1. RBB gibt Pläne für “Digitales Medienhaus” in Berlin auf (tagesspiegel.de, Joachim Huber)
Der RBB hat seine ehrgeizigen und vor allem kostspieligen Pläne für das “Digitale Medienhaus” in Berlin aufgegeben. Als Gründe seien die fehlende Akzeptanz in der Belegschaft und die unklare Kostenentwicklung genannt worden. Die nunmehr nicht zur Umsetzung anstehenden Pläne hätten die Beitragszahlerinnen und -zahler bereits 32 Millionen Euro gekostet (14 Millionen Euro davon seien nach Senderangaben nachhaltig investiert, 18 Millionen seien als Verlust abzuschreiben). Eine Umsetzung wäre jedoch weit teurer gekommen, wie der Sender mitteilt: “Bei der nun erstmals vorgenommenen Vollkostenbetrachtung summierten sich die zu erwartenden Kosten auf insgesamt 311 Millionen Euro.”
2. Nach EuGH-Urteil: Zugang zu Transparenzregistern wiederherstellen! (netzwerkrecherche.org)
Als Folge eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs verwehren immer mehr Staaten den Zugang zu Transparenzregistern. Dies beträfe auch Deutschland. Daniel Drepper, Vorsitzender von Netzwerk Recherche, protestiert: “Der Zugang zu Transparenzregistern ist ein wichtiges Werkzeug des investigativen Journalismus. Gerade bei Recherchen zu Geldwäsche und Korruption sind diese Register oft die einzige rechtssichere Möglichkeit zu belegen, wer hinter einem bestimmten Unternehmen steckt. Wir fordern deshalb von der Bundesregierung, dass Journalist*innen auch in Zukunft Zugriff auf diese Daten erhalten.”
3. Es gibt Zweifel an der Geschichte der toten Maria, aber keine am skandalösen Verhalten Griechenlands (uebermedien.de, Michalis Pantelouris)
Der “Spiegel” hat vier Artikel über den mutmaßlichen Tod eines fünfjährigen syrischen Mädchens auf der Flucht von der Türkei nach Griechenland vorläufig gelöscht. Beim Aufruf der Beiträge erscheint der redaktionelle Hinweis, dass es “mittlerweile Zweifel an der bisherigen Schilderung der damaligen Geschehnisse” gebe. Michalis Pantelouris hat sich den Fall näher angeschaut und die dazu bekannten Fakten sortiert. Er sieht vor allem die griechische Regierung in der Verantwortung: “Wenn sie wollte, dass man die Wahrheit über sie schreibt, könnte sie das sehr unterstützen, indem sie mal die Wahrheit sagt.”
4. EU mahnt Elon Musk zur Einhaltung von Desinformations-Regeln (zeit.de)
EU-Kommissar Thierry Breton hat den neuen Twitter-Eigentümer Elon Musk in einem Video-Telefonat dazu aufgefordert, entschlossener gegen Desinformation vorzugehen und die Inhalte bei Twitter stärker moderieren zu lassen. In einer anschließenden Mitteilung habe Breton betont, es gebe “noch gewaltig viel Arbeit”, um die Plattform an das EU-Recht anzupassen. Eine direkte Reaktion von Musk darauf habe es nicht gegeben.
6. Kramer und Mertesacker: Endlich haben Delling und Netzer ihre Nachfolger (rnd.de, Imre Grimm)
Imre Grimm hat sich die Performance der Fußball-Berichterstatter und -Berichterstatterinnen im deutschen Fernsehen angeschaut und ist besonders vom Duo Christoph Kramer und Per Mertesacker angetan: “Zuschauer wollen bitte nicht hören, was sie ohnehin selbst sehen oder wissen. Sie haben Augen. Sie können lesen und sehen. Sie wollen Mehrwert. Alles andere ist Spielverzögerung und gehört mit Gelb geahndet. Tacheles ist Mangelware im Expertengeschäft. Umso besser, das mit Kramer und Merte wieder ein stabiles Team willens und in der Lage ist, unterhaltsamen Klartext zu liefern.”
1. Journalismus ist kein Verbrechen (spiegel.de)
Vor zwölf Jahren haben “New York Times”, “Guardian”, “Le Monde”, “Spiegel” und “El País” eine Serie von Enthüllungsgeschichten veröffentlicht, die auf Tausenden vertraulichen Dokumenten der US-Regierung basierten. Möglich wurde dies durch die Plattform WikiLeaks und deren Herausgeber Julian Assange. Nach jahrelanger Isolation in einem Londoner Botschaftszimmer sitzt Assange nun bereits seit rund dreieinhalb Jahren in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis ein. Über ihm das Damoklesschwert der Auslieferung an die USA und die lebenslange Unterbringung in einem US-Hochsicherheitsgefängnis. Die Chefredakteure und Herausgeber der seinerzeit beteiligten Medien fordern nun Assanges Freilassung: “Zwölf Jahre nach den Botschaftsdepeschen ist es an der Zeit für die US-Regierung, die Verfolgung von Julian Assange wegen der Veröffentlichung geheimer Dokumente einzustellen. Denn Journalismus ist kein Verbrechen.”
2. Twitter im Visier der Behörden (netzpolitik.org, Julien Schat)
Mit dem zunehmenden Chaos, das Elon Musk bei Twitter anrichtet, rückt der Kurznachrichtendienst verstärkt in den Fokus deutscher und europäischer Behörden. Eine entscheidende Frage sei, ob Twitter weiterhin seinen Hauptsitz in Irland beanspruchen und damit von der irischen DPC reguliert werden kann: “Würde Twitter tatsächlich seinen Anspruch auf Hauptniederlassung in Irland verlieren, könnten alle 27 nationalen Datenschutzbehörden der EU aufsichtsbehördlich tätig werden. Twitter drohen damit erheblicher bürokratischer Mehraufwand und empfindliche Sanktionen, die bis zu vier Prozent des jährlichen Umsatzes ausmachen können – und das jeweils in sämtlichen 27 EU-Staaten.”
3. Gestrandet mit Anna Schneider (faz.net, Elena Witzeck)
Elena Witzeck geht dem Tun Anna Schneiders nach, der streitfreudigen “Chefreporterin Freiheit” der “Welt”. Witzeck war auf Schneiders letzter Buchpremiere, moderiert von Micky Beisenherz, hat mit ihr später telefoniert und immer mehr Zweifel an der Stringenz des Weltbilds Schneiders bekommen. Eine lesenswerte, da differenzierte Annäherung.
