Journalisten fallen ja gerne mal auf Aprilscherze rein — nicht so die Auto-Redakteure von “Focus Online”, die im Gegenteil vergangene Woche die “originellsten Auto-April-Scherze” dokumentierten:
Neben einem Taubenflugverbot in Autonähe und Sondereditionen zur Hochzeit von Prinz William hebt “Focus Online” auch diese humoristische Meisterleistung hervor:
Als Refugium von Scherzkeksen bekannt ist auch die Pressestelle des Reifenherstellers Continental. In diesem Jahr falschmeldete (sic!) die Gummibäcker, dass Kautschuk künftig aus Löwenzahn hergestellt werden könne. Voraussetzung für die wirtschaftliche Nutzung sei allerdings der großflächige Anbau. “Ich hoffe, der Löwenzahn zählt in absehbarer Zeit zu den Nutzpflanzen in Deutschland, verdient hätte er es”, wird ein Experte zitiert.
Wirklich eine originelle Idee — und von langer Hand geplant. Die Pressestelle von Continental hatte ihren Aprilscherz nämlich schon am 24. Februar veröffentlicht. Wohl, damit er auch in Monatszeitschriften Platz finden kann.
Alternativ könnte es natürlich auch sein, dass die im Februar veröffentlichte Pressemitteilung kein Aprilscherz war. Zumal der von Continental zitierte Professor Dirk Prüfer tatsächlich an der Uni Münster auch zum Thema Löwenzahn forscht.
Und tatsächlich hat die Pressestelle von Continental uns gegenüber bestätigt, dass die Meldung über Löwenzahn als Kautschukliferant völlig ernst gemeint war: “Der Aprilscherz war ein anderer.”
Mit Dank an Rebecca.
Nachtrag, 19.30 Uhr: … und schon haben die Scherzkekse von “Focus Online” den Artikel ganz unauffällig korrigiert: Der Löwenzahn ist aus der Überschrift verschwunden und im Text loben die Autoren jetzt den tatsächlichen Aprilscherz von Continental.
Neben dem jemenitischen König sollte vielleicht auch die Person, die auf focus.de die Überschriften und Einleitungstexte zimmert, über einen Rücktritt nachdenken:
Denn im Jemen regiert schon seit 1962 kein König mehr. Dafür gibt es einen Präsidenten namens Ali Abdullah Saleh, der tatsächlich über einen Rücktritt nachdenkt, — und das geht auch ganz klar aus dem übrigen Text hervor.
Mit Dank an Matthias K.
Nachtrag, 14:18 Uhr:focus.de hat Ali Abdullah Saleh wieder auf Präsidentenformat zurückgestutzt.
Man soll mit sowas ja keine Späße machen, aber stellen wir uns für einen Moment mal vor, der Fahrer von Angela Merkels Dienstwagen setzt das Automobil in den Straßengraben. Er war allein unterwegs, um die Kanzlerin abzuholen, und ihm ist nichts schlimmes passiert.
Würden die Zeitungen am nächsten Tag groß über diese, für Merkel gefährliche Situation berichten? Es ist nicht auszuschließen.
Gut: Es hat ein anderes Transportmittel erwischt und es ist letztlich noch weniger passiert, aber die Medien berichten tatsächlich.
Irre, oder? Nur “wenige Stunden”, nachdem Angela Merkel einen Hubschrauber verlassen hat, ist dieser “beinahe abgestürzt”.
Doch die “Bild am Sonntag” ist mit ihrer Feststellung, Merkel sei “nur knapp einem Beinahe-Absturz ihres Polizeihubschraubers entgangen” noch vergleichsweise zurückhaltend unterwegs.
Der gleiche Burkhard Uhlenbroich, der im Print noch einigermaßen entspannt war, verkündet hier plötzlich:
Bundeskanzlerin Angela Merkel ist am Mittwochabend bei einer Wahlkampfveranstaltung nur knapp einem Absturz ihres Hubschraubers entgangen.
