Archiv für November 27th, 2009

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Ein exklusiver Entführungsfall

In Frankfurt am Main ist in der Nacht zum vergangenen Samstag ein 22-jähriger Amerikaner verschwunden. Weil “Bild” ihn für den “Sohn eines vermögenden Top-Bankers” (“und somit ein lohnendes Entführungsopfer”) hält, fragt die Zeitung heute in ihrer Regionalausgabe und online:

Seit 7 Tagen ist Devon Hollahan spurlos verschwunden: Sohn eines US-Bankers in Frankfurt entführt?

Kidnapping, Unglücksfall oder gar Mord? Seit 7 Tagen fehlt vom US-Millionärssohn Devon Hollahan (22), der in Frankfurt das Pink-Konzert besuchte, jede Spur. Im Polizeipräsidium klingeln alle Alarmglocken!

Der Artikel ist derart merkwürdig, dass wir am Besten mit einer (vermeintlichen) Kleinigkeit beginnen: Devon Hollahan war nicht beim Pink-Konzert. Er hatte auch nie vor, das Pink-Konzert zu besuchen, denn er war in Frankfurt, um sich die amerikanische Rockband “Portugal. The Man” anzusehen. Die Band beteiligt sich bei Facebook an der Suche nach Devon und fügt hinzu, dass sie beim Konzert in Frankfurt noch mit ihm “rumgehangen” habe.

Das mag ein unwichtiges Detail sein, bedeutet aber auch, dass Devon nicht in der Festhalle am Messegelände war, wie “Bild” schreibt (und der Hessische Rundfunk abschreibt), sondern in der “Batschkapp” im Stadtteil Eschersheim — was ja doch einen Unterschied macht, wenn es etwa um Zeugen geht, die ihn gesehen haben könnten.

Kommen wir nun zu den “Alarmglocken” im Polizeipräsidium:

Mittlerweile scheint aus dem “normalen Vermisstenfall” ein Kriminalfall zu werden!

Diese Meldung scheint “Bild” mal wieder weltexklusiv zu haben, denn uns sagte die Polizei, was sie auch der dpa (die “Bild” im Bezug auf das Pink-Konzert blind glaubt) erzählt hatte: Man behandle die Suche “wie einen normalen Vermisstenfall”.

Aber “Bild” weiß noch mehr:

“Morgan Stanley”-First Vice President Jeffrey Hollahan ist bereits in Frankfurt gelandet, sucht selbst nach seinem Sohn

Sagen wir es so: Es gibt Gründe zu bezweifeln, dass Jeffrey Hollahan tatsächlich einen derart hohen Posten bekleidet, wie “Bild” seine Lesern glauben lassen will. Zwar bezeichnet er sich auf seiner Profilseite beim Geschäftsnetzwerk Linkedin als “VP at Morgan Stanley”, aber schon ein Klick auf das Unternehmensprofil deutet an, dass es bei der US-Bank (auf deren offizieller Website der Name Hollahan nicht einmal auftaucht) viele, viele “Vice Presidents” gibt.

Oder, wie die Wikipedia schreibt:

In großen Brokerunternehmen und Investmentbanken gibt es üblicherweise mehrere Vice Presidents in jeder örtlichen Zweigstelle, der Titel ist dann eher eine Absatzmethode für Kunden als die Bezeichnung für eine tatsächliche leitende Position innerhalb des Unternehmens.
(Übersetzung von uns)

Die Frankfurter Polizei wollte die berufliche Position des Vaters weder dementieren noch bestätigen, aber er selbst wird von der Nachrichtenwebsite “The Local” mit den Worten zitiert, er sei kein berühmter Banker oder Manager, sondern Finanzberater. All das hielt die Deutsche Presseagentur freilich nicht davon ab, in einer Meldung zu schreiben:

Laut “Bild”-Zeitung handelt es sich bei dem Vermissten um den Sohn eines Top-Managers der US-amerikanischen Bank Morgan-Stanley. Die Polizei wollte das nicht bestätigen.