4. Griechenlands Watergate (taz.de, Ferry Batzoglou)
Griechenlands Premierminister Kyriakos Mitsotakis hat offenbar mehr als 100 missliebige Personen, darunter viele Medienschaffende, ausspähen lassen. Ferry Batzoglou erklärt “Griechenlands Watergate” und zieht ein bestürzendes Fazit: “Griechenland ist in der unsäglichen Ära Mitsotakis in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen auf Platz 108 von 180 Ländern abgerutscht. Im neuen Ranking dürfte das EU-Schlusslicht Hellas noch tiefer fallen.”
5. Iranischen Botschafter einbestellen (djv.de, Hendrik Zörner)
Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) hat Bundesaußenministerin Annalena Baerbock aufgefordert, den iranischen Botschafter einzubestellen. Grund seien die Drohungen iranischer Behörden gegen Journalistinnen und Journalisten der Farsi-Redaktion der Deutschen Welle. “Was muss noch passieren”, so der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall, “damit das Außenministerium dem Mullah-Regime endlich die rote Karte zeigt?”
Weiterer Lesehinweis: Deutsche Welle: Rundfunkrat protestiert gegen Vorgehen iranischer Behörden (dw.com).
6. Künftig im Tabloid-Format: “Tagesspiegel” startet in neue Ära (dwdl.de, Alexander Krei)
Der “Tagesspiegel” erscheint ab dem heutigen Dienstag im kleineren Tabloid-Format. Auf den ersten 40 Seiten soll es um Deutschland und die Welt, auf den zweiten 40 Seiten um die Hauptstadtregion gehen.
Weitere Lesehinweise: Passend zum Relaunch schwelgt “Tagesspiegel”-Autor Rolf Brockschmidt etwas in Nostalgie und zeigt, wie sich das Blatt über die Jahre verändert hat. Bei medienpolitik.net kritisiert Helmut Hartung die mit dem Neustart verbundene Reduzierung der Medienberichterstattung: “Mit der Verkleinerung des Formats beginnt anscheinend auch – zumindest im Medienbereich – eine Reduzierung der journalistischen Kompetenz. Eine ‘Investition in den Journalismus’ ist die Einstellung der Medienseite jedenfalls nicht.”
1. Die mediale Inszenierung des russischen Militärs (deutschlandfunk.de, Sebastian Wellendorf, Audio: 4:48 Minuten)
Die Glorifizierung der russischen und sowjetischen Armee, auch die mediale, sei ein wichtiger Bestandteil der Propagandastrategie von Wladimir Putin. Die Militärparade am 9. Mai in Moskau spiele dabei eine große, aber nicht die alleinige Rolle. Die Konstruktion von Parallelwelten und die Verherrlichung des russischen Militärs sei seit Jahren eine zentrale Aufgabe der russischen Fernsehlandschaft, so die Deutschlandfunk-Russland-Expertin Gesine Dornblüth.
2. Aufmerksamkeitsökonomie des offenen Briefs (getrevue.co, Johannes Franzen)
In der aktuellen Ausgabe von “Kultur & Kontroverse”, dem Newsletter des Literaturwissenschaftlers Johannes Franzen, geht es unter anderem um die überall aufpoppenden offenen Briefe: “Die wahllose Unterzeichneritis ist eines der Grundmerkmale des Intellektuellenhabitus der Gegenwart. Das liegt vor allem daran, dass offene Briefe eine wichtige aufmerksamkeitsökonomische Funktion erfüllen. Wer auf der Liste steht, gehört zum Kanon derjenigen, die im Diskurs ihre Stimme erheben können. Er bringt sich in die Gesellschaft anderer wichtiger Menschen (z.B. Margaret Atwood) und partizipiert so an deren kulturellem Kapital. Zudem wird die eigene Sichtbarkeit erhöht, der eigene Name erklingt und wird dadurch einprägsamer.”
3. Die Weltretterinnen (tagesspiegel.de, Markus Ehrenberg)
Das WDR-Fernsehmagazin “Frau tv” wird dieses Jahr 25 Jahre alt. Markus Ehrenberg fasst zusammen, warum es die Sendung aus seiner Sicht auch nach dieser langen Zeit noch braucht.
4. »Ich lebe einen Horrorfilm« (spiegel.de)
Unregelmäßige Bezahlung, unangemessene psychologische Unterstützung, Sabotage von Versuchen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, Verletzungen von Privatsphäre und Menschenwürde – so beschreibt ein ehemaliger Content-Moderator in Kenia seine Arbeit für Facebook. Für 2,20 US-Dollar pro Stunde habe er Videos von Enthauptungen und von sexuellem Missbrauch an Kindern ansehen müssen, ohne dass man ihn darauf vorbereitet habe. Mehr Informationen über den Fall gibt es beim “Time”-Magazine (in englischer Sprache).
5. Ferngespräche: Griechenland (ardaudiothek.de, Holger Klein, Audio: 1:00:43 Stunden)
In den radioeins-“Ferngesprächen” unterhält sich Holger Klein mit Korrespondentinnen und Korrespondenten rund um den Erdball. Diesmal spricht er mit der ARD-Reporterin Verena Schälter, die von Athen aus über Griechenland, aber auch über Italien, Malta und den Vatikan berichtet.
6. Elon Musk würde Trumps Verbannung auf Twitter aufheben (zeit.de)
Kündigt sich womöglich Donald Trumps Twitter-Rückkehr an? Bald-Eigentümer Elon Musk hat sich auf einer Konferenz dazu aufgeschlossen geäußert. Er würde das Verbot aufheben, es sei “moralisch falsch” und “einfach nur dumm” gewesen. Trump hat sich zuletzt ablehnend zu einer möglichen Rückkehr geäußert, aber Aussagekraft und Haltbarkeit einer Trump-Äußerung sind bekanntermaßen begrenzt. So kann man wohl nur abwarten.
1. “Exxpress” muss Journalisten 10.000 Euro Entschädigung zahlen (derstandard.at, Michael Möseneder)
“Tagesspiegel”-Autor Sebastian Leber war für eine Reportage über Migration nach Kroatien gereist und dort festgenommen worden. Die österreichische Boulevardredaktion “Exxpress” hatte über den Fall in einer verzerrenden und wahrheitswidrigen Weise berichtet, gegen die sich Leber rechtlich gewehrt hat. Das Gericht habe Leber nun Recht gegeben und ihm wegen der erlittenen üblen Nachrede und Rufschädigung 10.000 Euro Entschädigung zugesprochen.
