Archiv für November, 2011

Faszinierend

Ein wenig unentschlossen wirken sie schon bei Bild.de:

43 Jahre wurde die Folge den Fans im deutschen Free TV vorenthalten, jetzt bringt ZDF neo die 50. Episode von “Raumschiff Enterprise”.

Das klingt ja erst mal, als seien die deutschen Zuschauer über Jahre bevormundet worden. Im nächsten Satz klingt es dann aber schon so, als sei diese Bevormundung ganz gut gewesen:

Am Freitagabend zeigt der Spartensender die umstrittene Nazi-Folge “Schablonen der Gewalt”.

Die Bezeichnung “umstritten” hat sich ZDF neo selbst in seine Ankündigung geschrieben und wie folgt begründet:

Bisher wurde die Enterprise-Folge “Schablonen der Gewalt” (Originaltitel: “Patterns of Force”) noch nie im deutschen Free-TV gezeigt. Denn in dieser Folge wird die Enterprise-Crew mit einem faschistischen Regime konfrontiert, das stark an den Nationalsozialismus und die diktatorischen Strukturen des Dritten Reichs angelehnt ist.

Tatsächlich hatte weder das ZDF noch einer der anderen Sender, auf denen die Serie später zu sehen war, “Schablonen der Gewalt” je gezeigt. Das ZDF hatte sowieso recht willkürlich nur 39 der 79 verfügbaren “Star Trek”-Folgen ausgestrahlt und den Rest abgelehnt (angeblich mit der Begründung, die anderen Folgen seien “geschmacklos und zu gewalttätig”), aber auch Sat.1 verzichtete bei der Ausstrahlung der gesamten Serie auf diese eine Folge.

Offizielle Begründungen dazu lassen sich nirgends finden, aber womöglich hätte die Öffentlichkeit vor 30, 40 Jahren noch empörter reagiert als Bild.de es heute tut:

"Raumschiff Enterprise" ZDF neo zeigt umstrittene Nazi-Folge. Wie kommt

Bild.de erklärt, dass eine synchronisierte Fassung seit 1995 im Handel zu kaufen sei, findet es aber offenbar komisch, dass die Folge jetzt trotzdem im Free TV zu sehen ist (im Pay-TV läuft sie schon länger).

Warum ZDF neo die umstrittene Folge jetzt zeigt? ZDFneo-Redaktionsleiterin Dr. Simone Emmelius zu BILD.de: “Mit der Ausstrahlung der “Enterprise”-Episode ‘Schablonen der Gewalt’ bietet ZDFneo den Enterprise-Fans die Kultserie erstmals in Gänze. Die Folge ‘Schablonen der Gewalt’, die einer FSK 16 unterliegt, wird nach 22 Uhr gesendet, so dass die Komplexität der Episode von den Zuschauern reflektiert und hinterfragt werden kann.”

Die Komplexität dieser Aussage war offenbar so hoch, dass Bild.de hinzufügen muss:

Wegen der Altersfreigabe ab 16 Jahren musste der Sender einen späten Sendeplatz (22.40 Uhr) wählen.

Und als wäre diese Aufruhr nicht schon künstlich genug – und damit durchaus im Sinne des Senders – wird aus der “umstrittenen” Folge zum Schluss auch noch eine “bislang verbotene”. Das ist zwar völliger Quatsch, scheint aber sowieso niemanden mehr beeindruckt zu haben:

ZDF zeigt bislang verbotene Nazi-Folge. Ich finde das… völlig okay 85%

Mit Dank an Lars H., Jürgen H., David K. und Martin E.

Apfelkind, Halbgeschwister, Abmahnungen

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Apple gegen Apfelkind: Größenwahnsinniger Weltkonzern gegen kleine Cafébesitzerin?”
(lbr-law.de, Arno Lampmann)
Ist die Firma Apple größenwahnsinnig, weil sie sich auf einen Markenstreit mit einem Bonner Café einlässt, wie viele Medien berichten? “Vor diesem Hintergrund von Größenwahn zu sprechen, zeugt von einem merkwürdigen Weltbild. Bemerkenswert ist unseres Erachtens vielmehr, mit der Anmeldung einer Marke und umfangreichen Franchiseplänen bei den Großen mitspielen zu wollen, um dann, wenn es um die konsequente Einhaltung der Spielregeln geht, öffentlichkeitswirksam das kleine unbedarfte Kindercafé zu mimen.”