Und weil “Bild am Sonntag” die Story vorab an die Agenturen gegeben hatte, taten die das Ihre, um den Wahnsinn zu steigern.
AFP scheint sich selbst nicht ganz sicher gewesen zu sein, was jetzt genau passiert ist:
“BamS”: Merkel entkommt knapp Beinahe-Absturz ihres Hubschraubers – Polizei geht nicht von Sabotageakt aus
Berlin, 20. März (AFP) – Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist am Mittwochabend bei einer Wahlkampfveranstaltung nur knapp einem Beinahe-Absturz ihres Polizeihubschraubers entgangen. Nach Informationen der “Bild am Sonntag” (BamS) hatte der Hubschrauber sie nach einem mehrstündigen Flug zunächst in Offenburg abgesetzt. Beim Weiterflug nach Oberschleißheim setzten laut “BamS” zeitgleich beide Antriebsturbinen des Superpuma 332 aus. Der Helikopter sackte aus einer Höhe von 1600 Metern ab. Der Crew gelang es erst wenige hundert Meter über dem Erdboden, die Turbinen wieder zu starten und einen Absturz zu verhindern.
dpa ist da schon klarer, gibt sich in der Überschrift aber auch missverständlich:
“Bild am Sonntag”: Merkels Hubschrauber fast abgestürzt
Berlin (dpa) – Ein Polizeihubschrauber von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist laut “Bild am Sonntag” nur knapp einem Absturz entgangen. Nur wenige Stunden nachdem die CDU-Vorsitzende den Helikopter am Mittwochabend verlassen habe, seien die Turbinen ausgefallen und der Helikopter um rund 1000 Meter abgesackt, berichtet das Blatt. Der Besatzung sei es erst wenige hundert Meter über dem Erdboden gelungen, die Turbinen wieder zu starten.
Reuters zerstört die in der Überschrift erzeugte Spannung dann gleich mit dem ersten Satz:
Merkels Hubschrauber wäre am Mittwoch beinahe abgestürzt
Berlin, 20. Mär (Reuters) – Ein Hubschrauber von Angela Merkel ist am Mittwoch nur wenige Stunden nach einem Flug mit der Kanzlerin beinahe abgestürzt. In rund 1600 Metern Höhe hätten beide Antriebsturbinen der Maschine ausgesetzt, erklärte am Sonntag eine Sprecherin der Bundespolizei, die damit einen Bericht der “Bild am Sonntag” bestätigte.
Auftritt deutsche Online-Medien!
“Spiegel Online” ging zunächst in die Vollen:
Das war den Redakteuren im Nachhinein dann wohl doch ein bisschen peinlich. Sie änderten Überschrift und Vorspann, entfernten das Foto von Merkel und setzen einen Hinweis unter den Artikel:
Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels entstand der Eindruck, Merkel habe zum Zeitpunkt des Beinahe-Unglücks noch in dem Helikopter gesessen. Dies war nicht der Fall. Wir entschuldigen uns für die Unklarheit.
sueddeutsche.de hat seine Überschrift inzwischen von “Kanzlerin entgeht knapp Hubschrauber-Absturz” in “Merkels Hubschrauber beinahe abgestürzt” geändert, verkündet im ersten Satz aber immer noch:
Vermutlich haben ganz viele deutsche Journalisten gestern auch “nur knapp” den Lotto-Jackpot nicht geknackt: Tippschein nicht abgegeben oder so.
Mit Dank an Andreas L., Daniel B., Carsten Z., Dennis S., Matthias Sch. und Horst M.
Nachtrag, 21. März: Zahlreiche Leser haben uns auf das Prinzip der Autorotation hingewiesen, die es ermöglicht, einen Hubschrauber auch bei ausgefallenem Antrieb sicher zu landen. Die ganze Situation war also offenbar noch unspektakulärer.