2. Kriegsberichterstattung: Social Media ersetzen die Präsenz vor Ort nicht (medienwoche.ch, Meret Michel)
Meret Michel beschäftigt sich mit dem Thema Kriegsberichterstattung. Die Recherche vor Ort sei unerlässlich für eine tiefergreifende Einordnung eines Konflikts. Dies sollten die Verlage entsprechend honorieren und “sich endlich von der Illusion verabschieden, dass Qualitätsjournalismus aus dem Ausland zum Discountpreis zu haben ist. Egal, ob eine Geschichte von Korrespondent:innen, Freien oder lokalen Kolleg:innen recherchiert und geschrieben wurde: Sie müssen so finanziert sein, dass sich der Aufwand und das Risiko für gute Geschichten wieder lohnt.”
3. Systematische Probleme der Pressefreiheit (reporter-ohne-grenzen.de)
In Griechenland wird die Pressefreiheit einem Bericht (PDF) von Reporter ohne Grenzen und Media Freedom Rapid Response zufolge auf vielfältige Weise systematisch eingeschränkt: “Die Probleme sind zwar nicht einzigartig, aber schwerwiegender als in den meisten anderen EU-Mitgliedstaaten, was die beiden Partnerorganisationen für höchst problematisch halten.”
4. RT.DE ignoriert weiter Sendeverbot (tagesspiegel.de, Joachim Huber)
Nach deutschem Rundfunkrecht darf der russische Sender RT DE wegen einer fehlenden Lizenz nicht senden, halte sich jedoch nicht an das amtliche Sendeverbot. Dafür sei die Produktions-GmbH nun in der dritten Stufe mit einem Zwangsgeld in Höhe von 50.000 Euro belegt worden.
5. Vom Popgenerator zur Propagandaschleuder (deutschlandfunk.de, Pia Behme & Michael Borgers, Audio: 7:41 Minuten)
Tiktok ist gemeinhin für harmlose Inhalte wie Tanzeinlagen und nachgesungene Lieder bekannt, doch seit dem Krieg gegen die Ukraine werde die App zunehmend zum Ort für Propaganda. Tiktok liefere laut einer NewsGuard-Untersuchung seinen Nutzerinnen und Nutzern innerhalb von 40 Minuten nach der Anmeldung “falsche und irreführende Inhalte über den Krieg in der Ukraine, unabhängig davon, ob sie eine Suche auf der Plattform durchführen”.
6. Exxpressionistisches (noemix.wordpress.com, Michael Nöhrig)
Das österreichische Online-Boulevardmagazin “Exxpress” habe aus einem spekulativen Tweet eines “Bild”-Redakteurs über angebliche Kriegsverbrechen einen Artikel gemacht. Michael Nöhrig erklärt, worum es geht, und ordnet die Sache ein.
Ende vergangener Woche konnte die “Bild”-Redaktion einen alten Bekannten präsentieren, ein “Schreckgespenst”, immer gut für große Aufregung und Blutdruckerhöhung bei den Leserinnen und Lesern:
Er war DAS Schreckgespenst der Griechenland-Krise, Frauenschwarm (polierte Glatze, muskulös, enge Hemden, dickes Motorrad) und Finanzminister der radikal-linken Syriza-Regierung auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise im Jahr 2015.
Gemeint ist: Yanis Varoufakis. Und der jagt den deutschen Steuerzahlern laut “Bild” gleich wieder einen Riesenschreck ein:
Buh!
Dieses Zitat, das Bild.de am Donnerstagabend auf der Startseite veröffentlichte, und die “Bild”-Zeitung in leicht abgeänderter Form …
… am Freitag im Blatt druckte, steht höchstens noch im losen Zusammenhang mit dem, was Varoufakis tatsächlich gesagt hat. Die linke Bewegung DiEM25, deren Gründer Varoufakis ist, hat auf ihrer Website die drei Fragen, die “Bild” geschickt hatte, und Varoufakis’ Antworten darauf in voller Länge veröffentlicht. Dort liest sich das alles etwas anders:
BILD: Will we ever get our money back?
Yanis Varoufakis: If you are one of the German or Greek oligarchs who benefitted immensely from the Greek state’s bailout, you have already received gargantuan returns – and you will receive even more in the future. Alas, if you a German or a Greek worker or middleclass person, you will be paying, and paying and paying…
(Hervorhebungen im Original, hier auch als deutsche Übersetzung lesbar.)
Anders als die “Bild”-Redaktion es darstellt, geht es Yanis Varoufakis offensichtlich nicht um einen vermeintlichen Konflikt zwischen den zahlenden Deutschen und den kassierenden Griechen, sondern, plakativ gesagt, um Oben gegen Unten – die deutschen oder griechischen Oligarchen, die Profiteure, auf der einen Seite und die deutschen oder griechischen Arbeiter und Mitglieder der Mittelschicht, die Zahlenden, auf der anderen.
Die Griechen, die laut Varoufakis ebenfalls “zahlen und zahlen und zahlen” werden, hat “Bild” einfach rausgestrichen. Das wörtliche Zitat, wie es auf der Bild.de-Startseite erschienen ist, ist eine Erfindung der “Bild”-Redaktion.
Im Text zitieren Peter Tiede und Liana Spyropoulou zwar etwas originalgetreuer, aber auch dort fehlten die zahlenden Griechen gänzlich:
Und heute?
Rechnet er knallhart ab und prophezeit den “deutschen Arbeitern und Mittelständlern” gegenüber BILD in Athen: “Sie werden leider zahlen und zahlen und zahlen …”
Profiteure der Krise: “Deutsche oder griechische Oligarche”, die laut Varoufakis “immens vom Rettungspaket des griechischen Staates profitiert haben” – und in Zukunft noch weiter profitieren werden.
Wir haben bei “Bild” nachgefragt, warum das Varoufakis-Zitat derart verfälscht wiedergegeben wird. Ein Sprecher antwortete uns:
Wir haben bei BILD nicht das vollständige Wortlautinterview mit Herrn Varoufakis veröffentlicht, sondern aus diesem insbesondere seine konkrete Antwort auf die Frage, ob wir (Deutsche) unser Geld wiederbekommen werden, in den Mittelpunkt des Beitrages gestellt.