2. “Die armen Verwandten”
(sz-magazin.sueddeutsche.de, Andreas Bernard)
Andreas Bernard fragt sich, was es mit den Berichten des Boulevards über “gescheiterte” Halbgeschwister von Prominenten auf sich hat.

3. “Wer, wie, was, wann, wo?”
(klatschkritik.blog.de, Antje Tiefenthal)
Die “Bunte” schreibt “kurz und knapp” über eine Weiterentwicklung im Fall Kachelmann, das Leben der Nebenklägerin soll verfilmt werden. “Kaum eine andere deutsche Zeitschrift hat umfangreicher über den Kachelmann-Prozess berichtet, als die Bunte. Jede Kleinigkeit, für die zehn Zeilen genügt hätten, wurde für mindestens eine Doppelseite aufgebauscht, (…).”

4. “Journalismus heute – die richtige Denke”
(training.dw-world.de, Steffen Leidel)
Sieben Empfehlungen für Journalisten: “1) Baue Dir deine personalisierte Nachrichtenagentur auf, 2) Du suchst den Dialog auf Augenhöhe mit den Nutzern, 3) Du nutzt die Weisheit deiner Leser, 4) Du machst deinen Arbeitsprozess transparent, 5) Du kuratierst Information und managest den Information-Overload durch eine kritische Nutzung von Filtern, 6) Du begreifst Journalismus als Prozess, 7) Du betreibst Storytelling auf mehreren Kanälen.”

5. “Justizministerin sagt Abmahn-Industrie den Kampf an”
(sueddeutsche.de, Daniela Kuhr)
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger will gegen Missbrauch mit Abmahnungen vorgehen. “Im Justizministerium spricht man von ‘Wettbewerbsverstößen im Bagatellbereich’. Einige Anwälte schlagen daraus jedoch Profit, indem sie sich regelrecht darauf spezialisiert haben, gegen solche Verstöße vorzugehen. Oft nutzen sie dazu eine moderne Software, mit der sich auch die geringsten Wettbewerbsverstöße im Internet ohne großen Aufwand aufspüren lassen.”

6. “The War Between Google, Amazon, Facebook, Apple”
(npr.org, englisch)
“In the old days, Amazon sold books, Google was a search engine, Facebook was a social network and Apple sold computers. But that’s not the case anymore.”

Schöner Einbrechen mit Facebook (2)

Und wer ist noch (und trotz BILDblog-Eintrag) hereingefallen auf die Ente, dass sich 78 Prozent der Diebe bei Facebook über gute Einbruchziele informieren?

Die “Welt” von heute — im womöglich ironisch benannten Ressort “Wissen”:

Der “Welt”-Remix “Berliner Morgenpost”:

Der Online-Auftritt des “Handelsblatts”:

Und natürlich, ganz frisch, Bild.de:

Auch der Braanchendienst “Meedia” hält unbeirrt an dem Irrsinn fest; “Welt Online” hat immerhin einen Teil der Fehler unauffällig korrigiert*.

*) so unauffällig, dass wir es zuerst übersehen hatten.

Mit Dank an Frank!

Unruhe bitte!

Was sorgt für mehr Unruhe? Ein Spieler, der sich in der Winterpause bei seinem ehemaligen und wahrscheinlich auch zukünftigen Verein fit halten will oder eine Schlagzeile wie diese?

Ex-Nationalspieler sorgt für Unruhe Dicke Luft zwischen Werder und Frings

Bild.de behauptet:

Er war viele Jahre Leistungsträger, Kapitän und Aushängeschild des Klubs. Jetzt herrscht dicke Luft zwischen Torsten Frings (34) und Werder!

