Archiv für Februar 22nd, 2013

Die Jagd nach der nackten Wahrheit

Als die Österreicherin Natascha Kampusch im Sommer 2006 nach achtjähriger Gefangenschaft plötzlich wieder auftauchte, begann im deutschsprachigen Journalismus eine Jagd. Eine völlig groteske Jagd, die nur ein einziges Ziel hat: Die Antwort auf die Frage, ob Natascha Kampusch Sex mit ihrem Entführer hatte.

Die Jagd beginnt im Jahr 2006. Am 23. August erfährt die Welt, dass das Mädchen wieder aufgetaucht ist. Acht Jahre lang war sie verschwunden, gefangengehalten von Wolfgang Priklopil, der sich noch am Tag ihrer Flucht das Leben nimmt. Jetzt ist sie frei und wohlauf, es ist eine Sensation. Überall auf der Welt berichten Medien über den spektakulären Fall aus Österreich. Und bereits zwei Tage später wird deutlich, was einige daran am allermeisten interessiert:

(…) Vielleicht hat er das Mädchen zu seiner Sex-Sklavin gemacht, vermuten österreichische Medien.

“Bild”, 25.08.2006

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(…) HAT DER KIDNAPPER SEIN OPFER SEXUELL MISSBRAUCHT?

“Aus meiner Sicht, ja”, meint die Polizistin. “Aber Natascha ist das noch nicht bewusst. Sie sagt, sie hat immer alles freiwillig gemacht.”

“Bild”, 25.08.2006

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(…) Die Beamtin geht auch davon aus, dass das Mädchen sexuell missbraucht worden ist – “doch das ist ihr nicht bewusst, sie ist der Meinung, es freiwillig gemacht zu haben”. Natascha schilderte auch den Tagesablauf in Gefangenschaft: Sie frühstückte mit der Sex-Bestie, musste im Haushalt helfen.

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Seine Sklavin – Sie musste für ihn putzen. Er forderte auch Sex von ihr

(…) Was spielte sich im Keller ab? Eine Polizistin sagt, sie glaube, dass Priklopil Natascha zum Sex zwang: “Aber sie sagt, sie habe das immer freiwillig gemacht.”

“Express”, 26.08.2006

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Zum Sex gezwungen? Natascha und ihr Entführer hatten intime Kontakte

Die mehr als acht Jahre gefangen gehaltene Österreicherin Natascha Kampusch hatte der Polizei zufolge sexuellen Kontakt zu ihrem Entführer.

“Nürnberger Nachrichten”, 28.08.2006

Nun, bis hierher unterscheidet sich dieser Fall nicht wesentlich von anderen, in denen entführte Kinder wieder aufgetaucht sind. Die Selbstverständlichkeit, mit der hier über den “sexuellen Kontakt” zwischen Opfer und Entführer spekuliert wird, ist im heutigen BoulevardJournalismus nichts Ungewöhnliches und zum Teil sicherlich unserem eigenen Voyeurismus geschuldet. Detaillierte Schilderungen der durchlebten Qualen sind zum Pflichtprogramm in der Berichterstattung geworden; wer über ein entführtes Kind berichtet, berichtet im selben Atemzug auch über das, was es durchmachen musste. Es scheint, als gehöre das dazu.

Und wenn heutzutage deutsche Journalisten – so wie im Fall von Stephanie R. vor ein paar Jahren geschehen – in einer großen Magazingeschichte die Leiden eines 13-jährigen Mädchens nachzeichnen, das “mehr als 100-mal” missbraucht wurde, gehört es offenbar auch dazu, dass geschildert wird, wo und wann und wie der Entführer das Mädchen vergewaltigt hat – und woran es dachte, “während er in ihr” war. Der “Spiegel” jedenfalls hatte 2006 kein Problem damit, solche Details zu veröffentlichen.

Read On…

Talkshows, Reality-Fernsehen, Meteor

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wer darf ins Fernsehen?”
(zeit.de, Peter Kümmel)
“Machterhalt auf beiden Seiten” sieht Peter Kümmel in den öffentlich-rechtlichen TV-Talkshows: “Man geht gemeinhin davon aus, dass Talkshows Modelle des gesellschaftlichen Lebens sind. Das ist falsch. In Wahrheit spielt das Talk-Fernsehen uns vor, was nicht stattfindet: Mitsprache, Partizipation, Debatte. Es ist ein Einwegmedium, von draußen führt kein Sprachrohr hinein.”

2. “Der Meteor und die Medien: Der Stellenwert der Wissenschaft im Fernsehen”
(scienceblogs.de, Florian Freistetter)
Astronom Florian Freistetter hätte gedacht, dass der Meteor von Tscheljabinsk, “ein außergewöhnliches und wichtiges Ereignis”, von den Talkshows und Wissenschaftssendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens aufgenommen würde. Doch er sieht sich getäuscht: “Dass die Medien dieses Thema so konsequent ignorieren zeigt deutlich, welchen Stellenwert die Wissenschaft bei ihnen einnimmt.”

3. “Der ‘Amazon-Skandal’ der ARD”
(pro-medienmagazin.de, Jörn Schumacher)
Jörn Schumacher kritisiert die ARD-Doku “Ausgeliefert!”: “Spannende Musik begleitet verwackelte Aufnahmen, die digital nachträglich so bearbeitet wurden, dass alles sehr düster wirkt – wie in einem Horrorfilm. (…) Schaufelt man die Gefühlsduselei des ambitionierten Cutters und der beiden Autoren beiseite, die sich immer wieder eitel selbst ablichten, bleibt nur ein großes Fragezeichen übrig.” Siehe dazu auch ein Interview mit den Autoren der Doku (hr-online.de) sowie “Ständig steigende Paketlieferaktivität” (notesofberlin.com, Foto).

4. “Extrem schön, extrem misogyn”
(flannelapparel.blogspot.de, Teresa Bücker)
Teresa Bücker schaut die RTL2-Dokusoap “Extrem schön! – Endlich ein neues Leben!”: “Medien tragen massiv dazu bei, Schönheit und die Möglichkeiten, sich mit dem eigenen Körper wohlzufühlen, zu definieren und zu verengen. Die Vielfalt der Schönheit wird aus der Welt geschnitten. Sie wird nicht gesendet und nicht gedruckt.”

5. “Die Klappe fällt, der Kandidat geht pleite”
(faz.net, Peer Schader)
Kandidatenverträge im Reality-Fernsehen: “Zwischen dem, was das Fernsehen bereit ist, seinen Protagonisten für deren Mitwirkung zu zahlen, und dem, was es von ihnen haben will, wenn die nicht mehr spuren, liegen Welten.”

6. “Zahlen, bitte”
(sueddeutsche.de, Johannes Boie)
Bislang werden TV-Sendungen vor allem nach ihrer Quote bewertet, aber nicht nach ihrem Erfolg im Netz, schreibt Johannes Boie: “Wenn plötzlich die Abrufe aus dem Netz dazukommen, könnte das zu einer Verschiebung zugunsten der jüngeren Formate führen, vor allem in Hinsicht auf die Sendeplätze. Ob das allen wichtigen Menschen in den Sendern gefallen würde?” Zur Messung von Videos im Internet siehe auch “How Netflix is turning viewers into puppets” (salon.com, Andrew Leonard, 1. Februar, englisch).