Dabei wurde in der ursprünglichen Fassung des Artikels ein Zitat von Herrn Varoufakis nicht vollständig wiedergegeben. Er sprach nicht nur von deutschen Arbeitern und Mittelschichtlern, die “leider zahlen und zahlen und zahlen”, sondern von deutschen und griechischen. Wir haben dies inzwischen für unsere Leser transparent präzisiert.
Inzwischen befindet sich unter dem Bild.de-Artikel eine entsprechende “Anmerkung der Redaktion”. Die Überschrift lautet nun nicht mehr “‘Die Deutschen werden leider zahlen und zahlen und zahlen …'”, sondern “Deutsche Arbeiter werden ‘leider zahlen und zahlen und zahlen …'”. Und im Text steht jetzt:
Und heute?
Rechnet er knallhart ab und prophezeit: “Wenn Sie ein deutscher oder griechischer Arbeiter oder Mittelschichtler sind, werden Sie leider zahlen und zahlen und zahlen …”
Dass die “Bild”-Redaktion reagiert und transparent korrigiert, ist gut, dürfte aber herzlich wenig bringen. Zahlreiche Medien haben das falsche Varoufakis-Zitat längst abgeschrieben: n-tv.de, “Focus Online”, Merkur.de, das Mitglieder-Magazin der AfD, das Rechtsaußen-Verschwörungsblatt “Compact”. Und auch in den Sozialen Medien wurde der Bild.de-Artikel mit der falschen Überschrift kräftig rumgereicht, unter anderem vom Werteunion-Vorsitzenden Max Otte, von AfD-Politiker Stefan Wirtz und in der Facebook-Gruppe “Dr Hans-Georg Maaßen für Kanzler”.
Unser Buch ist überall erhältlich, zum Beispiel bei euren lokalen Buchhändlern, bei GeniaLokal, bei Amazon, bei Thalia, bei Hugendubel, bei buch7, bei Osiander oder bei Apple Books. Es ist auch als eBook und Hörbuch erschienen.
In unserem Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste” schreiben wir in einem Kapitel über die Feindbilder, die “Bild” seit Jahrzehnten kreiert und bedient – von den 68er-Studenten über die Wölfe bis zu den Geflüchteten. Und es geht auch um die Griechen und deren früheren Finanzminister Yanis Varoufakis. Hier ein Auszug:
“EURE neue griechische Regierung ist dreist, unverschämt und tritt auf wie eine Horde von ungehobelten und manierlosen Pennern. Dieses Pack repräsentiert Griechenland, weil die Mehrheit Eures Volkes diese Leute gewählt hat !” So beginnt ein Brief, der im März 2015 ohne Absender, aber ordentlich frankiert mit 62 Cent, im Briefkasten eines griechischen Restaurants in Düsseldorf landet:
In der Sonne liegen ist doch viel bequemer, insbesondere wenn andere dafür aufkommen … So geht es nicht !! Wir werden, solange diese Regierung derart schäbig, insbesondere fleißige und sparsame Europäer und Deutsche verunglimpft und beleidigt, ganz sicher keine griechischen Waren mehr kaufen, sondern auch Euren Laden ab sofort nicht mehr betreten !! Verkauft doch Eure Waren besser nicht mehr an die “Scheißdeutschen”, sondern macht Euch auf zurück in Euer korruptes, stinkendfaules und total unfähiges Drecksgriechenland
Und als letzten, fett gedruckten Satz: “Griechenland NEIN DANKE !!!!!!!!!”
Als sie den Brief gelesen habe, sei sie geschockt und verängstigt gewesen, erzählt die Restaurantbetreiberin später “Spiegel Online”: Sie habe sich gefragt, was als Nächstes komme. Stehe bald jemand vor der Tür und bedrohe sie, wenn sie abends das Lokal verlasse?
In seinem Brief greift der anonyme Verfasser jene Vorwürfe auf, die von den “Bild”-Medien in den Wochen zuvor nahezu täglich wiederholt wurden. Am 26. Februar 2015 etwa druckt “Bild” das Wort “NEIN” – quer über die gesamte Breite der Seite 2 der Bundesausgabe.1 Darunter die Forderung oder vielmehr der Befehl: “Keine weiteren Milliarden für die gierigen Griechen!” In einem Kommentar daneben schreibt Julian Reichelt, seinerzeit Chef von Bild.de, zu der Verlängerung der Finanzhilfen für Griechenland:
Was am Freitag im Deutschen Bundestag geschehen wird, mag man eigentlich keinem vernünftigen Menschen mehr erklären. Zusammengefasst: Wir überweisen weiter Milliarden nach Griechenland dafür, dass man uns ALLE bisher gebrochenen Versprechen (z. B. Kampf gegen Korruption und Steuerhinterziehung) NOCH MAL verspricht.
Wir kaufen Griechenland also im wahrsten Sinne des Wortes seine alten Reformlügen mit neuem Geld ab. Und das, obwohl inzwischen JEDER weiß, dass wir unser Geld niemals wiedersehen werden.
Sind wenigstens die griechischen Politiker, die uns ihr Versprechen geben, glaubwürdiger als ihre Vorgänger?
NEIN!
Dazu startet “Bild” eine “große Mitmach-Aktion”: Man solle die “NEIN”-Seite hochhalten, ein Selfie damit machen und an die Redaktion schicken. So könne und solle man zeigen, dass man “auch gegen weitere Milliarden-Hilfen für die Griechen” sei.