Für die nötige Stimmung sorgt Bild.de vor allem selbst, indem sämtliche eher harmlosen Zitate der Beteiligten möglichst krawallig interpretiert werden:

“Ich habe gerne das Heft des Handelns in der Hand. Und der Trainer auch”, sagt Boss Klaus Allofs gereizt. “Ich habe noch nicht mit Torsten gesprochen. Wir müssen sehen, wie wir da eine Lösung finden.”
Harmonie klingt anders…
(…)
Was Allofs außerdem nervt:
Bis heute hat Frings seinen Anschlussvertrag noch immer nicht unterschrieben.
Geplant war, dass er nach seiner Spieler-Karriere bei in Werders Trainerstab einsteigt. Doch Frings lässt sich dabei Zeit: “Wer weiß denn heute schon, was in einem Jahr ist.”
Das ärgert Allofs, der den Anschlussvertrag als ein Entgegenkommen des Klubs ansieht: “Torsten sollte nach seiner Karriere hier was machen. Das zeigt, wie wir zu seiner Person stehen. Aber zwingen werden wir ihn nicht, bei uns zu arbeiten…”
Auch die geplante Verabschiedung im Weserstadion läuft nicht reibungslos.
(Hervorhebungen von uns.)

Torsten Frings selbst sieht die Situation ganz anders. In seinem eigenen Blog schreibt er unter der Überschrift “Zwischen Werder und mir ist alles gut!”:

Als ich heute bei Bild.de allein schon die Überschrift “Dicke Luft zwischen Werder und Frings” gelesen habe, konnte ich nur mit dem Kopf schütteln. Was soll denn das? Das bringt Unruhe in den Verein, schadet meinem Namen und so eine “Story” ist nicht nur überflüssig, sondern auch nicht richtig! Ich habe mich stets zu Werder bekannt und weiß nicht, was die Journalisten davon haben, einen Keil zwischen den Verein und mir zu treiben? Aber um es nochmals klar zu stellen: zwischen Werder und mir ist alles gut! Es gab verschiedene Gespräche in guter Atmosphäre bei denen wir gemeinsam die zukünftige Vorgehensweisen besprochen haben. Wir sind dabei eine gute Lösung für das “fit halten” zu finden und auch meine offizielle Verabschiedung wird an diesem Samstag wie geplant stattfinden. Und dass ich nach meinem Karriereende dem Verein gern zur Verfügung stehe, habe ich nun auch schon mehrmals öffentlich gesagt. (…)

Dazu passt, dass sich Frings und der SV Werder Bremen inzwischen geeinigt haben, wie sid und dpa melden:

“Es gab keinen Zoff”, sagte Allofs und reagierte damit auf entsprechende Medienberichte.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

Nachtrag, 4. November: Aus der von allen Beteiligten einvernehmlich getroffenen Vereinbarung, dass Torsten Frings mit der U19-Jugendmannschaft von Werder Bremen trainiert, konstruiert Bild.de das:

Praktikant bei U19 statt Training mit den Profis Werder schiebt Frings ab

Das hat sich Torsten Frings (34) ganz anders vorgestellt… (…)

Praktikant bei U19 statt Training mit den Profis – Werder schiebt Frings ab! (…)

Ob ihm diese Lösung wirklich schmeckt? (…)

Heißt: Basisarbeiter in der Jugend statt wie erhofft Assistent von Thomas Schaaf.

Wann und ob Frings, der immer noch beim FC Toronto unter Vertrag ist, jemals geäußert hat, er wolle Assistent von Thomas Schaaf sein, erfährt man bei Bild.de nicht — ebensowenig wie das, was Frings selbst laut kreiszeitung.de zur Einigung sagt:

Nach einem Gespräch mit Sportchef Klaus Allofs hat Frings die U 19-Lösung akzeptiert. “Das ist eine neue Erfahrung für mich – und es ist okay”, meinte Frings gestern und ergänzte: “Ich wollte ohnehin nicht jeden Tag trainieren – und bei den Profis hätte ich das machen müssen.”

Hypo Real Estate, Mely Kiyak, Schäferhund

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wen kümmern 50 Milliarden Euro?”
(stern.de/blogs, Hans-Martin Tillack)
Hans-Martin Tillack liefert Hintergründe, wie über Geldbeträge der verstaatlichten Bank Hypo Real Estate informiert wird und wie Journalisten diese Informationen aufnehmen und verarbeiten. Siehe dazu auch “Verrechnet – Milliarden und die HRE” (ndr.de, Video, 5:30 Minuten).

