Archiv für November 7th, 2011

dapd  

Apropos Schwachsinnsanteil

Die “Nachrichtenagentur” dapd verschickte gestern um 14.38 Uhr eine “Berichtigte Neufassung” eines zuvor versendeten Artikels. “(korrigiert: Zitat Schmelzer, 3. Absatz)” stand da und die korrigierte Fassung las sich so:

“Die Bayern wissen, dass sie die beste Mannschaft Deutschlands sind. Wir wissen es auch. Wir wissen aber auch, was wir können”, sagte Marcel Schmelzer. Eine Diktion, die man in Dortmund schätzt. “Wir hatten noch nie diesen Schwachsinnsanteil in unseren Aussagen. Wir sind froh, dass wir in der Spitzengruppe sind”, sagte Klopp auf die Frage, ob man nun auf Augenhöhe mit dem Rekordmeister sei.

Alle hielten sich an die vorsichtigen Wort-Varianten, obwohl man durchaus selbstbewusster nach der jüngsten sportlichen Entwicklung auftreten könnte.

In der ursprünglichen Version anderthalb Stunden zuvor hatte das noch ein bisschen anders geklungen — so anders, dass die Formulierung “(korrigiert: Zitat Schmelzer, 3. Absatz)” vielleicht ein klein wenig untertrieben war:

“Wir sind die Bayern-Jäger Nummer eins. Die Bayern wissen, dass wir die beste Mannschaft Deutschlands sind. Wir wissen es auch”, sagte Marcel Schmelzer. Ausgerechnet der Nationalverteidiger, der ansonsten einer stillen und bedachten Gilde angehört, haute so etwas wie eine Kampfansage raus. Eine Diktion, die man in Dortmund eigentlich nicht schätzt. “Wir hatten noch nie diesen Schwachsinnsanteil in unseren Aussagen. Wir sind froh, dass wir in der Spitzengruppe sind”, sagte Klopp auf die Frage, ob man nun auf Augenhöhe mit dem Rekordmeister sei.

Bis auf Schmelzer hielten sich alle anderen an die vorsichtigen Wort-Varianten, obwohl man durchaus selbstbewusster nach der jüngsten sportlichen Entwicklung auftreten könnte.

Mit Dank an Jan.

Die egalsten Nicht-Fakten über Stars

Zu den Vorteilen des Internets gehört, dass es dort quasi keine Platzbeschränkung gibt. Anders als in Zeitungen, Radio- und Fernsehsendungen kann man online also so viel veröffentlichen, wie man will. Das gehört zu den Nachteilen des Internets.

Der Online-Journalismus hat der Welt Klickstrecken und Listen beschert, die dann wiederum als Quellen für neue Klickstrecken und Listen fungieren können. Gemeinsam mit dem Klatsch-Journalismus, der im Netz noch bunter und wilder wuchert als in Wartezimmer-Zeitschriften (aber leider bedeutend länger haltbar ist), ergibt sich daraus eine Trash-Melange, bei der es den Erstellern vermutlich am egalsten ist, ob daran überhaupt irgendetwas stimmt.

Das bringt uns zu stylebook.de, das “Magazin für Stars, Fashion, Beauty” der Axel Springer AG und “powered by Bild.de”:

Klobrillen-Phobie,Tassen-Tick... Die lustigen Spleens der Stars. Lady Gaga (25) hat im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr alle Tassen im Schrank, Madonna (53) liebt es absolut keimfrei und Justin Timberlake (30) braucht es frisch um die Lenden. Welcher Star mit welcher Macke lebt – STYLEBOOK klärt Sie auf!

“Stylebook” will uns also aufklären. Na, dann mal los:

Wenn Pop-Ikone Madonna (53) unterwegs ist, fordert sie bei jedem Toilettenbesuch eine neue Klobrille. Sie liebt es keimfrei, da muss im Notfall schon mal der Privatklempner vorbeikommen…

Nun ist es schwer, zu solchen Themen auch nur ansatzweise seriöse Quellen zu finden, aber es sieht so aus, als fordere Madonna nicht “bei jedem Toilettenbesuch” eine neue Klobrille, sondern nur an jedem Ort, an dem sie auftritt. Also: “nur”.