Solche Lesermobilisierungsaktionen setzt die “Bild”-Zeitung schon seit ihren frühen Jahren immer wieder ein, vor allem gegen ihre Gegner. “Durch Appelle an die Lesermeinung fordert die Redaktion politische Willensbekundungen ihrer Leser heraus, die – obwohl demokratisch verbrämt – bisweilen undemokratische Formen annehmen”, schreibt Peter Jordan 1970. So startet “Bild” etwa nach dem Mauerbau 1961 eine Leserbrief-Aktion gegen jene westdeutschen Theaterintendanten, die weiterhin Stücke des bekennenden Marxisten Bertolt Brecht spielten (“Millionen verfluchen diesen Mann”2). “Diese zur Volksabstimmung erhobene Aktion” sei “in wüste Beschimpfungen” ausgeartet, schreibt Jordan. “Bild” sei eben sehr bemüht gewesen, “die ohnehin bewegte deutsche Öffentlichkeit weiter aufzustacheln”.3
Um die bewegte deutsche Öffentlichkeit des Jahres 2015 aufzustacheln, beginnt “Bild” im Frühjahr damit, die Griechen – die währenddessen durch die Sparvorgaben massenhaft in die Armut getrieben werden – als “Raffke-Griechen” und “Griechen-Raffkes” zu bezeichnen. Damit wird der von “Bild” in den Jahren zuvor eifrig verwendete Begriff der “Pleite-Griechen” abgelöst, denn jetzt haben sie ja Geld: “unser Geld”! Die neu gewählte griechische Regierung nennt “Bild” “Radikalos-Regierung” oder “Griechos Radikalos”, aus Finanzminister Varoufakis machen sie wahlweise Finanzminister “Varoutricksis”, den “Krawall-Griechen” oder “Griechenlands Radikalo-Naked-Bike-Rider”. (Ein “Naked Bike” ist einfach ein Motorrad ohne Verkleidung, für “Bild” weckt es aber offenbar aufregend-düstere Assoziationen.) Der damalige Politik-Chef Béla Anda etwa schreibt in seinem “Politik-Briefng”:
Wie lederbejackte Rüpel-Rocker röhren Griechenlands Neo-Premier und sein Posterboy-Finanzminister seit ihrem mit platten Parolen erzielten Wahlsieg durch Brüssel. Ihr Gesetz ist die Straße. Hier sind sie (politisch) groß geworden. Hier ist ihre Hood. Deren Unterstützung wollen die Kawa-Naked-Biker (zumindest Varoufakis hat eine) nicht verlieren.
Vor allem auf Varoufakis, den neuen, linken Finanzminister, schießen sich die “Bild”-Medien ein. Sie engagieren beispielsweise eine Grafologin, die seine Handschrift untersucht und darin “Pathos und Geltungsbedürfnis” feststellt; die Schrift wirke “selbstgefällig” und gehe merkwürdigerweise im “Schlusszug wieder scharf nach links”, das wirke, “als würde er sich selbst wieder durchstreichen, als würde er unbewusst das zuerst Gesagte wieder zurücknehmen”.
Wenig später ist “Bild” maßgeblich an einer bizarren Mittelfinger-Diskussion beteiligt, die sich tagelang hinzieht und weltweit für verwundertes Kopfschütteln sorgt. Im Kern geht es um ein Video, in dem Varoufakis, wie “Bild” entrüstet schreibt, “uns den Mittelfinger” zeige. Tatsächlich muss man die Geste im Kontext sehen: Das Video ist mehrere Jahre alt, Varoufakis zu dieser Zeit noch gar kein Minister und die Geste zur Illustration eines hypothetischen Szenarios gedacht, in dem Varoufakis den deutschen Banken den Finger gezeigt hätte. Eine ebenso komplizierte wie belanglose Geschichte, die in den “Bild”-Medien auf die Nachricht reduziert wird, Varoufakis habe den Mittelfinger “gen Deutschland” gereckt:
Keine Krawatte, der Kragen seines Sakkos hochgestellt, Hände in den Hosentaschen: So zeigen die meisten Fotos Yanis Varoufakis. […] Mit einer drastischen Geste – dem gestreckten Mittelfinger – zeigte er in der Vergangenheit auf Deutschland!
Die Diffamierungskampagne – die bis heute immer mal wieder aufflammt – beschränkt sich aber nicht bloß auf die Politiker Griechenlands, sondern trifft immer wieder auch die Griechen als gesamtes Volk. Seit Beginn der “Pleite-Griechen”-Berichterstattung werden “Bild”-Attacken häufig so formuliert, dass sie sich auf alle Griechen beziehen: “So verbrennen die Griechen die schönen Euros!”4“Wer soll den Griechen noch glauben?”“Keine Gnade mit den Griechen!” Michalis Pantelouris, Journalist und Sohn eines Griechen, schreibt schon 2010:
Es wird das Bild gemalt von einer Nation, die in fauler Gier anstatt zu arbeiten lieber die EU ausgenommen hat und jetzt überversorgt und fett am Strand liegt, während in Deutschland hart gearbeitet wird, um ihnen das Geld hinterher zu werfen. Natürlich braucht man keinen Nobelpreis, um zu erkennen, dass es so nicht stimmt. Man braucht gerade mal ein Gehirn.
Aber auch: ein Mindestmaß an Informationen, um sich ein realistisches Bild machen zu können. Doch wie bei den Studenten der 68er, den Wölfen und anderen Feinden ersetzt “Bild” bei den Griechen Fakten durch Gefühle. In einer Untersuchung der Griechenland-Berichterstattung deutscher Medien kommt das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in der Hans-Böckler-Stiftung 2016 zu dem Ergebnis:
“Bild” berichtete in 81,6 Prozent der Artikel und damit am stärksten negativ über die griechische Regierung, setzte am intensivsten auf Negativismus, war im geringsten Umfang ausgleichend zwischen verschiedenen Positionen, setzte gezielt Akteure mit negativen Positionen gegenüber der Regierung Griechenlands als Zitatgeber ein und stimmte dann in Artikeln am stärksten mit diesen überein. Die Reformagenda wurde zudem bei der Boulevardzeitung “Bild” im geringsten Umfang thematisiert. Es wurde sich nur auf sehr wenige Reformziele konzentriert, wie z. B. die Einführung einer Großvermögenssteuer, die Reform des Rentensystems oder eine Mehrwertsteuerreform. 73 spezifische Reformen wurden hingegen komplett ausgelassen, soviel wie bei keinem anderen Medium.
Ende Februar 2015 ist die Berichterstattung auch im Bundestag ein Thema. Axel Schäfer, damals stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion, hält die (von ihm durchgestrichene) “NEIN”-Seite aus der “Bild”-Zeitung zu Beginn seiner Rede hoch und sagt unter Applaus:
Wir sind hier sicherlich in einer Reihe von Punkten unterschiedlicher Auffassung. Das ist auch gut so, dass wir das diskutieren. Aber in einem Punkt sollten wir uns hier alle […] einig sein: Wir unterstützen keine Kampagnen gegen andere Länder. Wir unterstützen das nicht!
