischprodukten überhaupt mit irgendwelchen Bio-Lebensmitteln zu tun — oder gar mit den Siegeln für Fisch aus umweltgerechter Fischerei und für koschere Lebensmittel, die “Bild” ebenfalls auf der Titelseite zeigt? Im Prinzip gar nichts, wurde das Pferdefleisch doch bisher ausschließlich in konventionellen Produkten gefunden.

Der Bundesverband Naturkost Naturwaren ist entsprechend empört, dass sein Logo ebenfalls auf der “Bild”-Titelseite zu sehen ist:

In einer Pressemitteilung erklärt er:

Anders als im Beitrag suggeriert, sind der BNN und seine Mitgliedsunternehmen weit entfernt vom Skandal um Pferdefleisch, das ausschließlich in konventionellen Produkten gefunden wurde. Die Logos der Eigenmarken aus dem konventionellen Lebensmittelhandel, die tatsächlich vom Pferdefleischskandal betroffen waren, tauchen in der Berichterstattung der BILD nicht auf.

Außerdem handelt sich beim BNN-Logo gar nicht um ein Siegel, denn es wird niemals auf Lebensmittel gedruckt. Es ist vielmehr das Logo eines Bundesverbandes, der die Herstellungs- und Handelsstufen der Wertschöpfungskette in der Naturkost-Fachbranche vertritt. […]

Der in der BILD hergestellte Zusammenhang von “Siegelflut” und Lebensmittelskandalen wird durch die Auswahl der Abbildungen klar mit der ökologischen Lebensmittelwirtschaft in Verbindung gebracht. Das ist sachlich falsch und aus unserer Sicht eine Verleumdung, die vor allem die Biobranche diskreditiert.

Vielleicht sollte “Bild” in Zukunft also doch lieber über Siegel berichten, mit denen sich die Zeitung auskennt. Also zum Beispiel über Ralph.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

Pressesprecher, Tatort, Einschaltquoten

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Falsch berichtet: Ex-Amazon-Zeitarbeiterin wirft ARD-Reportern Verfälschung vor”
(kreisanzeiger-online.de, Jan Philipp Ling)
Eine Protagonistin der ARD-Doku “Ausgeliefert! Leiharbeiter bei Amazon” fühlt sich teilweise falsch dargestellt: “Die Reporter hätten aber offenbar nur das Negative sehen wollen und in dem Bericht dann ihre Sätze aus dem Zusammenhang gerissen und mit weiteren, eigenen Erklärungen versehen: ’Oft war das dann das Gegenteil von dem, was ich gesagt habe.’ Zum Beispiel, als sie beim Schlafen auf der Couch gezeigt wurde, angeblich, weil sie in ihrem Bett nicht schlafen könne: ‘In Wahrheit habe ich dort meine Siesta gemacht. Das Wohnzimmer hat ein großes Fenster mit Blick auf den Wald, man hört die Vögel, das fand ich sehr schön.’ Auch hätten die Reporter mehrmals direkt gefragt, ob sie die Lebensverhältnisse nicht zu beengt fände. ‘Ich habe immer geantwortet: Nein, das ist kein Problem, es gefällt mir gut hier. Aber das wurde im Fernsehen nicht gezeigt.'”

2. “Leben im Transit · Dürfen Journalisten Politiker beraten?”
(carta.info, Birgit Wentzien)
“Um sich Journalismus als Leidenschaft leisten” arbeiten viele jüngere Menschen nebenbei als PR-Berater und Werbetexter, “was die Älteren mit einer Mischung aus Empörung, Unkenntnis, Festanstellungs-Luxus und auch Lamento von sich weisen”.

3. “Die Mär von der Partnerschaft zwischen PR und Journalismus”
(prreport.de, Adrian Peter)
Adrian Peter von “Report Mainz” hält die Erwartung von “Solidarität unter Kollegen” im professionellen Verhältnis zwischen Journalisten und Pressesprechern fehl am Platz: “Wer als Pressesprecher erwartet, von den ‘Kollegen’ geschont zu werden, geht von einem falschen Rollenverständnis aus. Dies gilt übrigens gleichermaßen für Journalisten, die glauben, Pressesprecher vertreten neben den Interessen ihres Auftraggebers journalistische Ideale.”