Man mag denken, echte Kerle wie “X-Men”-Star Hugh Jackman (43) und Rockstar Axl Rose (49) hätten vor nichts und niemandem Angst. Doch wenn Jackman auf eine Spielzeugpuppe trifft, macht sich bei ihm Angst breit. Wahrscheinlich die gleiche Art von Panik, die Axl Rose überkommt, wenn er einen bestimmten Buchstaben hört. Denn für den Sänger ist das “M” verflucht. Pech, für alle Fans aus München oder Miami. Hier würde er nie auftreten.

Hugh Jackmann fürchtet sich – wenn man der Quelle trauen darf – vor Kinderspielzeug, das “auf der Leinwand zum Leben erwacht”. Diese Angst geht auf den Horrorfilm “Chucky — Die Mörderpuppe” zurück, den er als Kind gesehen haben will (Jackmann war 20, als der Film herauskam).

Was Axl Rose angeht: Dessen angebliche “M”-Phobie ist zwar ein beliebter Programmpunkt in Klickstrecken zu Promi-Spleens, aber hier mal ein paar Konzerttermine von Guns N’ Roses in den letzten Jahren:

13.11.2011 Minneapolis, Minnesota
23.10.2011 Monterrey, Mexiko
19.10.2011 Mexiko Stadt, Mexiko
18.10.2011 Mexiko Stadt, Mexiko
18.03.2010 Montevideo, Uruguay

Mit Dank auch an Sabrina T.

Sterben live

Vor zwei Jahren wurde “Bild” vom Presserat wegen “unangemessen sensationeller” Berichterstattung zum Tod von Michael Jackson gerügt. Zu der Überschrift “Hier verliert er den Kampf um sein Leben” zeigte die Zeitung damals ein riesiges Foto, auf dem Jackson auf einer Trage liegend und an Beatmungsgeräte angeschlossen zu sehen war. Da dadurch bei Lesern der Eindruck entstehe, einem Menschen unmittelbar beim Sterben zuzusehen, sah der Beschwerdeausschuss darin einen Verstoß gegen die Menschenwürde (BILDblog berichtete).

Hat die Rüge gefruchtet? Nun, das mit dem “beim Sterben zusehen” scheint immer noch spannend genug zu sein, um es auf der Startseite von Bild.de so anzuteasern:

FEUER IM FLUCHTMOBIL Hier verbrennen zwei Bankräuber

Im gut bebilderten Artikel heißt es:

Das Feuer lodert aus dem Dach des Wohnmobils, im Innenraum liegen zwei Bankräuber. Unklar, ob die beiden Männer schon tot sind, als das Feuer ausbricht, oder ob sie Opfer der Flammen werden.

Fehlen nur noch Chips und Bier …

Mit Dank an Christian S.

WDR  

Es ist zum Haare färben

Falls es jemanden betrifft:

Keine feuerroten Haare mehr für junge Ladies, kein neongrüner Look für junge Punks. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit – und auch von den meisten Frisören – gilt schon seit dem 01. September eine neue Verordnung, die das Haare färben bei Unter-16-Jährigen untersagt. Frisöre müssen sich jetzt den Pass ihrer jungen Kunden zeigen lassen, andernfalls könnten sie sich strafbar machen. Bislang sind aber nur die Wenigsten informiert, die neue Regelung steht gerade mal ganz klein gedruckt in den Gebrauchsanweisungen der Färbeprodukte.

Gut, dass es den Westdeutschen Rundfunk gibt, der es doch noch nach zwei Monaten bemerkt hat und nun im Regionalfernsehen und im Radio verkündet, dass jetzt “Haarefärben für Unter-16-Jährige tabu” sei.

Der WDR hat eine glaubwürdige Quelle für diese Nachricht:

“Seit dem 1. September sind Haarfärbungen mit Oxidationsfärbemitteln, aber auch anderen Haarfarben für Jugendliche aufgrund der Kosmetik-Verordnung untersagt,” informiert der Zentralverband des deutschen Frisörhandwerks in einem Schreiben an die Frisör-Salons. Grund sind haarverändernde Substanzen in chemischen Haarfarben, Phenylendiamine, die allergische Schocks verursachen können.

Eine Obermeisterin der Friseurinnung in Münster darf sich vor laufender Kamera darüber ärgern, dass sie erst vor wenigen Tagen von der neuen Regelung erfahren habe. Sie sei von den Herstellern vorher gar nicht über die neuen Richtlinien informiert worden.