“Die ‘Bild’ spricht von den gierigen Griechen”, fügt er später in einem Interview hinzu, “aber wir beleidigen niemals ein Land. Wir gegen die – das gibt es nur im Fußball …”
“Wir setzen uns für eine freie und soziale Marktwirtschaft ein”, lautet einer der fünf “Grundsätze und Werte” des Axel-Springer-Konzerns. Und auch die “Bild”-Redaktion vertritt in ihrer Berichterstattung überwiegend die Ansicht: Soll der Markt es regeln. Aber wenn es ums Autofahren geht oder genauer: um die Spritpreise, ja, dann …
Keine Frage: Die Preise für Benzin und Diesel sind in letzter Zeit stark gestiegen. Das stellt viele Menschen, die aufs Autofahren angewiesen sind, vor größere finanzielle Herausforderungen. Aber dass die Spritpreise in Deutschland die höchsten in Europa sind, ist schlicht falsch.
Bei Bild.de steht dazu:
Die Preise an deutschen Tankstellen ziehen weiter an: Diesel und Super E10 erreichen 9-Jahre-Hochs, teilte der ADAC am Mittwoch mit. Und damit gewinnt Deutschland das, was Hansis Jungs zuletzt 1996 packten: Wir sind (Spritpreis-)Europameister! (…)
BILD macht den Check, wie es im europäischen Vergleich an den Zapfsäulen anderer Länder preislich derzeit aussieht.
Die erschütternde Bilanz vorab: Deutschland ist Spitzenreiter! Bei teuerstem Super UND Diesel. Dicht gefolgt von Norwegen.
Die “Bild”-Redaktion präsentiert in ihrem Artikel eine Tabelle mit den Super- und Dieselpreisen aus 15 verschiedenen Ländern: Deutschland, Norwegen, Italien, Dänemark, die Niederlande, Frankreich, Griechenland, Spanien, die Schweiz, Tschechien, Kroatien, Österreich, Polen, die Türkei und Bulgarien. Deutschland steht mit den höchsten Preisen ganz oben. Bild.de beruft sich dabei auf die Seite benzinpreis.de. Die schreibt über sich selbst:
benzinpreis.de ist ein Projekt, in dem Benzin- und Dieselpreise weltweit von Benutzern der Seite eingegeben und vom System statistisch aufbereitet werden.
Die Verlässlichkeit der Zahlen von benzinpreis.de hängt also davon ab, wie oft und wie genau die Nutzer dort Preise eintragen. Und das findet nicht so irre häufig statt: Der aktuellste Eintrag für Norwegen beispielsweise stammt sowohl bei Super als auch bei Diesel vom 20. April 2020. Aus den Niederlanden kam die letzte Super-Meldung am 3. August 2020 rein. Für Italien stammt der neueste Eintrag immerhin vom 15. September 2021 – ist damit aber auch schon einen Monat alt. Die Preise aus Kroatien stammen vom 22. Juni 2020. Die aus der Türkei vom 20. April 2020. Und so weiter. Die Preise für Deutschland stammen laut benzinpreis.de hingegen von der Markttransparenzstelle für Kraftstoffe des Bundeskartellamts.
Die “Bild”-Redaktion vergleicht also aktuelle Zahlen aus Deutschland mit veralteten aus dem Ausland, teilweise von vor eineinhalb Jahren.
Schaut man sich hingegen aktuellere Zahlen an, beispielsweise auf der Seite GlobalPetrolPrices.com, die bei der Preisermittlung laut eigener Angabe auf mehrere voneinander unabhängige Quellen zurückgreift (PDF), sieht man, dass Deutschland bei weitem nicht “Spritpreis-Europameister” ist: Beim Superbenzin lagen am 11. Oktober die Niederlande, Norwegen, Dänemark, Griechenland und Italien mit höheren Preisen vor Deutschland. Nimmt man noch weitere europäische Staaten in den Vergleich mit auf, die, warum auch immer, in der “Bild”-Liste nicht auftauchen, liegen auch noch Schweden, Finnland, Island, Portugal und Monaco vor Deutschland. Beim Diesel waren die Preise in Schweden, Norwegen, Großbritannien, Island, Dänemark, Belgien, Monaco, Finnland, Kroatien, Italien, Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz höher als in Deutschland.
Mit Dank an Marian und Theo für die Hinweise!
Nachtrag, 17. Oktober: Noch ein nachgereichter Gedanke: Was in dem (falschen) “Bild”-Ranking überhaupt keine Rolle spielt, ist die unterschiedliche Kaufkraft in den verschiedenen europäischen Ländern.
In der vergangenen Woche haben die “Bild”-Medien mindestens 31 Mal Fotos von Menschen gezeigt, die Opfer eines Unglücks oder Verbrechens geworden sind.
In drei Fällen waren die Gesichter verpixelt, in zwei Fällen die Augen. In 26 Fällen gab es keinerlei Verpixelung.
Nur in einem Fall haben Angehörige der Veröffentlichung laut “Bild”-Angabe zugestimmt (bei einem Mann, der in Tschechien bei einem Tornado ums Leben kam).
***
Ohne erkennbare Zustimmung veröffentlichte die “Bild”-Zeitung (wie in der Woche zuvor auch schon in ihrer Onlineausgabe) Fotos einer Frau, die bei dem Messerangriff in Würzburg getötet wurde. Eines davon groß auf der Titelseite:
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag von uns.)
Woher die Fotos stammen, wird nicht ersichtlich. Eines sieht aus, als sei es durch eine Scheibe hindurch aufgenommen worden.
Bild.de zeigt auch das private Foto einer 16-Jährigen, die an einem Bahnübergang von einem Zug erfasst wurde und starb:
Und die Gesichter zweier Bergsteigerinnen, die in den Alpen ums Leben kamen:
“Bild am Sonntag” und Bild.de zeigen auch (erneut) Fotos von Menschen, die bei einem Gebäudeeinsturz in Miami starben:
“Foto: Quelle: Twiiter” [sic!]
Veröffentlicht werden seit einigen Wochen auch immer wieder Bilder einer Frau, die in Griechenland getötet wurde, mutmaßlich von ihrem Ehemann (der ebenfalls immer wieder gezeigt wird):
Am häufigsten zeigten die “Bild”-Medien in der vergangenen Woche – wie auch in der Woche davor – Fotos eines Paares, das auf dem Gardasee bei einer Kollision zweier Boote gestorben ist:
Mindestens 18 Mal wurden ihre Gesichter bislang in “Bild”, “Bild am Sonntag” und bei Bild.de gezeigt.
