Archiv für März 16th, 2010

Fahrenheit 9/9

Es gibt bestimmte Ereignisse, da weiß man einfach, wo man war, als man davon erfuhr: Die Älteren erinnern sich an Bern ’54, die Ermordung John F. Kennedys oder die Mondlandung, Jüngere immerhin noch an den Mauerfall, den Tod von Prinzessin Diana oder die Terroranschläge in New York und Washington am …

Na …

Ach ja:

Vom Anschlag an den Spielen in München 1972 über den 9. September 2001 bis zu den jüngsten Zwischenfällen im US-Luftraum spannt sich ein Bogen von Ereignissen, der nicht nachlassende Aufmerksamkeit erfordert.
(“Neue Zürcher Zeitung”, 2. Februar)

Aber so einfach ist es nicht: Der "War on terror", mit dem Washington auf den 9. September 2001 reagierte, war nicht allein die Sache der Amerikaner.
(“Tagesanzeiger”, 4. Februar)

Die Erinnerungen ans World Trade Center sind unweigerlich mit den Anschlägen vom 9. September 2001 verbunden.
(bazonline.ch, 24. Februar)

Dieser erinnerte an den Nato-Beitrittsfall, der nach dem 9. September 2001 von den USA ausgerufen wurde und zum Einmarsch in Afghanistan führte.
(“Südkurier”, 2. März)

Die Terroranschläge vom 9. September 2001 haben jedoch die Bedingungen für professionelle Flieger verändert.
(“Hersfelder Zeitung”, 12. März)

Die Terrorakte vom 9. September 2001 betrachtet er als verwandte Verbrechen.
(“Neue Zürcher Zeitung”, 16. März)

Er entwickelte eine Strategie des "kalkulierten Terrors, der Souveränen, Fürsten, Generalen und Gouverneuren einen schnellen Tod brachte", wie es der britische Historiker Bernard Lewis in seiner großen Studie "Die Assassinen. Zur Tradition des religiösen Mordes im radikalen Islam" formulierte, deren Erstausgabe 34 Jahre vor den Anschlägen vom 9. September 2001 erschien.
(“Die Welt”, 16. März)

Mit Dank auch an Rahel Z.

Perlen vor die Geisterhunde

Sie haben die Nachricht sicher gehört, die das britische Königshaus und die Welt erschüttert: Otto, der schwarze Cocker-Spaniel von Kate Middleton, hat ein Paar Ohrringe gefressen, das Prinz William seiner Freundin zum Geburtstag geschenkt hatte.

Die britische Boulevardzeitung “Mail on Sunday” enthüllte das Drama am vorvergangenen Sonntag auf ihrer Titelseite. Der “Daily Telegraph” kopierte die Informationen und Zitate in sein Internet-Angebot und die gedruckte Ausgabe am nächsten Tag. Von dort übernahm sie die deutsche Nachrichtenagentur dpa und sorgte dafür, dass neben zahlreichen OnlineMedien auch “Berliner Zeitung” und “Tagesspiegel” ein paar Tage später ihre Leser über das Ereignis informieren konnten.

Der Ursprungsartikel der “Mail on Sunday” beschreibt unter Berufung auf einen anonymen “Freund” in großer Detailfreude, wie plötzlich die sehr, sehr wertvollen Schmuckstücke vom Nachttisch verschwunden waren und dass Kate Middleton ihren Otto verdächtigte, sie gefressen zu haben. Sie sei daraufhin immer wieder mit ihm Gassi gegangen, bis die Ohrringe auf natürlichem Weg wieder ans Tageslicht kamen — allerdings völlig zerkaut.

Es ist eine tolle Geschichte, wäre da nicht ein lästiges Detail: Kate Middleton hat gar keinen Hund.

Die “Mail” hat inzwischen vage eingeräumt, dass ihr Artikel Fehler enthalte, und ihn von ihrer Internetseite entfernt — “aus Höflichkeit”. Auch der “Daily Telegraph” behauptet zumindest nicht mehr, dass es Otto gewesen sei, sondern, wenn überhaupt, dessen Hundeschwester Ella, die Kate Middletons Familie gehöre.