Die Zukunft des Journalismus soll unter anderem im Bewegtbild liegen, hört man mitunter. Videos sind also wichtig — und wenn darin kleine Kinder, flauschige Tiere oder die Terroranschläge des 11. September 2001 zu sehen sind, setzt bei Journalisten alle Vernunft aus.
In den letzten Tagen war es mal wieder soweit:
Ein “bisher unbekanntes Video” sei veröffentlicht worden, schreibt “Spiegel Online”, während 20min.ch ein “kürzlich freigegebenes Video” entdeckt zu haben glaubt und oe24.at erklärt, das “Neue an den Bildern” sei vor allem, “dass sie die brennenden Türme des World Trade Center von oben zeigen”. Von einem “neuen Video” sprechen unter anderem auch Bild.de, n-tv.de, RTL.de, kress.de, Reuters und die Website der “Financial Times Deutschland”. Eigentlich gibt es kaum eine Nachrichtenseite, die nicht über die “neuen Bilder” berichtet: selbst die BBC spricht von “Aufnahmen, die noch nie zu sehen waren”.
Und all das nur, weil die “Enthüllungsplattform” cryptome.org ein Video veröffentlicht hatte, das die New Yorker Polizei am 11. September 2001 an Bord eines Polizeihubschraubers aufgenommen hatte.
Nicht einmal Cryptome selbst behauptet, das Video sei “neu”. Es gehört zu dem umfangreichen Material, das das “National Institute of Standards and Technology” (NIST) nach den Anschlägen gesammelt hatte, um den Einsturz des World Trade Centers bautechnisch zu untersuchen. Dabei handelt es sich um die Kopien von teils veröffentlichten, teils unveröffentlichten Aufnahmen, die das NIST zusammengetragen hatte und seitdem in seinem Besitz hat.
Unter Berufung auf den Freedom of Information Act, fordern immer wieder mehr oder weniger seriöse Organisation die Herausgabe des vom NIST gesammelten Materials, das (vor allem europäische) Journalisten regelmäßig für “beschlagnahmt” oder “unter Verschluss gehalten” halten (BILDblog berichtete).
Womöglich ist das 17-minütige Video, das Cryptome jetzt online gestellt hat, in dieser Form tatsächlich noch nie veröffentlicht worden. Bei der Menge des 9/11-Materials, das auf verschiedenen Kanälen unterwegs ist, lässt sich das schwer sagen. Aber die spektakulären “neuen” Bilder, die die Medien wie “Spiegel Online” jetzt als “bisher unveröffentlichte Aufnahmen” anpreisen, die kann man schon seit dreieinhalb Jahren auf YouTube sehen — heller und mit einem größeren Bildausschnitt und hebräischen, statt deutschen Untertiteln:
Bei “Focus Online” haben sie den Braten gerochen und bemerken jetzt süffisant:
Die Verantwortung, Quellen zu überprüfen, nehmen Enthüllungsplattformen professionellen Journalisten nicht ab. Eine simple Suche bei YouTube hätte genügt, um das vermeintlich unveröffentlichte Material zu enttarnen.
Über den Sinn oder Unsinn des Weltfrauentages, der vor 100 Jahren zum ersten Mal begangen wurde, haben im vergangenen Jahr Alice Schwarzer und Caroline Korneliy bereits ausführlich debattiert. Und auch wenn Alice Schwarzer dafür plädiert, den Frauentag abzuschaffen, wäre es interessant zu erfahren, was die Feministin davon hält, wie die Zeitung, in der sie ihre Gerichtsreportagen veröffentlicht, mit diesem besonderen Datum umgeht.
Der Titel klingt ja eigentlich vielversprechend:
Doch abgesehen davon, dass der Weltfrauentag ursprünglich mit dem Ziel der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ins Leben gerufen wurde, dürfte selbst Mario Barth viele der “100 Wahrheiten über Frauen” als abgedroschen und klischeebehaftet empfinden:
Nr. 5:
Schön mit der Hand schreiben.