4. “Schmeißfliegen: Journalistenbild im ‘Tatort'”
(ndr.de, Video, 5:37 Minuten)
Wie Journalisten im “Tatort” dargestellt werden: “Meistens machen Journalisten im Tatort vor allem eins: Stören, nerven und im Weg rumstehen.”

5. “Free Rainer – Vergesst die TV-Quoten”
(medienblog.blog.nzz.ch, Rainer Stadler)
Seit dem 1. Januar 2013 verfügt die TV-Branche in der Schweiz über keine Einschaltquoten – aufgrund technischer Probleme. “Statt sich über versagende Fernsehforscher zu empören, hätten die Branchenangehörigen nun Zeit, ein bisschen genauer nachzudenken über das, was Medienqualität ausmacht. Und sich zu fragen, ob besserer Journalismus gelingt, wenn man laufend auf die Einschaltquoten starrt.”

6. “How I Meteored Your Motherland”
(thedailyshow.com, Video, 4:19 Minuten, englisch)
Ereignisse, die von in russischen Fahrzeugen installierten Kameras aufgenommen werden. Und die Reaktionen darauf.

“Bild” darf “Bachelor”-Tochter nicht zeigen

Der Rechtsanwalt Jan Kralitschka, zur Zeit als “Bachelor” in der gleichnamigen RTL-Castingshow zu sehen, hat eine weitere einstweilige Verfügung gegen die “Bild”-Gruppe erwirkt: Die erste ging gegen die gedruckte “Bild”-Zeitung, die zweite jetzt gegen Bild.de.

Am 7. Februar hatte “Bild” in der Kölner Regionalausgabe ein Foto gedruckt, das Kralitschka, eine Frau und ein Kleinkind zeigte:

BILD enthüllt das letzte Geheimnis des Bachelors: Model Ann-Kristin (33) aus Bonn ist die Mutter der Tochter (3) des TV-Junggesellen.

Wir sehen ein Foto aus dem Jahr 2011. Jan posiert mit seiner Ex und dem Töchterchen (damals ein Jahr alt) für eine Kampagne der Hotelkette Barceló. Kopf an Kopf lächeln beide in die Kamera, die Kleine sitzt mit einer Muschel in der Hand fröhlich auf Mamas Schoß. Aber kurz nach dem Shooting zerbrach die Beziehung.

Kralitschka und das Model Ann Kristin Brücker zogen vor Gericht, weil sie nicht wollten, dass “Bild” das Foto der gemeinsamen Tochter zeigt. Das Landgericht Köln untersagte die Verbreitung des Kinderfotos am 12. Februar per Einstweiliger Verfügung.

Die vorherige Verwendung des Fotos in einer Werbung sei kein Grund für “Bild”, das Foto zu drucken, da in der Werbung weder der Name des Kindes genannt worden noch ersichtlich gewesen sein, dass es sich bei den abgebildeten Personen um eine richtige Familie handle. Erst “Bild” habe das Kind als Tochter der beiden für jedermann erkennbar gemacht, woran allerdings kein berechtigtes öffentliches Interesse bestanden habe. Deswegen sei die Verbreitung des Fotos rechtswidrig, wie die Rechtsanwälte der Kläger vergangene Woche in einer Pressemitteilung berichteten.

Bild.de verpixelte das Gesicht des Mädchens daraufhin grob, so dass die Haare und ein Ohr noch zu sehen waren. Den Eltern reichte dies nicht: In einer zweiten Einstweiligen Verfügung entschied das Landgericht Köln, dass diese Form der Anonymisierung nicht ausreiche und Bild.de auch das derart bearbeitete Foto nicht mehr zeigen darf.

Bullshit-Bingo, Shitstorm, Autismus

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Pressefreiheit: Journalisten auf Abwegen”
(novo-argumente.com, Brendan O’Neill)
Brendan O’Neill identifiziert drei Trends, die den Journalismus korrumpieren: Konspiratives Denken, Kreuzrittermentalität, Konformismus.

2. “Ich habe das alles nicht gewollt”
(spiegel.de, Sascha Lobo)
Sascha Lobo bereut seine Mitschuld am Einzug des Begriffs “Shitstorm” in die deutsche Sprache: “Ich habe, ohne es zu beabsichtigen, die Welt ein bisschen schlechter gemacht.”