Die “Mail” will ihren Artikel der für Prinz William zuständigen Pressestelle des Königshauses vorgelegt haben, die ihr aber keinen Wink gegeben habe, dass die Geschichte unwahr sei. Vermutlich haben die Pressesprecher der Zeitung nur dasselbe gesagt wie der dpa: kein Kommentar. Und obwohl das offenbar die Standard-Antwort ist auf Anfragen, die Kate Middleton betreffen, scheint auch dpa die Nicht-Antwort als praktisches Indiz genommen zu haben, dass eine Geschichte ohne vertrauenswürdige Quelle, aber ohne Dementi, schon stimmen wird — obwohl sich auf Nachfrage von BILDblog herausstellt, dass auch bei der Nachrichtenagentur niemand weiß, ob Kate Middleton überhaupt einen Hund hat, geschweige denn, was für Schmuck er so frisst.

Das allerdings ist nichts gegen die Meldung, die das Nachrichtenmagazin “Bunte” in seinem Online-Ableger veröffentlichte. Die Kollegen nutzen freie Recherchekapazitäten von ihrer eigentlichen Arbeit als Staatsaffären-Enthüller ja gelegentlich, um Klatschgeschichten nachzugehen. Und sie erfanden auf der Grundlage des “Mail on Sunday”-Märchens in der “Daily Telegraph”-Version einfach ihre eigene Lügengeschichte, verlegten den Vorfall von Januar in die Gegenwart und verzichteten auch auf die eklige Episode vom Durchsuchen des Hundekots: Bei bunte.de werden die Ohrringe nur durchgekaut, aber nicht heruntergeschluckt. Und damit es zu ihrer Version der Ereignisse passt, machten die “Bunte”-Leute aus dem Original-Zitat Prinz Williams, Kate müsse halt einfach warten, bis der Schmuck hinten wieder rauskommt, kurzerhand einen Konjunktiv: Kate hätte doch einfach warten sollen, bis der Schmuck hinten wieder rauskommt.

Anderseits: Warum soll man bei einer Geschichte, die eh falsch ist, bei der “Wahrheit” bleiben?

Mit Dank an “Tabloid Watch”.

Geheimdienstkrämerei um den CCC

Es gibt Meldungen, da braucht man nicht viel mehr als 140 Zeichen, um zu wissen, wer im Recht und wer im Unrecht ist:

Nach ergangener Einstweiliger Verfügung behauptet die Axel Springer AG nun nicht mehr, der #CCC würde für den #BND arbeiten.

Auf der einen Seite die Springer-Presse, deren Angestellte scheinbar ständig die Grenzen des Journalismus und des menschlichen Anstands ausloten, auf der anderen Seite der Chaos Computer Club, galaktische Gemeinschaft und Retter der Bürgerrechte. Wer da zweifellos Recht hat, ist doch klar, oder?

Doch worum geht es? In der “Berliner Morgenpost” und im Online-Angebot der “Welt” war am 3. März ein Artikel erschienen, der ein desaströses Bild von der Einsatzfähigkeit deutscher Sicherheitsbehörden im Anti-Terror-Kampf zeichnete. Überschrift: “Ohne USA geht bei der Terrorbekämpfung nichts”.

Darin enthalten war diese verfängliche Textstelle:

Heute soll Pullach nicht einmal in der Lage sein, sich in moderne Computer zu hacken. Entsprechende Aufträge würden deshalb an externe Spezialisten wie den Chaos Computer Club (CCC) vergeben. Dieser dementiert das allerdings und spricht von Gerüchten.

Für die Hacker des CCC erschien dies als enorme Provokation, verbindet sie mit den Geheimdiensten aller Art nicht nur eine grundlegende Abneigung, sondern auch traumatische Erinnerungen.

CCC-Mitglied Felix von Leitner machte seiner Empörung Luft:

Wir sprechen nicht von Gerüchten, sondern von aktiver Desinformation, um unseren guten Namen zu beschmutzen.

Das Landgericht Berlin schloss sich der Argumentation des Chaos Computer Clubs an und verbot der Axel Springer AG am 9. März unter Androhung eines Ordnungsgeldes von bis zu 250.000 Euro oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, das Gerücht zu wiederholen. Wie gewohnt gibt sich die Axel Springer AG bei Rechtsstreitigkeiten in eigener Sache sehr zugeknöpft: “Wir bewerten derzeit den aktuellen Sachverhalt und prüfen, ob wir Rechtsmittel einlegen”, erklärt ein Sprecher gegenüber BILDblog.

Der Artikel verschwand daraufhin aus dem Angebot von “Welt Online”, im Online-Angebot “Morgenpost” wurde er entschärft — vom Chaos Computer Club ist nun nicht mehr die Rede.