Nr. 10:
Mehrere Diäten gleichzeitig machen.
Nr. 11:
Schuhe kaufen. Frauen besitzen im Schnitt 14 Paar Schuhe, Männer acht.
Nr. 21:
Den Balkon zum Blühen bringen.
Nr. 38:
Statt sich mit komplizierten Abseits-Regeln aufzuregen, lieber an den schönen Fußballern erfreuen.
Nr. 42:
Beleidigt sein.
Nr. 46:
Im Sitzen pinkeln.
Nr. 50:
Sparen. Sie geben ein Vermögen für Schuhe aus, aber das ist immer noch billiger als ein Sportwagen.
Nr. 57:
Kalorien zählen.
Nr. 60:
Dem Friseur das Herz ausschütten.
Nr. 62:
Sich die Augenbrauen zupfen.
Nr. 72:
Bei völliger Ahnungslosigkeit souverän wirken.
Nr. 83:
Geld ausgeben, das sie nicht verdient haben.
Nr. 86:
Sich systematisch unterschätzen. Immer noch verdienen Frauen rund 25 Prozent weniger als Männer.
Nr. 93:
Diesen schwachsinnigen Frauentag gelassen ertragen.
Passend dazu präsentiert BILDblog heute die einzige Sache, die “Bild” besser kann als andere Zeitungen:
Nr. 1:
Den eigenen Sexismus entlarven.
Nachtrag, 9. März: BILDblog-Leser Michael L. hat uns darauf hingewiesen, dass es sich beim diesjährigen Weltfrauentag nicht um den 100., sondern um den 101. handelt (der erste von 1911 muss natürlich auch mitgezählt werden). Immerhin befindet sich BILDblog mit diesem – inzwischen korrigierten – Fehler inbesterGesellschaft.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “BILD-Zeitung wirbt mit Holofernes-Absage” (blogs.taz.de/hausblog, Sebastian Heiser)
Im Hausblog erklärt Sebastian Heiser, warum die “taz” eine ganzseitige Anzeige von “Bild” veröffentlicht: “Weil die BILD-Zeitung uns dafür bezahlt. Laut unserer Anzeigenpreisliste kostet eine ganzseitige, vierfarbige Anzeige unter der Woche 12.555 Euro. Das sind schon ein paar Monatsgehälter für einen taz-Mitarbeiter. Daher drucken wir auch Anzeigen von Atomkraftunternehmen wie Vattenfall oder von Ölkonzernen wie BP.” Das Interview mit Judith Holofernes führte Josef Winkler.
2. “Kampagnenjournalismus” (coffeeandtv.de, Lukas Heinser)
Lukas Heinser macht sich Gedanken zur Absage von Judith Holofernes: “Ein Vorwurf, der immer mal wieder aufkam, lautete, mit ihrer Antwort hätten Wir Sind Helden ‘Bild’ nur noch mehr Aufmerksamkeit verschafft. Mit der gleichen Logik könnte man Greenpeace vorwerfen, indirekte PR für BP zu machen. Das alte Mantra ‘Any PR is good PR’ steht im Raum, das ich für ziemlichen Unfug halte. Fragen Sie mal Jörg Kachelmann, welche Auswirkungen die ständige Erwähnung seines Namens in den Medien während der letzten elf Monate auf dessen Karriere und Leben gehabt haben!”
3. “Neu bei Bildblog: Der Spiegel” (blog-cj.de, Christian Jakubetz)
Christian Jakubetz hat die aktuelle “Spiegel”-Titelgeschichte “Bild – Die Brandstifter” auf dem iPad gelesen: “Der gesamte Titel liest sich wie eine Zusammenfassung der besten Bildblog-Geschichten der letzten zwei Jahre, garniert mit ein paar eigenen Einschätzungen und ein paar Hintergrundgesprächen, beispielsweise mit Ottfried Fischer, den man dann mit Sätzen zitiert, die schon etliche Male auch anderswo zu lesen waren.”
