Archiv für März 10th, 2010

Bild  

Der tote “Grand-Prix-Kandidat” von Seite 1

Mark Pittelkau, einer der Chefreporter der “Bild”-Zeitung und sowas wie ihr Grand-Prix-Beauftragter, ist bei dem von Stefan Raab organisierten deutschen Vorentscheid eine unerwünschte Person. Wenn das Blatt bei den Pressekonferenzen von “Unser Star für Oslo” dabei sein will, muss es einen anderen Vertreter schicken.

Das ist nicht gerade förderlich für eine faire oder gar freundliche Berichterstattung in “Bild”, aber die erwarten die Leute um Raab von der Zeitung im Allgemeinen und Pittelkau im Besonderen ohnehin schon lange nicht mehr.

Eine einschneidende Erfahrung liegt zehn Jahre zurück: Damals vertrat Stefan Raab Deutschland beim Song Contest in Stockholm. Einen Tag vor dem Wettbewerb veröffentlichte “Bild” einen Artikel, der laut Raab frei erfunden war. Pittelkau hatte unter anderem behauptet, dass zwei 16-Jährige Mädchen Raab in Stockholm mit den Worten “Hadder denn da wat, un wenn ja, was hadder da” in den Schritt gegriffen hätten und der Moderator zum Frühstück Gummibärchen esse – wegen der Potenz.

Vier Jahre später war Raab wieder beim Grand-Prix, diesmal als Komponist und Mentor von Max Mutzke. Er hatte — im Gegensatz zu RTL, das seine Kandidaten mit Haut und Haaren der “Bild”-Zeitung ausliefert — erkannt, dass er für den Erfolg nicht auf das Wohlwollen und große Schlagzeilen von “Bild” angewiesen ist. Die “Bild”-Zeitung versuchte die Veranstaltung zunächst weitgehend totzuschweigen. Doch dann kam Pittelkaus Kollege Christian Schommers mit einer Enthüllung:

Grand-Prix-Max als Zechpreller überführt

Ein türkischer Hotelier, bei dem er seine Rechnung trotz Mahnungen nicht bezahlt habe, erhebe “schwere Vorwürfe” gegen Mutzke.

Die Geschichte hielt keiner Überprüfung stand: Das vermeintliche Opfer selbst widersprach. Um eine Gegendarstellung zu vermeiden, bot “Bild” nach Angaben von Raabs Management 5000 Euro und freundliche Berichterstattung. Mutzke lehnte ab. Ein Gericht zwang “Bild” dazu, eine lange Gegendarstellung zu veröffentlichen.

Wer “Bild” kennt, weiß, dass ihre Berichterstattung eher von solchen Vorgeschichten und einer Sortierung nach Freunden (Dieter Bohlen) und Feinden (Stefan Raab) bestimmt wird, als von irgendwelchen journalistischen Kriterien.

Insofern ist es auch konsequent, dass das Blatt über die Sendung “Unser Star für Oslo” seit ihrem Start vor sechs Wochen zumindest bundesweit nicht berichtet hat.

Bis gestern:

Mark Pittelkau konnte exklusiv enthüllen, dass ein völlig unbekannter Mann, der sich als einer von Tausenden beim Casting für die Show beworben hatte und dessen misslungenes Vorsingen in einem kurzen Clip bei “TV Total” zu sehen war, im Urlaub in Thailand gestorben ist — für “Bild” die Nachricht des Tages. Online zeigte Bild.de ein Dutzend Fotos des unbekannten jungen Mannes, Urlaubsbilder und Aufnahmen von früheren Auftritten auf irgendwelchen Bühnen, erzählte detailverliebt und tränenreich, dass er auf der Rückreise von einem Urlaub in Australien war, wo er sechs Wochen lang war und einen Freund besucht hatte, der Karim heißt und “vor Jahren Europa den Rücken gekehrt hatte” — zufälligerweise exakt jenes Europa, in dem es einen Schlagerwettbewerb gibt, an dem sein Freund Bobby Donner gerne teilgenommen hätte!

Heute verriet Pittelkau in einem weiteren großen Artikel neue Details über das Drama dieses völlig unbekannten jungen Mannes: Todesursache sei eine verschleppte Herzmuskelentzündung gewesen, die Leiche soll nächste Woche nach Deutschland überführt werden, die Mutter hat schon ein Grab ausgesucht. Daneben auch diesmal wieder ein Foto von Stefan Raab, der Bobby Donner vermutlich nie getroffen hat. “Bild” hat den Toten posthum sogar zum “Grand-Prix-Kandidaten” befördert.

Fast könnte man Mitleid haben mit Mark Pittelkau. Womöglich hat er wochenlang nach Schmutz gewühlt, mit dem er Raab und sein verdammtes Casting bewerfen kann, irgendeine schlimme Geschichte, um den Mann schlecht aussehen zu lassen, wie damals bei Max Mutzke. Und alles, was er gefunden hat, ist, dass einer der viereinhalb Tausenden Bewerber Monate nach dem Vorsingen unter tragischen Umständen im Ausland gestorben ist? Und der Skandal besteht darin, dass der Clip, wie er sich beim Vorsingen blamiert, danach noch einen Tag lang auf den Internetseiten von “TV Total” zu sehen war? (Iinzwischen ist er dort verschwunden, aber stattdessen auf Bild.de zu sehen, was man ironisch finden kann oder konsequent.)