2. “Ui, Mely Kiyak!”
(titanic-magazin.de)
“Titanic” antwortet auf eine Kolumne von Mely Kiyak in der “Frankfurter Rundschau”, in der sie Mitglieder der Piratenpartei als “eine Ansammlung von zotteligen Typen” beschreibt. Sie schrieb damals: “Schwammige Figuren, ungesunder Teint, hässlich, mein Gott, da ist ja nix dabei! Man roch die vermieften T-Shirts regelrecht. Kein Wunder, dass keine Mädchen bei denen mitmachen. Ich verstehe jetzt auch, warum die Piraten keinen Wahlkampf mit Fotos veranstalteten – das Auge wählt schließlich mit.”

3. “Polizistenmord: Wie der Bayerische Rundfunk auf den Hund kam”
(augsburger-allgemeine.de, sbo)
Br.de illustriert eine Nachricht mit einem bearbeiteten dpa-Bild. Nebel wurde “durch ein diffuses Sonnenlicht ersetzt”, ein Schäferhund mitten in eine Gruppe von Bereitschaftspolizisten montiert. “Der Bayerische Rundfunk erklärt den Vorfall mir gegenüber mit einer internen Panne. Bei der Bildmontage handle es sich um eine Titelgrafik aus der Rundschau-Sendung im BR-Fernsehen.”

4. “Niveaulosigkeit”
(nullsummenspiel.tumblr.com, Pascal Paukner)
Pascal Paukner ärgert sich, wie Chris Köver in der Zeitschrift “Zeit Campus” über Jürgen Habermas beschreibt.

5. “Wir waren beim Fußball – und haben es überlebt”
(schwatzgelb.de, Sascha und Arne)
“Wer den Fußball komplett befrieden will, muss ihn seine Brisanz berauben – und damit auch all dem, was seine Faszination begründet”, schreiben Sascha und Arne in einem langen Artikel über Fußball und Gewalt. “Wenn sich Fangruppierungen auch abseits der Spiele bekriegen und jungen Fans auf dem Schulweg oder am Bahnhof aufgelauert wird, und wenn Täter in der Gruppe den unterlegenen Opfern die Fanutensilien rauben, dann ist das zweifelsohne bedenklich – seltsamerweise interessieren sich aber weder Polizei, noch Vereine, noch Medienvertreter für diese Ereignisse. Vielleicht sind sie einfach nicht spektakulär und medienwirksam genug?”

6. “Eine Frage des Geschmacks”
(karolinakuszyk.blogspot.com)
Karolina Kuszyk fragt ihre Freundinnen: “Was für Weisheiten haben euch eure Mütter mit auf den Weg gegeben?”

Schöner Einbrechen bei Facebook

Es ist eine beunruhigende Meldung, die Bild.de da verbreitet:

Facebook-Zahlen: Hacker knacken 600.000 Konten pro Tag

Die Meldung, die auch auf anderen Nachrichtenwebsites zu finden ist, stammt von der Nachrichtenagentur Global Press, die schreibt:

“Problemfälle” heißen sie offiziell bei Facebook – jeden Tag werden 600 000 Nutzer Opfer eines Identitätsdiebstahls, weil Hacker ihre Konten bei Facebook übernehmen.

Diese Zahl hat das größte soziale Netzwerk nun in einem Blog-Eintrag öffentlich gemacht und zugleich relativiert. Nur 0,06 Prozent aller täglichen Anmeldungen bei Facebook seien illegale Logins, da man jeden Tag rund eine Milliarde Zugänge zu registrierten Konten verzeichne. Das Netzwerk hat weltweit 800 Millionen Mitglieder.

Gehen wir mal der Reihe nach vor: Das Wort “Problemfälle” taucht in der Mitteilung von Facebook, die sich im wesentlichen um neue Sicherheits-Funktionen dreht, gar nicht auf. Auch die Zahl von 600.000 stammt nicht von Facebook selbst, sondern von verschiedenen Medien, die sie auf Grundlage einer Infografik von Facebook ausgerechnet hatten. Das war übrigens schon vergangenen Freitag, also in Internet-Zeit vor ein paar Monaten.