In vielen Fällen werden Freunde, Kollegen oder Familienmitglieder sogar vonReporternbedrängt, damit sie Fotos der Menschen herausrücken, die sie gerade verloren haben.
Wie jedoch viele Betroffene selbst darüber denken, kann man zum Beispiel hier nachlesen. Dort sagt der Vater eines Mädchens, das beim Amoklauf von Winnenden getötet wurde und deren Foto in den Tagen darauf immer wieder in der “Bild”-Zeitung erschien:
Die “Bild”-Zeitung und andere, auch Fernsehsender, ziehen Profit aus unserem Leid! Dreimal hintereinander sind Bilder [unserer Tochter] erschienen, ohne dass wir das gewollt hätten. Wir hätten das nie erlaubt. Die reißen die Bilder an sich und fragen nicht danach, was wir Hinterbliebenen denken und fühlen.
Pressekodex Richtlinie 8.2
Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt.
In einem Interview in unserem Buch sagt ein anderer Betroffener, dessen Bruder bei einem Skiunfall gestorben ist und später ohne Erlaubnis der Angehörigen groß auf der Titelseite der ”Bild”-Zeitung zu sehen war:
Das war eines der schlimmsten Dinge an der Geschichte: Dass die “Bild” die Kontrolle darüber hat, mit welcher Erinnerung mein Bruder geht. Dass das letzte Bild von der “Bild”-Zeitung kontrolliert wird und nicht von ihm selbst oder von uns.
Auch in anderen Medien kommt es vor, dass solche Fotos veröffentlicht werden. Doch niemand macht es so häufig und so eifrig wie “Bild”. Mehr als die Hälfte aller Rügen, die der Presserat je gegen die “Bild”-Medien ausgesprochen hat, bezog sich auf die unzulässige Veröffentlichung von Opferfotos.
Um zu verdeutlichen, in welchem Ausmaß “Bild” auf diese Weise Profit aus dem Leid von Menschen zieht, wollen wir hier regelmäßig dokumentieren, wie häufig die “Bild”-Medien solche Fotos veröffentlichen.
1. Pandemie-Leugner Wodarg fordert 250.000 Euro von Volksverpetzer (volksverpetzer.de, Thomas Laschyk)
Die Äußerungen von Wolfgang Wodarg zur COVID-19-Pandemie in Deutschland stoßen bei vielen Wissenschaftlern, Politikerinnen und Medien auf Kritik, so auch beim “Volksverpetzer”. Dagegen setzt sich Wodarg nun mit juristischen Mitteln zur Wehr und besteht laut “Volksverpetzer” nicht nur auf der Abgabe einer Unterlassungserklärung, sondern auch auf Zahlung von 250.000 Euro als angeblichen Schadensersatz. Der “Volksverpetzer” erfährt im Netz derweil eine große Welle der Solidarität.
2. Königlicher Badeurlaub ist kein zeitgeschichtliches Ereignis (lto.de)
Das Landgericht Köln hat es der “Bild”-Redaktion per einstweiliger Verfügung verboten, Urlaubsfotos des niederländischen Königspaares zu veröffentlichen. Die Aufnahmen zeigen König Willem-Alexander und Königin Máxima in Badebekleidung bei einem Yachtausflug in Griechenland und waren offensichtlich mit einem Teleobjektiv geschossen worden. Der Springer-Verlag habe den Beschluss des Gerichts anerkannt. Ihm drohe im Wiederholungsfall ein Ordnungsgeld in Höhe von 250.000 Euro.
3. Die Liebe zu Fox News ist erkaltet – plant Trump jetzt einen eigenen TV-Sender? (rnd.de, Imre Grimm)
Lange Zeit war Fox News Donald Trumps Haus- und Hofsender, doch seit einiger Zeit scheint die Liebe erkaltet. Nun hat ein Fox-Moderator die Übertragung einer Live-Pressekonferenz mit den Worten “Ich kann Ihnen das nicht weiter mit gutem Gewissen zeigen” abgebrochen. Imre Grimm kommentiert: “Es scheint, als habe der Sender plötzlich eine menschliche Regung entdeckt, die lange überlagert schien von der gierigen Begeisterung über Trumps quotenträchtige Qualitäten als Entertainer und Menschenfänger: das eigene Gewissen.” Nun würden sich einige Beobachter fragen, ob Trump einen eigenen Sender starten wolle.
4. So niedrig ist der Anteil der Frauen in Berichten von Spiegel, Focus, Bild am Sonntag und Welt am Sonntag (kress.de, Roland Schatz)
Media Tenor, ein Schweizer Unternehmen für Medienanalysen, hat untersucht, wie oft in den vergangenen zehn Jahren in großen Medien wie “Spiegel”, “Focus”, “Bild am Sonntag” und “Welt am Sonntag” über Männer und Frauen geschrieben wurde. Was den Anteil von Frauen in der Berichterstattung betrifft, kommt besonders der “Spiegel” schlecht weg: “Beim Spiegel dominiert also die Einstellung: In erster Linie lohnt es sich über Tätigkeiten von Männern zu berichten, wenn sie ihre Leserschaft über Entwicklungen in Politik und Wirtschaft informieren. 2020 wird seit 2001 das extremste Jahr: in den letzten 20 Jahren spielten Frauen für die Hamburger nie eine unwichtigere Rolle als in diesen Covid19-Zeiten.”
5. Gericht weist Klage gegen Falschmeldung der Polizei ab (netzpolitik.org, Marie Bröckling)
Im Jahr 2017 twitterte die Polizei im Zusammenhang mit der Räumung des linksalternativen Kiezladens Friedel54, dass im Gebäude ein Türknauf unter Strom gesetzt worden sei. Die Meldung verbreitete sich sehr schnell, auch aufgrund der Berichterstattung einiger Medien, stellte sich jedoch später als Falschmeldung heraus. Nun musste sich ein Gericht mit dem Vorgang befassen. Es hat die Klage der Betroffenen jedoch abgewiesen. Der Richter habe Verständnis für den Wunsch der Kläger, ein Grundsatzurteil zum Twittern der Polizei zu erwirken. Es sei jedoch der “richtige Fall zum falschen Zeitpunkt”.