4. “Warum liebt die ‘Bild’-Zeitung Guttenberg so sehr?” (dradio.de, Dieter Kassel)
Ex-“Bild-am-Sonntag”-Chefredakteur Michael Spreng glaubt, die “Bild”-Chefredaktion unterstütze Karl-Theodor zu Guttenberg “aus eigener Überzeugung und aus kaufmännisch-wirtschaftlichem Kalkül”. “Schlagzeilen mit Guttenberg verkaufen sich besser als Schlagzeilen über Thomas de Maizière, das liegt auf der Hand.”
5. “Der Liebling der Medien” (taz.de, Petra Hemmelmann)
Petra Hemmelmann wertet Medienberichte über Guttenberg aus: “Einen echten Fanclub scheint der Minister in der Redaktion des ‘Focus’ zu haben. Neun von zehn Bewertungen fielen zugunsten Guttenbergs aus, damit war das Nachrichtenmagazin mit Abstand das Medium mit der deutlichsten Positiv-Haltung.”
6. “Handzeichen-Lexikon” (el-futbol.de, Sidan)
Ein “Lexikon für Fussballer-Handzeichen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit”.
Die “Bild”-Gerichtsreport-Praktikantin Alice Schwarzer hat Jörg Kachelmann Unrecht getan. Oder wie sie es selbst ausdrückt:
Ich habe Jörg Kachelmann unrecht getan. Und das gilt es nun wiedergutzumachen. Am 22. Dezember hatte ich geschrieben: “Der Mann ist wirklich nicht zu beneiden um sein absurd rastloses, verlogenes Leben. Dieses Leben mit mindestens sechs Frauen gleichzeitig, denen er allen die Ehe versprochen hatte.”
Das wollte der Vielbeschäftigte so nicht stehen lassen.
Mit meiner Behauptung würde ich ihn “in der Öffentlichkeit in ein schlechtes Bild rücken”; schlimmer noch, ihm unterstellen, “er sei ein Heiratsschwindler”.
Das ließ er seine Anwälte vortragen.
“Vortragen” durften die Anwälte dies vor der Pressekammer des Kölner Landgerichts, das auch prompt einstweilige Verfügungen gegen Schwarzer, die Axel Springer AG als Verlag der gedruckten “Bild” und die Bild digital GmbH & Co. KG als Betreiber von Bild.de erließ, wo Schwarzers Text ebenfalls veröffentlicht worden war.
Es ist nicht die erste juristische Niederlage, die Kachelmanns Anwälte der “Emma”-Herausgeberin persönlich beigebracht haben (BILDblog berichtete), aber das erste Mal, dass Schwarzer im Zuge ihrer Kachelmann-Berichterstattung eigene Fehler einräumt.
Der Originalartikel auf Bild.de wurde inzwischen – bis auf ein Textfragment – entfernt, aber in einem Interview bei “Focus Online” findet sich noch folgende Passage:
Immerhin hatte das mutmaßliche Opfer gelogen. Die Frau ahnte schon länger, dass Kachelmann ihr nicht treu ist.
Die kleine Lüge hatte nichts mit der Tatnacht zu tun. Von Kachelmann aber war inzwischen öffentlich geworden, dass er sich mindestens sechs Frauen gleichzeitig hielt, denen er allen die Ehe und Kinder versprochen hatte. Das deutet natürlich auf pathologische Züge der Persönlichkeit hin. Und darum ist es auch richtig, dass das Gericht mehrere seiner Ex-Freundinnen vernimmt. Die fragliche Tat muss ja im Kontext der Persönlichkeit des Angeklagten gesehen werden.
So ganz geschlagen geben will sich die Frauenrechtlerin dann auch nicht und zählt heute in “Bild” flugs sechs Frauen auf, mit denen Kachelmann angeblich ein gemeinsames Leben geplant haben soll.
