Archiv für November 23rd, 2009

“Springer enteignet”

Der “Kai Diekmann”, der unter kai-diekmann.de bloggt, scheint eine coole, entspannte Sau zu sein. Der echte Kai Diekmann, der als Chefredakteur der “Bild”-Zeitung amtiert, hat offenbar gerade das Angebot einer gütlichen Einigung mit der Zeitschrift “Lettre International” zurückziehen lassen.

Es geht immer noch um das Interview von “Lettre International” mit Bundesbankvorstand Thilo Sarazzin, das “Bild” allem Anschein nach ohne Genehmigung auf Bild.de und in Auszügen in der Zeitung veröffentlicht hatte, sowie um die Behauptungen, die Diekmann dazu in seinem Blog verbreitete (BILDblog berichtete).

Vergangene Woche hatte die “taz” (und BILDblog unter Bezug darauf) noch berichtet, dass die Axel Springer AG einen Vergleich über 30.000 Euro angeboten habe. Heute meldet das Blogwart-Tagebuch auf taz.de, dass Springer das Angebot zurückgezogen habe — anscheinend weil die “taz” darüber berichtet hatte.

“Lettre International” habe Springer nun aufgefordert, bis zum morgigen Dienstag Schadensersatz und Nutzungsentschädigung zu zahlen — und zwar mehr als 30.000 Euro. Andernfalls will “Lettre International” klagen.

“Lettre International”-Chefredakteur Frank Berberich wollte sich uns gegenüber zu den neuesten juristischen Entwicklungen nicht äußern, sprach aber von einer fälligen Grundsatzentscheidung. Es dürfe nicht angehen, dass ein großes Medium sich einfach an den Inhalten eines kleinen Mediums bediene und diesem so die Existenzgrundlage zu entziehen versuche. “Lettre International” habe das inzwischen legendäre Interview bewusst nicht auf der eigenen Website veröffentlicht und “Bild” und anderen Medien, die den Text abdrucken wollten, die Erlaubnis verweigert.

Durch die Veröffentlichung sei “Lettre” (Preis des betreffenden Heftes: 17 Euro) ein hoher wirtschaftlicher Schaden entstanden. “Heute heißt es nicht mehr ‘Enteignet Springer!’, sondern ‘Springer enteignet'”, sagte Berberich.

Autoerotischer Journalismus

Es ist ein außergewöhnlich detailreicher Artikel, den der Kölner “Express” nebst eindrucksvollem Symbolbild vergangene Woche über ein Gerichtsurteil veröffentlichte:

Köln: Tödliche Selbstbefriedigung. Gericht: Versicherung muss nicht zahlen

Eine “große Versicherung” musste eine “Lebensversicherungssumme in Höhe von knapp 300.000 €” nicht auszahlen, weil sich ein “Kölner Familienvater (†55)” und “Manager”, der “statt einer Hose” “ein im Schritt freies Leder-Ketten-Arrangement” trug, “an einem Sommertag” “versehentlich am Ehebett erdrosselt” hatte.

Sogar aus den Akten des Kölner Landgerichts werden pikante Details zitiert:

“Durch leichtes Herauf- und Herunterfahren der Rückenlehne drückte er sich dabei die Luft ab”, heißt es in den Akten.

Dieses Detailwissen ist insofern erstaunlich, als sich in der Pressestelle des Kölner Landgerichts niemand mehr an diesen Fall erinnern kann. “Das war lange vor unserer Zeit und ist mindestens fünf Jahre her”, erklärte man uns auf Anfrage.

Richter Jörg Baack, der im “Express” mehrfach zitiert wird, datiert das Urteil etwa auf das Jahr 2003, weil er seit 2004 nicht mehr für Lebensversicherungen zuständig sei. An Details des Falles könne er sich aber auch nicht mehr erinnern, weil er in der Zwischenzeit “etwa drei- bis viertausend Fälle” verhandelt habe.

Und wie kam der Fall dann jetzt in den “Express”? Baack habe vor kurzem in einer Runde mit Pressevertretern über den Richterberuf im Allgemeinen gesprochen, wie er uns auf Anfrage sagt. Um zu verdeutlichen, dass man als Richter auch in jungen Jahren schon mit außergewöhnlichen und dramatischen Fällen konfrontiert sein könne, habe er anekdotisch und allgemein einen Fall erwähnt, über den er selbst zu Beginn seiner Laufbahn zu befinden hatte: eben den einer Witwe, deren Ehemann bei einem “autoerotischen Unfall” ums Leben gekommen sei.

Kurz darauf habe er dem “Express” Altersangaben und Fakten entnehmen können, an die er sich selbst nicht mehr erinnern konnte, sagt Baack.

Im Übrigen sei das Urteil von der 23. Zivilkammer gesprochen worden und nicht von der 21., wie im “Express” stehe, und der Begriff der Fahrlässigkeit sei für den Fall unerheblich gewesen. Der Finanzjournalist Andreas Kunze vermutet darüber hinaus in seinem Blog, dass es sich allenfalls um eine Unfalltod-Zusatzversicherung zu einer Lebensversicherung gehandelt haben könne, weil bei der Auszahlung von Lebensversicherungen irgendeine Form von “grober Fahrlässigkeit” gar keine Rolle spiele.

Wir halten fest: Der “Express” veröffentlicht einen Artikel über einen mindestens sechs Jahre alten Fall (ohne jede Zeitangabe) voller Details, an die sich niemand beim Gericht mehr erinnern kann, und vertut sich an entscheidender Stelle mit den juristischen Begrifflichkeiten.