3. “Der Autismus unserer Zeit. Zur Popularität einer Metapher”
(gedankentraeger.de, Monika Scheele Knight)
Ein Text zur inflationären Verwendung der Begriffe “Autismus” und “Autist”: “Wie und wo kann ich uns als Familie mit einem autistischen Kind in einer Gesellschaft verorten, die dem Autismus in der Metapher jeden Tag negative Züge zuspricht, und die anhand des Syndroms ihre zeitgenössischen Krisen verhandelt?”

4. “Schluss mit dem Fragezeichenjournalismus”
(netzwertig.com, Martin Weigert)
“Kaum etwas signalisiert deutlicher geringe Substanz und geringe Wichtigkeit von Texten als der Abschluss der Überschrift mittels Fragezeichen.”

5. “Kündigungs-Kommunikation beim Handelsblatt: Was zwischen den Zeilen steht”
(wuv.de, Frank Zimmer)
Frank Zimmer analysiert eine Pressemitteilung, in der die Handelsblatt-Gruppe unter anderem die Entlassung von 80 Mitarbeitern kommuniziert: “Zwei Leute mehr und es wäre eine so genannte Massenentlassung gewesen. Häßliches Wort.”

6. “Zum Hype um das Krisen-Bullshit-Bingo”
(schalkefan.de, Matthias in der Weide)
Der Blogbeitrag “Das große Schalker-Krisen Bullshit-Bingo” wird von den Medien aufgegriffen, die darin Hohn, Spott, Häme, gar eine Abrechnung sehen. Matthias in der Weide dagegen schreibt, er sei “im Gegenteil sogar ein extrem loyaler Fan. Einer, der sich in jeder Diskussion über Schalke wie eine Löwenmutter vor ihr Kind wirft und es bedingungslos verteidigt.”

dpa  

Zwischen Arm und Milz passt immer noch ein R

Arm und Milz werden selbst von schlechtesten Medizinstudenten nur selten verwechselt — das eine hängt beidseitig an den Schultern herunter, das andere liegt nur ein Pils von der Leber entfernt im Bauchraum. Insofern ist es auf den ersten Blick verwunderlich, wenn die Deutsche Presseagentur (dpa) eine solche Korrektur verschicken muss:

(Berichtigung: Milz statt Arm)
Spanischer Schiedsrichter verliert Milz nach Angriff eines Spielers

Valencia (dpa) – Ein brutaler Angriff auf einen 17 Jahre alten Fußball-Schiedsrichter hat in Spanien für große Empörung gesorgt. Der junge Referee ist bei einem Spiel von zwei Amateurteams in Burjassot bei Valencia so schwer verletzt worden, dass ihm die Milz entfernt werden musste. […]

Wobei die dpa selbst den Hinweis gibt, wie es dazu kommen konnte:

## Berichtigung
– Im Text wurde wegen eines Übersetzungsfehlers durchgehend berichtigt: Milz (statt Arm)

Und tatsächlich ist die Auflösung dann geradezu lächerlich naheliegend:

el brazo = der Arm
el bazo = die Milz

Diese Unterscheidung ist ganz hilfreich, wenn man im Urlaub zum Arzt muss. Oder wenn man das nächste Mal einen spanischsprachigen Artikel übersetzen muss.

Die meisten deutschsprachigen Online-Medien, die diesen Fehler übernommen hatten, haben inzwischen die korrekte Version online. Bei krone.at hat der junge Mann immer noch einen “Arm” verloren, beim “Südkurier” sicherheitshalber einfach beides:

Der junge Referee ist bei einem Spiel von zwei Amateurteams in Burjassot bei Valencia so schwer verletzt worden, dass ihm ein Arm amputiert werden musste. […]

Der Schiedsrichter verlor große Mengen an Blut und wurde in ein Krankenhaus gebracht.

Dort sahen die Ärzte keinen anderen Ausweg, als dem jungen Mann die Milz zu entfernen.

Mit Dank an Max S.

Nachtrag, 20. Februar: Der “Südkurier” hat alle Hinweise auf einen Arm aus dem Artikel entfernt. Womöglich schon, bevor unser Eintrag hier gestern online ging.

GEMA, Hart aber fair, Bildbearbeitung

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Vom Eigenleben eines Zitats – Eine Lektion Medienbildung”
(wiki.doebe.li)
Beat Doebeli wird auf der Frontseite der “Süddeutschen Zeitung” zitiert, ohne dass er “mit dem Autor des Artikels je gemailt, telefoniert oder sonst konversiert” hätte. Danach greifen andere Medien das Zitat auf und verändern es.