Auch die Behauptung von “Bild”, Jeffrey Hollahan sei bereits in Frankfurt, wollte die dortige Polizei nicht kommentieren. Allerdings berichtet ein lokaler Fernsehsender (dessen Website die “Bild”-Redakteure besucht haben, um an ein Bild des Vaters zu kommen), dass er erst am Sonntag nach Deutschland aufbrechen wolle, wenn Devon nicht bald gefunden werde.

Noch mehr Exklusivmeldungen aus “Bild”?

Die hohe Brisanz des Falles zeigt, dass sogar die US-Bundespolizei “FBI” im “Fall Devon” ermittelt, die Hessen-Landesregierung eingeschaltet ist und über die Ermittlungen informiert wird.

Das FBI ist nach Auskunft der Polizei Frankfurt zwar noch nicht eingeschaltet, aber die luxemburgische Zeitung “L’Essentiel”, die französische Nachrichtenagentur “AFP” und der US-Finanznachrichtendienst Bloomberg scheint der deutschen Boulevardzeitung voll zu vertrauen:

Die deutsche Zeitung “Bild”, die zuvor über den Fall berichtet hatte, sagt, dass das FBI das Verschwinden ebenfalls untersuche.
(Übersetzung von uns)

Nun könnte man natürlich auch noch einwenden, dass es schon recht präziser Planung bedürfe, den Sohn eines “vermögenden Top-Bankers” (oder eines einfachen Finanzberaters), der für einen Tag von seinem Wohnort Prag nach Frankfurt gereist ist, um drei Uhr nachts in der dortigen Innenstadt zu entführen. Aber das wäre vielleicht zu vernünftig.

Ach, und dann ist da noch das Foto, von dem man glauben könnte, dass es zeigt, wie Kripo und FBI in der Taunusanlage ermitteln:

Interessanterweise scheinen dieselben Beamten in denselben Klamotten und mit demselben Wagen an derselben Stelle vor einem Monat schon in einem anderen Fall ermittelt zu haben:

Mit Dank an Matthias F.

Nachtrag, 23. Dezember: Nachdem “Bild” zunächst noch nach den vermeintlichen Entführern gefahndet hatte, ist jetzt klar, dass Devon Hollahans Leiche vergangene Woche in Boppard aus dem Rhein geborgen wurde.

Die Frankfurter Polizei stellt dazu fest:

Hinweise auf ein Gewaltverbrechen wurden im Rahmen der Obduktion nicht gefunden, so dass die Vermisstenstelle der Frankfurter Kriminalpolizei davon ausgeht, dass Devon Hollahan in den Morgenstunden des 21.11.2009 unter Alkoholeinfluss in den Main gestürzt und ertrunken ist.

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Franz Josef Wagners Homophonie

Die Transparenz-Offensive des “Bild”-Chefredakteurs auf kaidiekmann.de hat einen entscheidenden Vorteil: Sie deckt die Schwächen der Arbeitsweise der eigenen Zeitung ungewollt selbst auf.

Kai Diekmann zeigt in seinem Blog ein Video, wie er in “Bild”-Manier unangekündigt an der Haustüre des Kolumnisten Franz Josef Wagner auftaucht und sich, obwohl dieser allen Anschein macht, ihn gar nicht empfangen zu wollen (“Kai, Du bist ein Schwein” … “Kai, Du bist so ein Schwein”), Zutritt zum Haus verschafft.

Er streift mit eingeschalteter Kamera durch die Wohnung und schlägt dann vor, Wagner soll ihm den Entwurf der aktuellen Kolumne am “Laptop” vorlesen. Diekmann: “Du schreibst aufm Laptop?” – Wagner: “Ja.”