Sie schließt mit den Worten:
Zusammenleben, Kinder bekommen, eine glückliche Beziehung für das ganze Leben führen … Ein Eheversprechen ist das alles nicht. Nur der Glaube an eine gemeinsame Zukunft. Und das ist schließlich etwas anderes. Für Juristen zumindest.
Obwohl es mit Dschungelcamp, Hochwasser und Frau Sarrazin gerade eigentlich genug Themen gibt, macht “Bild” noch ein Fass auf: In der heutigen Ausgabe darf Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle vorschlagen, “Discounter wie ALDI und LIDL” sollten auch Kraftstoff anbieten:
Brüderle zu BILD: “Preise bilden sich am besten immer noch durch Wettbewerb. Wenn das Angebot steigt, sinkt der Preis. Ich freue mich deshalb über jeden zusätzlichen Wettbewerber und kann Unternehmen nur ermutigen, in den Benzinmarkt einzusteigen.” Hintergrund: In Österreich können Autofahrer bei der ALDI-Süd-Tochter Hofer deutlich billiger tanken.
Doch damit nicht genug: Ebenfalls in “Bild” (und sehr viel ausführlicher bei Bild.de) fordert ein weiterer Politiker energische Maßnahmen:
Unterdessen droht der erste Politiker den Multis mit staatlich festgelegten Höchstpreisen beim Benzin!
Der saarländische SPD-Chef Heiko Maas zu BILD.de: “Sollten die Ölkonzerne weiter die Preisspirale willkürlich nach oben drehen, muss die Politik reagieren. Auch in Deutschland muss es dann nach dem Vorbild Luxemburgs möglich sein, staatliche Höchstpreise bei Benzin, Öl und Gas zu verhängen.” Luxemburg habe längst erkannt, dass die Energiepreise die “Brotpreise des 21. Jahrhunderts” seien.
Mit dem “ersten” Politiker hatte “Bild” offenbar Recht — das kennt man ja auch anders. Nur äußert Maas diese Forderung nicht zum ersten Mal:
Der saarländische SPD-Chef Heiko Maas zu BILD: “Sollten die Ölkonzerne weiter die Preisspirale willkürlich nach oben drehen, muss die Politik reagieren. Auch in Deutschland muss es dann nach dem Vorbild Luxemburgs möglich sein, staatliche Höchstpreise bei Benzin, Öl und Gas zu verhängen!”
Den Nachrichtenagenturen dapd und AFP hielten es dennoch für eine Nachricht, weswegen Maas jetzt u.a. bei “RP Online”, “Focus Online” und “Der Westen” fordern darf.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Liebe Journalisten, wir müssen reden” (haltungsturnen.de, Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach)
Das radikale Umdenken, das Miriam Meckel im Artikel “Journalisten an der Crowdsourcing-Front” von den Journalisten fordert, betreffe auch die Anonymisierung, die wegen der umfangreichen Recherchemöglichkeiten im Web schnell mal zur Farce werde, schreibt Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach anlässlich eines Artikels im “Hamburger Abendblatt”.
2. “‘Ich hasse Blogs!’, bloggt der Redakteur” (novo-argumente.com, Matthias Heitmann)
Matthias Heitmann kann nicht recht verstehen, warum sich Journalisten so aggressiv von Werbeschreibern, Lobbyisten und Hobbybloggern abgrenzen. Ein Journalist, der seine Fähigkeiten richtig einsetze, müsse sich “nicht davor fürchten, dass seine Informanten eine eigene Agenda verfolgen könnten”. “Warum unterlegene ‘Konkurrenten’ dafür kritisieren, dass sie unterlegen sind? Und vor allem: Warum sich von ihnen bedroht fühlen? Das wäre ungefähr so, als wenn der FC Bayern München in der zahlenmäßigen Überlegenheit unterklassiger Dorfvereine eine Gefahr für seine Einschaltquote wittern würde.”