Doch auf den zweiten Blick ist die Verteilung von Gut und Böse nicht mehr so eindeutig. Es ist zwar möglich, dass die Information einer vermeintlichen Zusammenarbeit zwischen CCC und BND gezielt gestreut wurde — für einen Frontalangriff der “Springer-Presse” wäre dieses Vorgehen zumindest ungewohnt subtil: Das Gerücht war im Konjunktiv wiedergegeben, erschien an einer unscheinbaren Stelle im Text und das Dementi des CCC schloss direkt an. Kampagnen sehen anders aus.

Dass Journalisten nun die Wiedergabe eines Gerüchts verboten wurde, ist auch im Hinblick auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs zur Haftbarkeit bei der Verbreitung fremder Äußerungen vom November 2009 juristisch fragwürdig. Auch muss sich der CCC fragen lassen, was durch die Gerichtsentscheidung erreicht wurde: Der Artikel wird nicht ungelesen, die Unterlassungsverfügung verschließt die Diskussion darüber auf möglichst intransparente Weise. Zudem wurde der Chaos Computer Club einst auch zu dem Zweck gegründet, anonymen Informanten einen Weg in die Öffentlichkeit zu bahnen. Wenn solche Aussagen allzu einfach per Gericht aus der Öffentlichkeit verbannt werden können, wird aus dem juristischer Erfolg vielleicht schon bald ein Pyrrhussieg.

Perlentaucher, Bunte, Sport-Tag

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Fantasie über die Zukunft des Schreibens”
(perlentaucher.de, Thierry Chervel)
Der “Perlentaucher” wird 10 Jahre alt und liest dazu einen Artikel über Amazon in der “Süddeutschen Zeitung” von 2001: “Schon heute dürfte Amazon in die Netz-Geschichte als eines der am stärksten überschätzten Unternehmen eingehen, ein Riesenbluff, der im Vertrauen auf den steigenden Aktienkurs wirtschaftete und die Aktionäre nicht mit Bilanzen versöhnte, sondern mit den Anekdoten und dem ansteckenden Lachen des Firmengründers Jeff Bezos.”

2. Interview mit Thierry Chervel
(meedia.de, hs)
Thierry Chervel wundert sich, warum nur so wenige Journalisten ins Internet drängen. “Als wir den Perlentaucher gegründet haben, dachten wir, da tut sich ein riesiges Pionierland auf und alle Journalisten werden sich darauf stürzen, um sich aus den traditionellen Hierarchien zu lösen. Am Ende standen wir dann ein bisschen alleine da.”

3. “‘Bunte’ bringt falschen Oscar auf den Titel”
(wuv.de)
Auf der Titelseite der aktuellen Ausgabe der “Bunte” prangt eine “Goldene Spectra”, eine Auszeichnung, die die Zeitschrift “jede Woche in ihrer Print-Kolumne ‘Die Bunte-Woche’ selbst vergibt”. Illustriert wird damit die Geschichte “Oscar-Gewinner Christoph Waltz – Unser neuer Weltstar”.

4. “Augen zu statt gerade aus beim ‘Focus'”
(indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
“Print-Häuser sollten sich jene Redakteure schnappen, die in einem besonderen Bereich besonderes Wissen und besondere Leidenschaft entwickelt haben. Denn sie sind es, die ihre Redaktion von anderen unterscheidet. Sie sind es, die motivierter sind.”

5. Interview mit Ai Weiwei
(dradio.de, Liane von Billerbeck)
Der chinesische Künstler Ai Weiwei verteidigt die Möglichkeiten des Internets: “Sie können im Westen durchaus skeptisch gegenüber den Möglichkeiten des Bloggens, des Internets sein, aber im Osten sieht die Lage ganz anders aus. (…) Das Bloggen ist für uns ein Lichtstrahl in einem vollständig dunklen Zimmer und deshalb schätzen wir es auch so stark. Wir hängen sogar davon ab.”

6. Interview mit Michael Hahn
(tagesspiegel.de, Lucas Vogelsang)
Michael Hahn, Verleger der neu erscheinenden täglichen Sportzeitung “Der Sport-Tag”, hegt keine Zweifel am Zeitungsgeschäft. “Und ich kann Ihnen versichern, dass nicht einmal meine Enkel in der U-Bahn von iPad-Menschen umgeben sein werden. Das garantiere ich Ihnen, auch wenn es vielleicht nicht in Ihr Weltbild passt.”