2. “GEMA und YouTube schränken durch Ihren Streit die Pressefreiheit in Deutschland ein”
(djv-bb.de, Klaus D. Minhardt)
Der Deutsche Journalisten Verband Berlin-Brandenburg fordert YouTube und GEMA auf, “eine schnelle Einigung herbeizuführen, da es nicht hinnehmbar ist, dass Nachrichten von öffentlichem Interesse wegen dieser Auseinandersetzung in Deutschland nicht abrufbar sind. Die Umgehung dieser Sperren mit Proxyservern oder VPN-Servern sind Techniken, die man leider in Diktaturen benötigt und die für eine Demokratie unwürdig sind.”

3. “Plasberg: Mit Fifa die Hemmschwelle zu Töten abtrainiert”
(stigma-videospiele.de, Rey Alp)
Wie “Hart aber fair” ein Zitat von Prinz Harry von Wales in die Sendung einbindet: “‘Hart aber fair’ hat hier eine Aussage von Harry, in dem dieser davon spricht, dass er durch Fifa-Spielen zu flinken Fingern gekommen ist, als Beweis dafür angeführt, dass das Daddeln auch das Wesen verändere bzw. die Spieler zu Soldaten mache.”

4. “Die Pressefreiheit und der Hohn vom ‘Relevanzversprechen'”
(spiegelfechter.com, Jörg Wellbrock)
Jörg Wellbrock macht sich Gedanken zur Unabhängigkeit von Printverlagen: “Ohne Anzeigenkunden läuft nichts bei deutschen Zeitungen, auch nicht bei der ‘Zeit’.”

5. “Winterkorns Ernte auf den Äckern Amazoniens”
(doppelpod.com, Sven Hänke)
Zum “Bild”-Artikel “Chinesen trinken deutschen Babys die Milch weg!” und anderem.

6. “2013 World Press Photo – Fakten und Fiktion”
(blog.heikerost.com)
Anlässlich der aktuellen World Press Photos fragt Heike Rost nach den “zulässigen Grenzen der Bildbearbeitung”.

Plagiorious

Der Eurovision Song Contest rückt näher. Wird mal wieder Zeit für:PLAGIATSALARM!

Es ist eine seit Jahrzehnten fast schon liebevoll gepflegte ESC-Tradition. Und in diesem Jahr geben sich die “BamS”-Reporter besonders viel Mühe bei dem Versuch, den deutschen ESC-Teilnehmern ein Plagiat nachzuweisen. Es geht um die Band “Cascada”, die Deutschland beim diesjährigen ESC in Malmö mit ihrem Song “Glorious” vertreten wird, der für viele, nun ja, gewisse Ähnlichkeiten mit dem Sieger-Song aus dem letzten Jahr aufweist.

In der gestrigen Ausgabe fragte “BamS” dann:PLAGIATSALARM! - Muss Cascada vor dem Grand Prix zurücktreten?

Die letzten Takte des Siegertitels perlten noch in der Luft, da musste sich die Gewinnerin schon Plagiatsvorwürfe anhören. Klingt “Glorious”, also unser Lied für Malmö, nicht genau wie “Euphoria”, also der ESC-Siegertitel von 2012?

Um diese Frage zu beantworten, holt sich “BamS” diesmal sogar professionelle Unterstützung:

BILD am SONNTAG übergab “Euphoria” und “Glorious” als Musikdateien dem Institut für Sprachwissenschaften der Christian-Albrechts-Universität in Kiel.

Vermutlich waren alle Musikwissenschaftler Deutschlands gerade auf einem gemeinsamen Musikwissenschaftlerausflug, weshalb “BamS” auf ein sprachwissenschaftliches Institut zurückgreifen musste. Aber was soll’s – es sind ja Wissenschaftler. Und die kennen sich aus. Es klingt zumindest so:

Ein Sprachanalyse-Programm warf den ESC-Sieger von 2012 und den deutschen Beitrag von 2013 als Oszillogramm und Sonagramm in dreidimensionaler Frequenzdarstellung aus: ein akustischer Fingerabdruck, bei dem sich Laustärke, Grundfrequenz und Spektraldaten penibel genau vermessen und vergleichen lassen.