3. “Striptease im Dunkeln” (fernsehkritik.tv, Fernsehkritiker)
Eine Casting-Agentur sucht für die RTL-Sendung “Dating im Dunkeln” neue Kandidatinnen und Kandidaten. “Neben der Angabe von Körpermaßen und natürlich der Abgabe eines Fotos” müssen insgesamt 47 Fragen beantwortet werden.
4. “Catalogue of legal pay-outs that shames Express Newspapers” (guardian.co.uk, Roy Greenslade, englisch)
Roy Greenslade listet Geldbeträge auf, zu denen die englischen Zeitungen “Daily Express” and “Daily Star” seit März 2008 (£550.000 an die Familie der verschwundenen Madeleine McCann) aufgrund ihrer Berichterstattung zu bezahlen gezwungen wurden: “Even I was surprised by the number of occasions on which EN has been forced to pay damages and issue apologies. It is, quite simply, scandalous.”
5. “Schubladen langweilen mich, da stecke ich schon ewig drin…” (derteilzeitblogger.wordpress.com)
Den Teilzeitblogger langweilen die Schubladen, in die er von anderen immer wieder gesteckt wird. “Diese Diskussion, wie Schwule sein müssen oder wie sie nicht sein sollten, weil sie dann zu sehr heteronormativ sind, kotzt mich an. Lasst die Leute doch so leben wie sie wollen!”
Es gibt Meldungen, bei denen jeder, der sie liest, bearbeitet oder veröffentlicht, eigentlich stutzen und sagen müsste: Hier stimmt doch was nicht.
Die Meldung, die die Nachrichtenagentur dapd heute um 10:34 Uhr veröffentlichte, ist eine solche:
Ulbig sieht in NPD-Volkszählung Aufruf zum Rechtsbruch
Dresden (dapd). Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) hat ein striktes Vorgehen gegen die von der rechtsextremen NPD geplante Volkszählung angekündigt. (…)
Die NPD plant in Sachsen eine Volkszählung unter dem Titel “Zensus 2011”. Die Partei hat ihre Sympathisanten dafür zu Haushaltsbefragungen aufgerufen. Die Interviewer sollen nach Angaben der NPD die Einwohnerzahlen sowie Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund feststellen, aber auch Eindrücke über politische Einstellungen, mentale Befindlichkeiten und die soziale Situation sammeln. Die Erhebung von Informationen über persönliche Lebensverhältnisse sind nach Auffassung Ulbigs rechtswidrig. In Nordrhein-Westfalen plant die Partei eine ähnliche Aktion.
Die NPD plant eine eigene Volkszählung? Das wäre wirklich eine ganz außergewöhnliche Geschichte.
“Zensus 2011” aber ist nicht der Name einer bizarren rechtsextremen Kampagne, sondern schlicht der staatlichen Volkszählung. Die NPD will keine eigene Konkurrenz dazu etablieren, sondern ermuntert ihre Mitglieder, sich als Interviewer zu bewerben. Auf diese Weise könnten sie “persönliche Gespräche” an der Haustür führen und die Aufwandsentschädigung in die Parteiarbeit investieren. Gegen diese Unterwanderung der Volkszählung will Ulbig vorgehen.
Fast drei Stunden brauchte der dapd, bis er die Falschmeldung zurückzog; wenig später veröffentlichte er eine neue Fassung.
Trotz der Unwahrscheinlichkeit einer eigenen NPD-Volkszählung übernahm “Welt Online” die Meldung (und löschte den Artikel dann unauffällig). “Focus Online” hat zu der dapd-Meldung sogar noch einen eigenen Vorspann gebastelt:
Ulbig (CDU) gegen geplante Volkszählung der NPD
Die rechtsextreme NPD plant eine Volkszählung in Deutschland. Bei der Zählung Informationen über persönliche Lebensverhältnisse aufgenommen werden. Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) sieht die Erhebung als rechtswidrig an und kündigte ein striktes Vorgehen an.
Nachtrag, 17:00 Uhr. “Focus Online” hat sich korrigiert.