6. Zwei Mal «Streaming» – oder: Die Renaissance der Programmzeitschrift (medienwoche.ch, Nick Lüthi)
Die Idee einer Streaming-Programmzeitschrift erinnert ein wenig an die guten alten Zeiten, in denen man im Buchhandel noch gedruckte Internet-Adresslisten kaufen konnte. Nick Lüthi hat sich zwei Streaming-Magazine für den deutschen beziehungsweise den Schweizer Markt angeschaut.
Weiterer Lesehinweis: Während die klassischen TV-Sender mit ihren Mediatheken immer mehr zu einer Art Gegen-Netflix werden wollen, testet der Streaming-Anbieter in Frankreich ein lineares Programm, das für alle gleich ist: Man nannte es Glotze (sueddeutsche.de, Claudia Tieschky).
1. Die angebliche Superspreaderin von Garmisch (tagesschau.de, Andrej Reisin & Patrick Gensing)
In einigen Medien war plakativ von einer “Superspreaderin” die Rede: Eine in Deutschland lebende US-Amerikanerin habe nach der Rückkehr aus einem Griechenland-Urlaub unzählige Menschen mit Corona infiziert. Doch ganz so einfach ist es nicht, wie Andrej Reisin und Patrick Gensing recherchiert haben. Es sei “bislang keine Infektion in Garmisch-Partenkirchen nachweislich auf die Frau zurückzuführen, die von Behörden, Politik und Medien seit Tagen ‘Superspreaderin’ genannt wird. Fragwürdig erscheint in diesem Zusammenhang das Verhalten des Landrats und einiger Medien, die die Verantwortung für den Anstieg der Zahlen eines ganzen Landkreises ohne Beweise dem Verhalten einer jungen Frau anlasten.”
2. Nicht alles braucht einen Coronadreh (taz.de, Marlene Knobloch)
Zwei Kulturwissenschaftler von der Universität Passau haben die Spezialsendungen von ARD und ZDF zur Corona-Pandemie analysiert. Die Berichterstattung sei zu negativ, zu dramatisierend, zu häufig gewesen, so ihr Fazit. Marlene Knobloch überlegt, wie eine andere Corona-Berichterstattung gelingen kann. Ihr erster Tipp: “Nicht jeder Artikel braucht einen ‘Coronadreh’. Porträts und Reportagen zu anderen Themen funktionieren gut ohne den Hinweis auf die schreckliche Zeit, in der wir aktuell leben.”
3. Wie sich die “Berliner Zeitung” entwickelt hat (deutschlandfunk.de, Annika Schneider, Audio: 5:02 Minuten)
Ein Jahr ist es her, dass die “Berliner Zeitung” vom Unternehmerpaar Silke und Holger Friedrich übernommen wurde. Das Blatt hatte zuvor turbulente Zeiten und einige Eigentümerwechsel durchgemacht, von Gruner+Jahr über Holtzbrinck und den britischen Medieninvestor David Montgomery bis zur Mediengruppe Dumont. Und auch der Verkauf an die Friedrichs habe die Zeitung nicht unbedingt in ruhige Fahrwasser gebracht, wie Deutschlandfunk-Korrespondentin Claudia van Laak berichtet.
4. Karriere und Journalismus: “Im Medienbereich denken viele über einen Plan B nach”, Teil 1 (fachjournalist.de, Ulrike Bremm)
Andrea Huss war lange Zeit in leitenden Positionen bei verschiedenen Verlagen beschäftigt und ist jetzt unter anderem als Businesscoach tätig. Im Gespräch mit dem “Fachjournalist” erzählt sie, wie Medienleute sich angesichts der aktuell schwierigen Zeiten neu aufstellen können. Dabei geht es um die innere Haltung, aber auch um praktische Vorschläge.
5. Bedenken in Bellevue (sueddeutsche.de, Georg Mascolo & Ronen Steinke)
Im Juni wurde das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität beschlossen, doch mehrere Experten haben Zweifel an Ausführung und Umsetzung. Es bestehe sogar die Möglichkeit, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dem Gesetz die notwendige Unterschrift verweigert – wegen verfassungsrechtlicher Bedenken.
6. »Die Wahrheit liegt allein in der Wahrheit« (spektrum.de, Christiane Gelitz)
Der Wissenschaftsjournalist Dirk Steffens (“Terra X”, ZDF) hat eine klare Haltung, was den Umgang mit Coronavirusleugnern anbelangt: “Wir dürfen unsere Zeit nicht mit Idioten verschwenden, nicht bei der Klimakrise, nicht beim Artensterben, nicht bei der Corona-Krise. Die Probleme sind zu groß und zu wichtig. Wir müssen überlegen, wann wir die Schulen aufmachen und wo wir Mundschutz tragen sollten. Dazu kann man auch verschiedener Meinung sein. Dass das Coronavirus nicht existiere oder harmlos sei, kann man allerdings nicht als Meinung gelten lassen.” Wo will man die Grenze ziehen? Wie lässt sich über Verschwörungserzählungen berichten? Und wie würde Steffens mit Menschen aus seinem privaten Umfeld umgehen, die derlei Mythen anhängen? All das sind Themen, über die Steffens mit “Spektrum”-Redakteurin Christiane Gelitz gesprochen hat.
Schaut man sich den Reuters-Artikel an, den Schuler für seine Stimmungsmache missbraucht, erkennt man sofort, dass das alles nichts mit einem Beschluss des (deutschen) Koalitionsausschusses zu tun hat. Die Jugendlichen auf dem Foto gehören zu den zwölf minderjährigen Geflüchteten, die Luxemburg gestern aufgenommen hat. Am Wochenende sollen in Deutschland 50 Minderjährige ankommen, die sich bisher in Lagern auf den griechischen Inseln aufgehalten haben.
Neben diesem falschen Zusammenhang, den Schuler herstellt, ist seine Aussage an sich auch irreführend. Der Koalitionsausschuss hat nicht beschlossen, nur “unbegleitete minderjährige Mädchen” aufzunehmen. Im Beschluss der Großen Koalition (PDF) von Anfang März steht:
Ordnung und Humanität gehören für uns zusammen. Deswegen wollen wir Griechenland bei der schwierigen humanitären Lage von etwa 1000 bis 1500 Kindern auf den griechischen Inseln unterstützen.
Es handelt sich dabei um Kinder, die entweder wegen einer schweren Erkrankung dringend behandlungsbedürftig oder aber unbegleitet und jünger als 14 Jahre alt sind, die meisten davon Mädchen.