Scheinbar hat sich der ganze Aufwand gelohnt, denn:

Das Ergebnis ist eindeutig. “‘Glorious’ wirkt wie eine Kopie von ‘Euphoria’ mit kleinen, raffinierten stilistischen Änderungen”, sagt die Phonetikerin Dr. Tina John, 31.

Aufbau der Beats, Gesangsdynamik und Pausensetzung stimmten in weiten Teilen überein. “Am Anfang ist der Gesang absolut identisch, der Refrain benutzt die gleiche Akzentuierung, der Schluss gipfelt in einer identischen Kombination. Die Sängerinnen benutzen sogar die gleiche Atemstylistik.”

Kurz: ein Plagiat in einem Atemzug! ESC-Experte Jan Feddersen, 55: “Wenn es sich bei ‘Glorious’ um eine Kopie von ‘Euphoria’ handelt, dürfte Cascada nicht antreten.”

Andere Medien fanden das alles offenbar schlüssig und griffen die Nachricht rasch auf. Dabei macht die “Bild am Sonntag” allein mit dem lieblos drangeklatschten Schlusssatz ziemlich deutlich, worauf sie hier hinauswill: Auch dem letzten Skeptiker soll klar werden suggeriert werden, dass es auf die in der Überschrift gestellte Frage letztlich nur eine Antwort gibt. Und die steht für “BamS” längst fest.

Jan Feddersen “bereut” es derweil, dem “BamS”-Reporter diesen “banalen, immerwahren Satz” gesagt zu haben, wie er im Eurovision-Blog des NDR zugibt. Laut seinen Angaben hatte der Reporter ihm gegenüber behauptet, die Analyse gehe auf “eine Kieler musikwissenschaftliche Abteilung” zurück.

Ich antwortete jedenfalls, ich hielte die Debatte für Unfug, schwachsinnig und doof – weil Loreen und Natalie Horler [Sängerin von “Cascada”] möglicherweise sich der gleichen überlieferten Tonfolgen bedienten, wie die meisten Musiker auch. Aber die Titel hörten sich für mich ähnlich an, allerdings einschränkend, dass ich persönlich kaum in der klassischen Musik differenzieren könne, ebenso wenig im Techno oder im Bereich der Dancegeschichten.

“Glorious” klinge “für dance-ungeübte Ohren wie alle Musik, die in Großdissen so gespielt wird” — ebenso wie sich für Menschen, “die kein Gefühl für Jazz oder Blues haben”, alle “Blues-Songs oder Jazzdinger vollständig gleich” anhörten.

Insofern: In der Frage der “Bild am Sonntag” steckt bereits eine dümmliche Unterstellung, die naiv tut und doch nur Skandal will.

Davon mal abgesehen ist die Methode, mit der “BamS” hier auf vermeintlich wissenschaftliche Weise ein Plagiat nachgewiesen haben will, natürlich mehr als fragwürdig.

Wir haben den Musikwissenschaftler Dr. Klaus Frieler gefragt, was er von der in “BamS” beschriebenen Untersuchungsmethode hält. Frieler ist seit Jahren als musikwissenschaftlicher Gutachter tätig, insbesondere wenn Plagiatsverdacht erhoben wird. Derzeit ist er für ein Forschungsprojekt an der Hochschule für Musik “Franz Liszt” in Weimar tätig. Er hat uns unter anderem beschrieben, wie er im Fall eines offiziellen Plagiatsgutachtens vorgeht. Er schreibt etwa:

Ein Sonagramm ist kein adäquates Mittel, um Musikwerke zu vergleichen, dazu sind die dort enthaltenen Informationen bei einem komplexen Musikstück mit einem Mix vieler Instrumente viel zu sehr miteinander verschränkt, als dass eine einfache Zuordnung der spektralen Anteile zu den einzelnen Instrumenten möglich wäre. (…)

Für ein Plagiatseinschätzung bedarf es viel musikwissenschaftliches Hintergund- und Fachwissen, sorgfältige Abschätzung der Werkteile im jeweiligen musikalischen und stilistischen Kontext usw. Kurz, ein seriöses Plagiatsgutachten basiert immer auf menschlichem Expertenwissen, mit manueller, maximal semiautomatischer Transkription der melodischen Anteile. Diese Arbeit kann zwar durch die Hilfe des Computers im Einzelfall erleichtert, aber bisher (und wahrscheinlich auch in Zukunft) durch diese nicht ersetzt werden.