Aber so lächerlich und durchschaubar das Aufblasen dieser Geschichte ist — es ist nicht lächerlich genug, dass anderen Medien sie nicht besinnungslos abschreiben würden. Seiten wie Quotenmeter.de und die Internet-Ableger von “Focus”, “Abendzeitung”, “Hamburger Morgenpost”, “Augsburger Allgemeine” u.v.a. erzählen die Nicht-Geschichte nach. Der Online-Auftritt von “Gala” formuliert: “Kurz vor dem Halbfinale (8. März, 20.15 Uhr, Pro7) von ‘Unser Star für Oslo’ ist einer der Kandidaten der Stefan-Raab-Show gestorben” — als hätte es sich um einen der Kandidaten aus dem Halbfinale (am 9. März) gehandelt, was tatsächlich eine Nachricht gewesen wäre. Selbst dpa hat inzwischen eine Meldung zum Thema veröffentlicht.

So gesehen muss man mit Pittelkau wohl doch kein Mitleid haben. Und immerhin scheint seine Geschichte nicht erfunden zu sein. Das ist doch schon was.

Die Rente mit 74 und andere Überforderungen

Man weiß nicht, ob es eine gute oder eine schlechte Nachricht für Kai Diekmann ist, aber wenn es nach dem Onlineportal der von ihm verantworteten Zeitung geht, hätte er noch etwa 29 Jahre bis zur Rente:

Bevölkerungsforscher fordert Rente mit 74

Herwig Birg, “Deutschlands bekanntester Bevölkerungsforscher”, hat also laut Bild.de die Rente mit 74 gefordert:

Birg rechnet vor: Um in Zukunft das System der gesetzlichen Rente zu erhalten, muss “das Renteneintrittsalter im Jahr 2045 bei 74 Jahren liegen”, so Birg. “Eine Rente mit 67 würde diesen Trend nur abmildern, nicht aufhalten.”

Sieht man sich das Interview in der “Braunschweiger Zeitung”, auf das sich Bild.de beruft, mal genauer an, stößt man schnell auf die Passage im Wortlaut:

Kann die Rente mit 67 diese Entwicklung stoppen?

Nein, um diesen Effekt auszugleichen, müsste das Renteneintrittsalter im Jahr 2045 zum Beispiel bei 74 Jahren liegen. Eine Rente mit 67 würde diesen Trend nur abmildern, nicht aufhalten. Von weitaus größerer Bedeutung wäre es, wenn wir die Massenarbeitslosigkeit in den Griff bekämen. Da wir dann wesentlich mehr Beitragszahler und weniger zu Versorgende hätten, brächte das viel mehr Gewicht in die Waagschale.

Nun könnte man auch vorrechnen, dass wenn “Bild” am Kiosk weiterhin so viel Geld umsetzen will wie heute, bei der aktuellen Auflagenentwicklung im Jahr 2045 eine einzelne Ausgabe etwa 1,8 Millionen Euro kosten müsste — aber man hätte damit wohl kaum “gefordert”, diese absurd hohe Summe als Kaufpreis zu etablieren.

So ein bisschen hat das auch Bild.de verstanden, wo Birgs eigentliche (wenn überhaupt) Forderung dann ein bisschen scheu nachgetragen wird:

Einziger Ausweg aus der Renten-Falle wäre, wenn wir die Massenarbeitslosigkeit in den Griff bekämen. Dadurch hätten wir “wesentlich mehr Beitragszahler und weniger zu Versorgende”, so Birg weiter.

Mit Dank an Dominic I.

Symbolfoto-Missbrauch

Seit Wochen kommen in Deutschland immer mehr Missbrauchsfälle an Schulen der katholischen Kirche ans Licht.

“Kirche”, “Licht”, alles klar:

Seit Wochen kommen in Deutschland immer mehr Missbrauchsfälle an Schulen der katholischen Kirche ans Licht. Aber auch aus weltlichen Einrichtungen wurden alsbald weitere Fälle gemeldet. Doch die meisten dieser Verfehlungen liegen Jahrzehnte zurück, etliche der Täter sind längst gestorben, die Aufklärung der Taten ist äußerst schwierig. Die Bundesregierung fordert nun eine Entschädigung der Opfer. Foto: Getty

Es war für die zuständigen Mitarbeiter von sueddeutsche.de ein leichtes, bei Getty Images ein Symbolfoto für einen Artikel über Missbrauchsfälle in Einrichtungen der katholischen Kirche zu finden, schließlich preist die Bilddatenbank die Bilder passend dazu an:

Catholic Church Hit By More Abuse Claims

BERLIN – 5. MÄRZ: Ein von der Sonne beleuchtetes Kreuz steht vor dunklen Wolken auf einer Kirche am 5. März 2010 in Berlin, Deutschland. Die Welle von Missbrauchsmeldungen an katholischen Einrichtungen in Deutschland geht weiter, in letzter Zeit mit Schwerpunkt auf dem berühmten Jungenchor der Regensburger Domspatzen, wo Hinweise auf Missbräuche zwischen 1958 und 1973 aufgetaucht sind. Dies folgt auf eine Polizeidurchsuchung im katholischen Internat in Ettal in Bayern, sowie auf andere Fälle, die an katholischen und Jesuitenschulen im ganzen Land ans Licht gekommen sond. (Foto von Sean Gallup/Getty Images)

(Übersetzung von uns)

Der einzige Haken: Die Kirche auf dem Foto, das aus ohnehin schwer erfindlichen Gründen ein Symbol für Missbrauch darstellen soll, ist der Berliner Dom — und der ist eine evangelische Kirche.

Mit Dank an Sven.

Nachtrag, 17.15 Uhr: Getty Images und sueddeutsche.de sind allerdings gar nicht mal sooo abwegig mit ihrer Bildwahl — zumindest, wenn man es mit dem Verwendungszwecke bei CNN.com vergleicht:

An archdiocese in Colorado is defending its decision not to allow children of lesbian parents to re-enroll in school.

Dort illustriert das Kuppelkreuz des evangelischen Doms aus Deutschland die Geschichte über eine katholische Schule in Colorado (USA), die zwei Kinder nicht aufnehmen will, weil ihre Eltern lesbisch sind.

Mit Dank an Stefan M.

2. Nachtrag, 23.40: Getty Images hat die Bildbeschreibung inzwischen zu folgendem geändert:

Das von der Sonne beleuchtete Hauptkreuz auf dem Berliner Dom steht vor dunklen Wolken am 5. März 2010 in Berlin, Deutschland. Der Berliner Dom gehört zu Berlins bedeutendsten Wahrzeichen.

(Übersetzung von uns)

Finanzkrise, Nackt-Proteste, Bolz

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wachhunde oder Lemminge? Der Journalismus und die Finanzkrise”
(spiegelfechter.com, Jens Berger)
Jens Berger schreibt zur Studie “Wirtschaftsjournalismus in der Krise” (PDF-Datei). “Vor der Krise berichteten die untersuchten Publikationen meist unkritisch über die Finanzmärkte, Gegenmeinungen und Kritiker kamen kaum zu Wort und dem Konsumenten wurde ein tieferer Einblick in die Hintergründe der Finanzmärkte und der Finanzmarktpolitik verwehrt. Stattdessen dominierten die PR-Schablonen von Akteuren wie Banken, Managern oder Unternehmen beziehungsweise deren Interessengruppen die Berichterstattung.”

2. “Forschen nach Belieben: dpa erläutert Berichterstattung zur Finanzkrise”
(presseportal.de, Justus Demmer)
Die dpa bezieht sich auf die gleiche Studie und sieht darin “zahlreiche falsche und irreführende Behauptungen über die Berichterstattung der Deutschen Presse-Agentur dpa”. “Jedwede einordnende und hintergründige Berichterstattung der dpa” sei vollständig ignoriert worden. Aus den mehr als 2,5 Millionen Meldungen im Untersuchungszeitraum seien die “passenden” Passagen ausgewählt worden.

3. “BILD halluziniert von nackigen Protesten”
(nice-bastard.blogspot.com, Dorin Popa)
“Bild” schreibt über einen “Nackt-Protest in München”, der gar nicht stattgefunden hat.

4. “Umstrittene TV-Quizshows: Bundesgericht rügt Anbieter”
(sf.tv)
Ein Vertreter der Lotterie- und Wettkommission beurteilt ein Urteil des Schweizer Bundesgerichts zu Call-In-TV-Shows so: “Neu ist, dass es für den Teilnehmer jederzeit unmissverständlich klar sein muss, dass er die gleichen Gewinnchancen hat, wenn er gratis teilnimmt, als wenn er kostenpflichtig teilnimmt.” In einem Video (7:16 Minuten, teilweise Dialekt) kommen auch Opfer der Sendungen zur Sprache.

5. “Newspaper economics: online and offline”
(googlepublicpolicy.blogspot.com, Hal Varian, englisch)
In einem Blogeintrag analysiert Google die Verluste der Zeitungsindustrie und stellt einen Durchschnitt von 70 Sekunden fest, den Leser durchschnittlich auf ihren Online-Angeboten verbringen. “There’s a reason for the relatively short time readers spend on online news: a disproportionate amount of online news reading occurs during working hours.”

6. Interview mit Norbert Bolz
(tv.rebell.tv, sms, Video)
Stefan M. Seydel redet mit Medienwissenschaftler Norbert Bolz über den Unterschied zwischen den Begriffen “aktuell” und “virtuell”, über Identität und über das Denken an den Unis: “Ich erwarte mir Denken eigentlich nicht an Universitäten, sondern an anderen Orten, vielleicht in einer Schwarzwaldhütte.”