Das Wichtigste aber: Die Zahl von 600.000 steht nicht für geknackte Konten, sondern für die Versuche, Facebook-Konten zu knacken. Vereitelte Versuche, wohlbemerkt.

msnbc.com führt dazu aus:

Der Facebook-Blogeintrag enthält eine Infografik, die die erfolgreichen Bemühungen des Netzwerks darlegt, Spam, Konto-Entführungen und andere Übel zu bekämpfen. Darin sagt Facebook, dass nur “nur 0,06% der mehr als 1 Milliarde Logins pro Tag kompromittiert” seien. Die Seite sei in der Lage, die Anzahl der gestohlenen oder anderweitig gefährdeten Logins genau zu bestimmen, denn sie fordere die Möchtegern-Hacker mit zusätzlichen Authentifizierungsfragen heraus, indem sie Benutzer etwa bitte, Freunde auf Fotos zu identifizieren, sagte Sprecher Barry Schnitt.

“Das bedeutet, dass wir 600.000 mal am Tag einen Bösewicht davon abhalten, Zugriff auf ein Konto zu erhalten, obwohl er die Login-Daten und das Passwort eines Kontos erraten, ergaunert oder gestohlen hat”, sagt Schnitt. “Darauf sind wir sehr stolz.”

Eine unbekannte weitere Anzahl von Hack-Versuchen sei erfolgreich, sagte Schnitt, um hinzufügen, dass es sich dabei um “einen extrem geringen Prozentsatz” von Konten handle.

(Übersetzung von uns.)

Korrekterweise müsste die Überschrift also nicht “Täglich werden 600 000 Facebook-Konten geknackt” lauten, sondern “Täglich werden 600 000 Facebook-Konten nicht geknackt”. Denn die Anzahl der tatsächlich geknackten Konten kennt nicht mal Facebook. Sagen sie dort.

Mit Dank an Andreas N. und Josef Sch.

Schöner Einbrechen mit Facebook und Twitter

Endlich gibt es neue Zahlen, die beweisen, wie gefährlich Soziale Netzwerke sind.

78 Prozent der Einbrecher nutzen Facebook, Twitter oder Foursquare, um mögliche Ziele zu finden. 74 Prozent kundschaften die Nachbarschaft mit Google Street View aus.

Zumindest steht das auf “Welt Online”, im Online-Auftritt der “Braunschweiger Zeitung”, im Braanchendienst “Meedia” und auf diversen internationalen Nachrichtenseiten.

Niemand der Journalisten scheint sich gedacht zu haben, dass das doch erstaunlich hohe Zahlen sind. Und wenn sie es sich gedacht haben, wird es sie nur angespornt haben, sofort eine Meldung daraus zu machen, statt an der Plausibilität der Angaben zu zweifeln oder sie gar nachzurecherchieren.

Hätten sie es getan, wären sie nicht nur darauf gestoßen, dass die Umfrage unter 50 ehemaligen Einbrechern in Großbritannien keineswegs im Auftrag des “US-amerikanischen Online-Unternehmens ‘Credit Sesame’, das Kredite an Privatpersonen vergibt” (“Welt Online”) bzw. der “Finanz-Webseite Credit Sesame” (“Meedia”) durchgeführt wurde. Sondern von Friedland, einem britischen Hersteller von Alarmanlagen.

Auf dessen Internetseite hätten sie auch entdecken können, was die Umfrage unter den Ex-Einbrechern — anders als von “Credit Sesame” in einer “gelungenen Infografik” (“Meedia”) behauptet — tatsächlich ergeben hat:

78 Prozent sagten, sie hätten den starken Verdacht, dass Diebe heute soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter oder FourSquare nutzen. 74 Prozent vermuteten, dass Google Street View bei Einbrüchen heute eine Rolle spielt.

Man könnte aus den Zahlen sogar, mit etwas gutem oder bösem Willen, die Meldung machen: Ein Viertel der ehemaligen Diebe bezweifelt, dass Facebook oder Google Street View bei Einbrüchen überhaupt eine Rolle spielt.

Nachtrag, 17:50 Uhr. Der Online-Auftritt der “Braunschweiger Zeitung” hat den Fehler unauffällig ein bisschen verbessert.