Die Warnhinweise auf den Haarfarbe-Packungen in der Drogerie seien “fast nur mit der Lupe zu erkennen” führt der WDR aus:

“Haarfärbemittel können schwere allergische Reaktionen hervorrufen, dieses Produkt ist nicht für Personen unter 16 Jahren bestimmt”, steht auf den Packungen, und damit müssten eigentlich auch die Verkäufer in den Drogerien kontrollieren, wie alt die Käufer der Haarfarben sind, genau wie bei Alkohol und Zigaretten, fordert Frisörmeisterin Rosemarie Ehrlich eine konsequente Umsetzung der neuen Haarfärberichtlinie: “Dm (sic!) Drogeriebereich finde ich das viel kritischer, da kann man kaufen was man möchte im Moment auch noch, ich habe mich extra erkundigt in der Nachbarschaft, das Problem ist, dass wir keine Kontrolle haben, und die Mädels und manche Jungen machen das, und wir Friseure müssen das richten.”

Vielleicht hätten sich die Reporter des WDR nicht auf eine Friseurmeisterin verlassen sollen, die einen Brief bekommen und sich in der Nachbarschaft erkundigt hat, sondern noch ein bisschen gründlicher recherchieren sollen.

Zum Beispiel in der Anlage 2 der Verordnung über kosmetische Mittel. Dort steht etwa, dass die “Obligatorische Angabe der Anwendungsbedingungen und Warnhinweise auf der Etikettierung” z.B. so auszusehen habe:

Haarfärbemittel können schwere allergische Reaktionen hervorrufen.
Bitte folgende Hinweise lesen und beachten:
Dieses Produkt ist nicht für Personen unter 16 Jahren bestimmt.
Temporäre Tätowierungen mit “schwarzem Henna” können das Allergierisiko erhöhen. Färben Sie Ihr Haar nicht,
– wenn Sie einen Ausschlag im Gesicht haben oder wenn Ihre Kopfhaut empfindlich, gereizt oder verletzt ist;
– wenn Sie schon einmal nach dem Färben Ihrer Haare eine Reaktion festgestellt haben;
– wenn eine temporäre Tätowierung mit “schwarzem Henna” bei Ihnen schon einmal eine Reaktion verursacht hat.

Enthält Phenylendiamin. Nicht zur Färbung von Wimpern und Augenbrauen verwenden.

Die Spalte “Weitere Einschränkungen und Anforderungen”, in der mögliche Altersbeschränkungen sonst verzeichnet werden, ist bei den Inhaltsstoffen für Haarfärbemittel leer. Produkte mit diesen Inhaltsstoffen dürfen also von jedem verwendet werden.

P&G Salon Professional, eine Unterabteilung von Procter & Gamble, hat bereits vor dem WDR-Bericht eine Informationsschrift für Friseure veröffentlicht, in der es unter anderem heißt:

Es sei kein Verbot, Jugendlichen unter 16 Jahren die Haare zu färben, folglich seien solche Färbungen auch nicht strafbar, teilt P&G mit. Dies habe man von einer namhaften Wirtschaftskanzlei prüfen und ein entsprechendes Gutachten erstellen lassen.

Mit dem Hinweis “Dieses Produkt ist nicht für Personen unter 16 Jahren bestimmt” werde sichergestellt, dass Verbraucher eine bewusste und verantwortungsvolle Entscheidung bei Farbbehandlungen fällen. Der Friseur müsse also, wie auch bisher, die Verbraucher über die bestehenden Risiken aufklären.

Da alle Wella-Produkte einer strengen Sicherheitskontrolle unterzogen würden, sei der Gebrauch von Haarfärbemitteln auch bei Kindern sicher, entwickelt worden seien sie aber für die Bedürfnisse von Erwachsenen. Gemäß der EU-Färbemittelrichtlinie, die davon ausgeht, dass man aber einem Alter von 16 Jahren reif genug ist, um das allergische Risiko einschätzen zu können, werde dies nochmals im Warnhinweis betont.

Das Bundesministerium für Verbraucherschutz schrieb uns auf Anfrage:

Um die Verbraucher besser über die möglichen Wirkungen von Haarfärbemitteln zu informieren und das Risiko der Sensibilisierung zu reduzieren, wurden für oxidierende Haarfärbemittel und bestimmte nicht oxidierende Haarfärbemittel, die stark und sehr stark sensibilisierende Stoffe enthalten, zusätzliche verpflichtende Warnhinweise vorgeschrieben. Hierbei ist auch der Hinweis enthalten, dass entsprechende Produkte nicht für Personen unter 16 Jahren bestimmt sind.