Frieler hat sich die beiden Songs selbst mal angehört. Für eine “hieb- und stichfeste Einschätzung” müsste er zwar erst “eine genauere Analyse (vor allem der Melodien)” durchführen, doch nach einem ersten Höreindruck schreibt er:

Ich denke mittlerweile, wenn ich das noch weiter analysieren würde, käme ich wohl eher zu dem Schluss, dass es sich **nicht** um ein Plagiat handelt, sondern wahrscheinlich um ein Soundalike. Ein Soundalike ist ein Werk, das einen sehr ähnlichen Gesamteindruck wie ein Original bewirken soll, aber in den entscheidenden, geschützten musikalischen Details abweicht. Sehr üblich in der Werbung, um Lizenzgebühren zu sparen. Hier wahrscheinlich mit der (bewussten oder unbewussten) Absicht geschehen, an dem Vorjahreserfolg von Loreen anzuknüpfen.

(Die ausführliche Version dieser Einschätzung ist hier nachzulesen.)

Der NDR hat nach Aufkommen der Vorwürfe mittlerweile ein eigenes Gutachten in Auftrag gegeben, wie ARD-Unterhaltungschef Thomas Schreiber am Wochenende mitteilte. Er fügte hinzu:

Im Übrigen gehören Versuche, den ESC zu skandalisieren und Plagiatsvorwürfe nach den Sendungen zur Folkore des ESC: Im vergangenen Jahr wurde Loreen und ihren Produzenten vorgeworfen, dass “Euphoria” bei drei verschiedenen Titeln “geklaut” sei, unter anderem bei Rihanna und David Guetta.

Diese Anschuldigungen hätten sich aber als haltlos erwiesen. So wie im Übrigen fast alle Plagiatsvorwürfe, die bisher im Rahmen des ESC erhoben wurden. Dem Jagdfieber im Hause Springer tut das aber keinen Abbruch. Schon am Tag nach dem Vorentscheid stöhnte Bild.de:Haben wir wirklich nichts Besseres für den Grand Prix?

Und liebäugelte am selben Tag noch mit den Zweitplatzierten des Vorentscheids, mit den “verrückten Jungs” von “LaBrassBanda”, die für viele ja die “Sieger der Herzen” seien. Die Leser werden ohne große Umschweife gefragt: “Hätten Sie lieber LaBrassBanda beim ESC 2013 gesehen?” Das Ergebnis — mal wieder eindeutig:Umfrage: "Hätten Sie lieber LABrassBanda beim ESC 2013 gesehen?" - Antwort a: "Ja, die Band hat im Vorentscheid überzeugt." - 100 Prozent. Antwort b: "Nein, Cascada wird uns würdig in Schweden vertreten." - 0 Prozent.

Wobei die Umfrage doch ein wenig an Überzeugungskraft verliert, wenn man sieht, wie viele Leute sich an ihr beteiligt haben:
Beendet am: 16.02.2013 - Stimmen: 1

Mit Dank an Dennis, Holger K. und Monika G.

Nachtrag, 26. Februar: Inzwischen ist auch der vom NDR beauftragte Gutachter zu einem Ergebnis gekommen. Auf der deutschen ESC-Seite heißt es:

Cascadas ESC-Song “Glorious” ist kein Plagiat von Loreens Vorjahres-Siegertitel “Euphoria” – das hat ein vom NDR in Auftrag gegebenes Gutachten ergeben. “Es lässt sich zusammenfassen, dass ‘Glorious’ und ‘Euphoria’ keine urheberrechtlich bedeutsamen Übereinstimmungen aufweisen. Sie sind lediglich stilistisch ähnlich und zeigen nur im Arrangement eine oberflächliche Berührung ohne urheberrechtlichen Belang”, so das Fazit von Matthias Pogoda, der seit 1992 als Musikgutachter und Sachverständiger für Plagiatsfragen tätig ist und unter anderem Musikverlage und Urheberrechtskammern als Gerichtsgutachter berät.

(…)  In seiner Bewertung schreibt der Musikexperte abschließend: “Für einen begründeten Plagiatsvorwurf müssten meines Erachtens detaillierte Übereinstimmungen einer längeren Begleitpassage vorliegen und weitere Arrangementbestandteile passgenau übereinstimmen. Dies ist hier nicht der Fall.”

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