Bild  

Die Braut, die sich was traut

Meine Damen und Herren, von den Machern von “Sack Reis in China” — die Nicht-Meldung des Jahrhunderts:

Braut schreibt SMS vor dem Traualtar. Los Angeles - Eine Braut aus Kalifornien (USA) war gerade am Arm des Vaters auf dem Weg zum Traualtar. Da zog sie plötzlich ihr Handy hervor, blieb stehen und tippte in aller Ruhe eine SMS ein. Die ganze Hochzeitsgesellschaft sah fassungslos zu. Wem und was sie schrieb, ist nicht bekannt. Die Trauung fand dennoch statt.

Es ist die Sorte bunte Meldung, die sich ein Redakteur zur Not ausgedacht haben könnte, um den noch freien Platz in der Spalte zu füllen — aber dafür ist sie eigentlich zu banal. Und tatsächlich hat sich die Geschichte so zugetragen. Also: so ähnlich.

Es gibt ein Video von dieser Begebenheit, das die “Huffington Post” am Wochenende verlinkt hatte. James Costa, ein Filmemacher aus New York, der das Video gedreht hatte, hat es inzwischen auf “privat” gestellt, doch es wurde bereits neu hochgeladen:

Okay, die Braut ist also nicht stehen geblieben, sondern stand schon, und es sieht auch eher so aus, als würde sie eine Nachricht lesen und keine schreiben.

abc zitiert den Kameramann mit den Worten:

Der Priester war damit beschäftigt, seine Eröffnungsworte vorzulesen und ihr Rücken war allen Anwesenden zugewandt. Ich war der Einzige, der sie sehen konnte.

(Übersetzung von uns.)

Und noch etwas hatte er laut abc bei YouTube geschrieben:

Das ist Teil eines Hochzeitsvideos, das ich im August 2008 am Mission Beach Women’s Club in San Diego, Kalifornien gedreht habe.

(Übersetzung von uns.)

Und das Video ist nicht nur mehr als drei Jahre alt, es stand auch schon seit Oktober 2009 online, wie die “International Business Times” berichtet.

Wir fassen zusammen: Vor mehr als drei Jahren hat eine Braut vor dem Traualtar stehend ihr Handy aus ihrem Dekolletee geholt, was damals kaum jemand mitbekommen hat.

Diese Geschichte geht jetzt um die Welt.

Lobbys, Minilöhne, Fördermittel

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “taz geht mit schlechtem Beispiel voran”
(blogs.taz.de/hausblog)
Vier taz-Redakteure schreiben auf, wo sie nach eigener Meinung “zu unbedarft oder unkritisch mit lobbygesteuerten Informationen” umgegangen sind.

2. “Wes Brot ich ess …”
(fastvoice.net, Wolfgang Messer)
Wolfgang Messer geht auf die taz-Aktion ein. Er glaubt, es wäre, “quer über den gesamten Journalismus”, erheblich weniger zeitaufwendig, “nur über die Fälle zu berichten, bei denen absolut keine Korruption im Spiel war, weil sie nämlich die verschwindend kleine Minderheit darstellen.”

3. “8 Gründe, warum die Macher von ‘Schwiegertochter gesucht’ in die Hölle kommen”
(faz-community.faz.net/blogs, Peer Schader)

4. “Die Lücke, die der Teufel ließ”
(katrinschuster.de)
“Spiegel Online” listet Branchen auf, die Minilöhne zahlen. Katrin Schuster vermisst eine.

5. “Im Sumpf der Subventionen”
(arte.tv, Video, 51:37 Minuten)
Wo kommen die Fördermittel der Europäischen Union an? Ein Film von Pierre-Emmanuel Luneau-Daurignac mit Skipisten auf Bornholm, “Butter” in Frankreich, Autobahnen in Süditalien und Günter Verheugen. Siehe dazu auch “Europe’s Hidden Billions” (thebureauinvestigates.com) und die Suchmaschine ft.com/eufunds.