Die Warnhinweise richten sich an Endverbraucher und Anwender, dazu zählen auch Frisöre. Sofern die entsprechenden Produkte von Frisören bei Personen unter 16 Jahren angewendet werden sollten, tragen Frisöre ein deutlich höheres Haftungsrisiko nach dem Zivilrecht.

Neu in Verkehr gebrachte Haarfärbemittel müssen von den Herstellern ab dem 1. November 2011 mit diesen Warnhinweisen versehen werden. Für Produkte, die sich bereits auf dem Markt befinden, besteht eine Abverkaufsfrist bis 1. November 2012.

Heißt: Wer als Friseur einem Kunden unter 16 die Haare färbt, geht ein “deutlich höheres” Risiko ein, verklagt zu werden, wenn es zu gesundheitsschädlichen Folgen kommt. Wer sich die Haare selber färbt, trägt das Risiko sowieso selbst. Strafrechtlich haben nur Hersteller und Händler etwas zu befürchten, da es sich um eine Ordnungswidrigkeit handelt, Produkte ohne vorgeschriebene Warnhinweise vorsätzlich oder fahrlässig in Verkehr zu bringen.

Ganz ähnlich wie bei den Luftballons vor ein paar Wochen (BILDblog berichtete) geht es also nicht darum, bestimmten Altersgruppen die Verwendung eines Produkts zu untersagen.

All das hat der WDR nicht herausgefunden — und auch die Medien nicht, die die Meldung jetzt nachplappern.

Mit Dank an Sanni.

Page Impressions, Altkleider, Wetten, dass…?

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Eine Frage der Einstellung”
(fernsehlexikon.de, Michael Reufsteck)
Michael Reufsteck denkt nach über ein Thema, das deutsche Medienjournalisten derzeit mehr als alles andere interessiert: Die Regelung der Nachfolge von Thomas Gottschalk bei “Wetten, dass…?”.

2. “Die Sackgasse Page Impression und ihre Folgen für den Journalismus”
(blogs.tageswoche.ch, David Bauer)
“Sogenannte Klickmonitoren haben in den meisten Onlineredaktionen Einzug gehalten und zeigen den Journalisten in Echtzeit an, welche Geschichten gut ‘performen’ und welche nicht: Sie zeichnen ein Zerrbild dessen, was die Leute interessiert, und liefern den Medienmachern falsche Anreize. Wer es auf Page Impressions anlegt, muss nur erreichen, dass seine Leser auf die Anrisse klicken. Leser klickt, Werbung lädt, Kasse klingelt.”

3. “Des Kaisers neue Kleider”
(dynamofanz-grug.de)
Fußball: Ein Fan von Dynamo Dresden fragt: “Wieso halten sich 15 Festnahmen zwei Wochen lang in den Nachrichten, während man von 90 Festnahmen bei anderen Spielen noch nicht einmal etwas zu hören bekommt?”

4. “New York, Tag 9”
(hermsfarm.de)
Eine Aufzeichnung von “The Daily Show” in New York: “Jon Stewart ist erstaunlich klein, er geht mir schätzungsweise bis zum 3. Rippenbogen und sein Jackett ist länger als seine Beine. Immer diese kleinen Fernsehmenschen. Dafür ist er tatsächlich so überdreht und lustig wie man es von ihm vermutet. Als wäre er ein Wrestler, nur eben etwas kleiner und im Jackett.”

5. “Media Reacts To Conan’s Same-Sex Wedding News”
(youtube.com, Video, 2:52 Minuten)
Wie US-TV-Sender die Ankündigung einer Hochzeit in der Late-Night-Talkshow “Conan” aufnehmen (“to push the envelope”: “bis an die Grenze gehen”).

6. “Die Altkleider-Lüge”
(ndr.de, Video, 28:55 Minuten)
Kleiderspenden aus Deutschland bedrohen die Textilindustrie in Tansania: “Längst haben die Altkleiderspenden aus den Industrieländern den größtmöglichen Schaden in Tansania angerichtet.” Siehe dazu auch “Das Kilo für 1,20 Dollar” (zeit.de, Michael Höft).