Wer könnte so einen Fall einen Tag später aufgreifen, dem Richter weitere wörtliche Zitate in den Mund legen und ihm einen falschen Vornamen verpassen?

Lebensversicherung muss nicht zahlen: Tod bei bizarrem Selbstbefriedigungs-Spiel - Mann erdrosselt sich versehentlich im eigenen Ehebett

“Express”-Chefreporter Volker Roters erklärt, dass er nach wie vor zu seinem Text stehe, seine Informationen “aus seriöser Quelle im Bereich des Kölner Justizpalastes” habe und die Akten beim Landgericht eingesehen habe. Dass das Urteil schon Jahre zurückliege, streitet er nicht ab — aber so ein Fall könne ja auch mit zeitlichem Abstand noch relevant sein.

Auf Werbegag aus der Hölle hereingefallen

Mal ehrlich: Inzwischen gibt es doch nix mehr, was man nicht auch irgendwie virtuell machen kann. Was spräche also dagegen, auch den Gottesdienst virtuell zu absolvieren? Und wäre es nicht nachgerade ein bestechender Gedanke, gäbe man in Zeiten sich allmählich leerender Kirchen einem Gottesdienst eine, sagen wir, etwas spielerische Komponente? So mit Gnadenpunkten, die man sammeln kann? Und mit Kirchenglocken, die man im Videospiel selber läutet? Virtueller Weihrauch, den man gemeinsam im Wohnzimmer ausbringen kann, ein paar Kruzifixe zum Schwingen, also im Prinzip: Wii Sports, nur sakral sozusagen.

Bei Bild.de hingegen findet man diesen Gedanken gar nicht so naheliegend: “Das kann nur ein Witz sein”, brummelt während dieses Videos hier eine Männerstimme, während sie erstaunt anhand der Orginalbilder aus dem Werbetrailer für den virtuellen Gottesdienst beschreibt, welche Features das Spiel so bietet. “Angeblich soll es 2010 auf den Markt kommen — Amen”, beendet der Bild.de-Sprecher seinen Text, vermutlich ohne zu ahnen, dass er mit dem ersten und dem letzten Satz seines Textes der Realität schon ziemlich nahegekommen ist.

Zu bekommen ist das (Sie ahnen es: vermeintliche) Spiel scheinbar auf einer Seite namens “Mass: We Pray” (Messe: Wir beten). Hätten sich die Leute von Bild.de nicht einfach nur das Videomaterial des Trailers gezogen, sondern sich womöglich noch die Mühe gemacht, irgendeinen Link auf der Seite anzuklicken (schon um zu wissen, was das Spiel denn kosten soll — was man halt sonst so “Recherche” nennt), sie wären auf eine ganz erstaunliche Weiterleitung gestoßen:

Denn tatsächlich verbirgt sich hinter dem angeblichen Sakralspiel ein profaner Teaser für ein Videospiel namens “Dante’s Inferno”, das 2010 erscheint — und selbst wenn man das Spiel nicht kennt, hätte man womöglich am Trailer erkennen können, dass dieses Spiel nur so mittelgut für den virtuellen Gottesdienst zuhause verwendbar ist. Es wirbt mit dem Slogan “Go to Hell”, der Spieler kämpft sich “durch die neun Zirkel der Hölle: Vorhölle, Wollust, Ketzerei, Habgier, Zorn, Völlerei, Gewalt, Betrug und Verrat” — frei ab 18.

Mit Dank an Jan M. und Jochen K.!

Sauerlandkurier, Schickeria, WamS-eMag

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Warum die Qualität im Journalismus abnimmt”
(dradio.de, Brigitte Baetz)
“Längst nicht alles, was heute als qualitativer, faktenorientierter Journalismus verkauft wird, ist dies auch tatsächlich. Der Einfluss von Unternehmen und Institutionen auf scheinbar unabhängige Journalisten nimmt immer weiter zu.”

2. “Wieder einmal: Gekaufter Journalismus”
(schiebener.net, zoom)
Der “Sauerlandkurier” übernimmt weite Teile eines PR-Artikels von Südwestfalen-PR unverändert in den redaktionellen Teil des Blatts.

3. “Warum ist der taz-Shop voller Schickeria-Produkte?”
(hausblog.taz.de, Sebastian Heiser)
Sebastian Heiser beantwortet im Hausblog den Vorwurf von Leser Severin Michel (“Ihr seid ebenso ne Besserverdienenden-Zeitung geworden wie die Grünen ne Besserverdienenden-Partei. Schade nur, dass das eure Redakteure und freie Mitarbeiter nicht zu spüren bekommen”), im taz-Shop seien nur “Schickeria-Produkte” zu finden.

4. “Erster Eindruck: Das eMag der WamS”
(ereaderwelt.de, Thorsten)
Thorsten hat das 1.50 Euro teure eMag der “Welt am Sonntag” getestet und findet es “es recht mutig, für so ein Angebot Geld zu verlangen” – “Das eMag in der jetzigen Fassung ist sein Geld nicht wert. Schlechte Umsetzung, keine Ideen, seichter Content.”

5. “Alles tun für einen festen Job”
(heise.de/tp, Rudolf Stumberger)
Die Studie “Begrenzter Journalismus” (mediendisput.de, PDF, 1.2 MB) sieht die “Qualität und Unabhängigkeit des Journalismus bedroht”.

6. “A Graphic History of Magazine Income Over the Last Decade”
(theawl.com)
Einkünfte und verkaufte Werbeseiten verschiedener US-Magazine im Vergleich von 2002 bis 2009.