6. “Post an Wagner: TV-Serie Borgia”
(paramantus.net)
Die “TV-Serie Borgia” antwortet auf einen Brief von Franz Josef Wagner: “Und was haben Sie, lieber Herr Wagner, überhaupt gegen die Sünden der Päpste? Verstört Sie vermutlich die Parallele zu aktuellen Skandalen, die Sie als Papst-Fan nicht wahrhaben wollen?”

Metall-Musik und Blech-Berichte

Heute ist Allerheiligen, ein sogenannter “Stiller Feiertag”, an dem in manchen Bundesländern keine Musikveranstaltungen stattfinden dürfen.

In Berlin ist heute ein ganz normaler Werktag, aber man kann es natürlich trotzdem unpassend finden, wenn eine als satanistisch geltende Black-Metal-Band “ausgerechnet” an Allerheiligen ein Konzert in der Hauptstadt spielt. Das ist dann allerdings eher eine Geschmacksfrage.

Der “Berliner Kurier” jedenfalls empörte sich gestern:

Die Ekel-Rocker glauben an Satan, sie pöbeln gegen Christen, halten sich für Übermenschen. Der Gitarrist der norwegischen Black-Metal-Band Gorgoroth ist wegen unerlaubten Waffenbesitzes vorbestraft, zwei Ex-Mitglieder zündeten Kirchen an. Diese Teufels-Jünger und andere Satanisten-Bands dürfen jetzt trotzdem im Kult-Club SO 36 in Kreuzberg auftreten. Ausgerechnet zu Allerheiligen!

Die Kreuzigung nackter Frauen gehört zur Bühnen-Show. Echte Schafsköpfe und eine Metzelei mit 80 Litern Schafsblut sorgten 2004 für einen Skandal um ein Konzert in Krakau. Die Norweger Gorgoroth liefern seit 1992 immer wieder Aufreger: “Black Metal ist die Musik Satans”, sagte Gitarrist Infernus. 2006 wurde er wegen Vergewaltigung angeklagt. Wer soll da verstehen, dass solche Leute jetzt vor Berliner Teenagern spielen dürfen?

Ja, wo kommen wir hin, wenn Menschen, die wegen Vergewaltigung angeklagt waren und von diesem Tatvorwurf freigesprochen wurden, vor Berliner Teenagern spielen dürfen?

Aber der “Kurier” wusste noch mehr:

“Diese Band gehört zur norwegischen Neonazi-Szene”, warnt Psychologe Peter Kratz (58) vom Berliner Institut für Faschismus-Forschung (BIFFF). Er mobilisiert mit einer öffentlichen Erklärung (“Erneut Nazi-Musik-Fest im Szene-Club SO 36”) gegen das Konzert am Dienstag. Auch die Vorgruppen Vader und Valkyrja sieht Kratz in diesem Dunstkreis. Etwa weil Fans im Internet Runen-Zeichen benutzen, die Nazi-Symbolen ähneln.

Das “Berliner Institut für Faschismus-Forschung” ist ein eingetragener Verein, dessen Vorsitzender Peter Kratz in der Vergangenheit immer wieder durch Faschismus-Vorwürfe an unterschiedlichste Adressaten aufgefallen ist. Wobei “aufgefallen” vielleicht die falsche Formulierung ist: Bis auf ein paar Berliner Lokalzeitungen haben Kratz und sein “Institut” nie so recht die erhoffte Öffentlichkeit erreichen können. Forschungergebnisse im wissenschaftlichen Sinne kann das “BIFFF” nicht vorweisen, stattdessen arbeitet es sich in namentlich nicht gekennzeichneten Beiträgen vor allem am Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit ab.

Die “Berliner Morgenpost” bemerkte 1999 in einem anderen Fall:

Ohne zu dem Streit um die Ausstellung Stellung zu nehmen, erklärten anerkannte Berliner Faschismusforscher, daß ihnen weder das BIFFF noch Peter Kratz bekannt seien

Bereits im Jahr 2009 hatte das “BIFFF” gegen ein Metal-Konzert im SO 36 gewettert, was die damals teilnehmende Band Moonsorrow dazu veranlasste, sich “gegen Faschismus und jegliche Beschränkung der freien Meinungsäußerung” auszusprechen.