Naja, fast:

Der angebliche Laptop von Franz Josef Wagner

Dann guckt Diekmanns Kamera genauer hin, was denn Wagner da schreibt. Wir auch:

Strassenschlachten

Undeutlich zu erkennen ist das Wort “Strassenschlachten”. Was sich bestätigt, als Wagner den Text vorliest.

Und nun vergleichen wir, was heute in der “Bild” abgedruckt wurde:

Stasi-Schlachten

Aus einem nicht sehr sinnvollen Satz ist ein sehr sinnloser geworden.

Könnte es sein, dass der Übertragungsfehler geschehen ist, als Franz Josef Wagner seinen Text der Redaktion telefonisch übermittelte, wie er das zu tun pflegt?

Gut möglich, dass Fehler wie dieser der Grund sind, warum Wagner seine Zeilen in der “Bild” nicht mehr liest, wie er gegen Ende des Videos zugibt. Vielleicht entsteht aber auch erst durch diese Hörfehler bei der telefonischen Durchsage die unverkennbare Kryptik der Wagnerschen Poesie.

Diekmann fragt:

“Wenn ich das morgen ändere – das kriegst Du dann gar nicht mit?”

Aber nein.

Mit Dank an David B. und Thomas!

Dönhoff, Newsroom, Wagner

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Thema: Marion Dönhoff”
(zeit.de)
Ein Dossier von Zeit.de zum 100. Geburtstag von Marion Gräfin Dönhoff.

2. “Merkwürdige Verzweiflungsfotos”
(internetausdrucker.wordpress.com)
Der Internetausdrucker denkt nach über die “Verzweiflungsfotos”, die derzeit neben Minister Franz Josef Jung abgebildet werden: “Sie sind Momentaufnahmen aus anderen Situationen, sie können Wochen und Monate alt sein.”

3. “Der Newsroom als Alarmzentrale einer panischen Gesellschaft”
(woz.ch, Kaspar Surber)
Über 10 Milllionen Franken (ca. 7 Millionen Euro) kostet der neue Newsroom der “Blick”-Gruppe. “Im oberen Stock wird in der Mitte ein ‘Decision Place’ zu liegen kommen. Hier werden die Chefredaktoren arbeiten. Gleich anschliessend sitzen auf der einen Seite die RessortleiterInnen, dann folgt ein ‘Content Place’ mit den JournalistInnen.'” Projektkoordinator Edi Estermann: “Je weiter weg einer vom Zentrum sitzt, desto eher ist er ein Praktikant.”

4. Interview mit Peter Kruse
(sueddeutsche.de, Johannes Kuhn)
Psychologe Peter Kruse zum neuen Buch von FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher über die von ihm erlebte Überforderung mit der Informationsflut im Internet: “Mit seinem Buch outet sich Herr Schirrmacher als fremdelnder Netzwerk-Besucher, als Zaungast, der einer wilden Party gleichermaßen neugierig wie irritiert aus der Ferne zuschaut.”

5. “Das Geheimnis F. J. W.”
(kaidiekmann.de, Video, 7:51 Minuten)
“Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann besucht den “Bild”-Kolumnisten Franz Josef Wagner, der es bedauert, ungekämmt zu sein und seine Zeilen zwar noch schreibt, aber nicht mehr in der Zeitung liest. Verfasst wird die tägliche Kolumne auf einem “Laptop” (so nennt Diekmann Wagners Computer) – und von dort abgelesen wird sie wohl, wie 2006 und 2009 berichtet, der Redaktion telefonisch durchgegeben.

6. “(NZZ-)Online-User bringen nur Peanuts ein”
(medienspiegel.ch, Martin Hitz)
Albert P. Stäheli, CEO der NZZ, sagt, wie tief der Graben der Einnahmen zwischen Online- und Printwerbung ist: “Jährl. Werbeumsatz pro Print-Leser: Fr. 175.-. Jährl. Werbeumsatz pro Online-User: Fr. 6.50”.