Jetzt schlägt Kratz die norwegische Band Gorgoroth und ihre Vorgruppen der “Nazi-Musik-Szene” zu. Seine beeindruckende Beweisführung: Bei MySpace und YouTube hätten Fans der Bands Profilbilder, in denen Symbole vorkommen, die von Neonazis verwendet würden.

Entsprechend bemühte sich sogar der “Berliner Kurier” um eine Relativierung der Anschuldigungen:

Diese knallharten Vorwürfe mögen überspitzt klingen, zumal Gorgoroth-Gitarrist Infernus im Interview klarstellte: “Ich bin persönlich gegen Rassismus in Theorie und Praxis.” So gibt es auch viele links stehende Metal-Fans, die das bierselige Teufels-Treiben eher als provokante Ballermann-Party begreifen. Und die gegrunzten Texte versteht ja ohnehin keiner.

Heute nun berichtet Bild.de über das anstehende Konzert und baut dafür auf den “Kurier”-Artikel und den Wikipedia-Eintrag von Gorgoroth auf. Die Distanzierung vom Rassismus hat Bild.de allerdings unter den Tisch fallen lassen.

Um der Berichterstattung von “Berliner Kurier” und Bild.de entgegenzutreten, hat das SO 36 heute eine Stellungnahme verschickt. Darin heißt es unter anderem:

1. Wir veranstalten keine Nazibands und werden es in Zukunft auch nicht tun.
2. Wir nehmen grundsätzlich alle Fragen und Hinweise bezüglich faschistischer Aktivitäten ernst, egal aus welcher Ecke sie kommen.
3. Selbstverständlich haben wir wie immer im Vorfeld umfassend recherchiert und uns sowohl bei Kennern der Musikszene (insbesondere der Metalszene) als auch bei Experten für rechtsorientierte Strömungen rückversichert.
4. Wir führen seit Jahren in Kooperation mit der Antifa strenge Einlasskontrollen an der Tür durch, dabei wird insbesondere auf Nazigesichter und Nazisymbole geachtet. Diese Personen kommen definitiv nicht rein.
5. Das SO36 bleibt weiterhin ein Forum für alle Musikrichtungen, wir verwehren uns dagegen, ganze Musikrichtungen auszugrenzen und in die rechte Ecke zu schieben. Nazis allerdings bleiben draußen. Wir wollen jungen Metalfans einen Raum bieten fern ab von faschistoiden, rassistischen, sexistischen und homophoben Strömen, um eventuell gefährdeten jungen Menschen eine Alternative auf zu zeigen.
6. Unsere Recherchen gehen weiter, sollten sich dennoch stichhaltige Beweise finden, die die Vorwürfe bestätigen, behalten wir uns vor das Konzert abzusagen.

An die Adresse von “Instituts-Chef” Peter Kratz heißt es:

Herr Kratz behauptet, die Band Gorgoroth verbietet die Veröffentlichung ihrer Texte im Internet, jedoch reicht die einfache Eingabe “Gorgoroth Lyrics” bei einer Suchmaschine im Internet, um die Texte der Band zu lesen.

Der Stellungnahme beigelegt ist ein Leserbrief, den Jakob Kranz, Redakteur der Zeitschrift “Metal Hammer” sowie Moderator und Redakteur der Musiksendung “Soundgarden/Stahlwerk” bei Radio Fritz, an den “Berliner Kurier” geschickt hat. Darin schreibt er:

Ich beschäftige mich seit mehr als 25 Jahren mit der Heavy Metal-Szene, und bin der bescheidenen Meinung, mir hierüber ein Urteil erlauben zu dürfen. 

Mit großer Empörung habe ich Ihren Artikel vom 30.10. über “Das Festival der Ekelrocker” gelesen. Mich erstaunt vor allem, dass Sie die Zitate von Herrn Kratz unkommentiert veröffentlichen. (…)

Gorgoroth waren nie Teil der norwegischen Neonazi-Szene, diese Behauptung ist falsch. Ebenso ist es falsch, dass die Vorgruppen Vader und Valkyrija aus diesem Dunstkreis stammen. Die konstruierten Zusammenhänge von Herrn Kratz sind schichtweg (sic!) Unsinn.

Mit Dank an Philipp O., Widerspenst und Christian N.

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