Selten verschwimmt die Grenze zwischen den Boulevardmedien und den vermeintlich seriösen Blättern dieses Landes so sehr, wie in den Wochen nach einem großen Unglück.
Nehmen wir allein diese Opfergalerien.
Das Schlimme daran ist ja nicht nur die Selbstverständlichkeit, mit der Journalisten die Facebook-Profile toter Menschen durchwühlen und alles daraus veröffentlichen, was nicht niet- und nagelfest ist. Es ist auch die Feigheit, die sie an den Tag legen, wenn man sie darauf anspricht.
Der “Stern” zum Beispiel hat in der Vergangenheit — etwa nach dem Amoklauf von Winnenden oder einem Flugzeugabsturz im Jahr 2009 — zahlreiche Privatfotos von Opfern gedruckt, aber konsequent jede Aussage darüber verweigert, woher er die Fotos hatte und ob die Angehörigen die Veröffentlichung erlaubt hatten. Auch andere Medien hielten es so. Stefan Niggemeier hat das nach dem Amoklauf von Winnenden in einem erschreckenden Blogeintrag festgehalten. Da klauen die “Bild”-, RTL-, aber auch “Stern”- und “Focus”-Menschen offenbar kurzerhand private Fotos der Opfer von SchülerVZ, veröffentlichen sie ohne Zustimmung der Angehörigen — und sobald man wissen will, wie sie an die Fotos gekommen sind oder wie sie es allgemein mit der Notwendigkeit eines Einverständnisses halten, blocken sie ab.
Leider hat sich seither — der Amoklauf liegt fünf Jahre zurück — kaum etwas geändert. Zwar hat der Presserat kurz darauf die Regeln zum Schutz der Persönlichkeit überarbeitet, damit sie “für Journalisten einfacher anzuwenden sind”, zudem haben immer wieder Angehörigegeäußert, wie schmerzhaft es gewesen sei, die geklauten Fotos in den Medien sehen zu müssen.
Trotzdem sieht es im “Stern” momentan so aus:
(Unkenntlichmachung von uns.)
Eine komplette Doppelseite hat die Illustrierte den Porträts gewidmet. Und auch der “Spiegel” hat eine Opfergalerie gebastelt, hielt es aber offenbar für verkaufsfördernder, sie gleich vorne auf dem Cover abzudrucken und mit einer knalligen Anti-Putin-Schlagzeile zu versehen:
(Unkenntlichmachung von uns.)
Woher stammen die Fotos diesmal? Im “Spiegel” findet sich keinerlei Hinweis darauf, im “Stern” ist für lediglich zwei der 34 Fotos eine Quelle angegeben (“AP”).
Wir haben beide Redaktionen gefragt, woher sie die Fotos bekommen haben, ob eine Zustimmung der Angehörigen vorlag, und wenn nein, warum die Bilder dann trotzdem gedruckt wurden.
Der “Stern” wollte sich — Überraschung — nicht äußern. Warum auch. Geht schließlich nur um so Pipikram wie journalistische Grundsätze, da hat der “Stern” dann doch Besseres zu tun.
Die Chefredaktion des “Spiegel” war immerhin nicht ganz so feige und schrieb uns zur Herkunft der Fotos:
Der SPIEGEL hat sich bei der Auswahl der Fotos aus öffentlich zugänglichen Quellen bedient.
Aha. Soll wohl heißen: Auch der “Spiegel” hat sich durch die Facebook-Profile der Toten geklickt und sich frei bedient.
In einer zweiten Mail schob er dann noch hinterher:
Zahlreiche andere Zeitungen und Zeitschriften im In- und Ausland haben in den letzten Tagen öffentlich zugängliche Quellen benutzt, um Fotos der Opfer zeigen zu können.
Ja — und? Was soll das denn bitte heißen? Dass es okay ist, im Internet auf Beutezug zu gehen, weil die anderen es ja auch machen?
Er schrieb weiter:
Wir halten die Optik für angemessen, denn es handelt sich um Opfer der ruchlosen Machtpolitik des russischen Präsidenten Putin. Dies rechtfertigt nicht nur eine so starke, emotionale Optik, es macht sie geradezu notwendig – und zwar im Interesse der Opfer und ihrer Angehörigen.
Das ist nun wirklich eine Frechheit. Woher will der “Spiegel” denn wissen, was in den Köpfen der Angehörigen vorgeht, wenn er nicht mal mit ihnen gesprochen hat? Was ist, wenn einige oder gar alle Angehörigen einfach nur ihre Ruhe haben wollen? Wenn sie eben nicht wollen, dass ihre toten Familienmitglieder für politische Forderungen instrumentalisiert werden? Was ist, wenn es ihr Leid nur noch vergrößert, wenn die Fotos der Opfer überall auf der Welt zu sehen sind? Ja dann — haben sie Pech gehabt.
Immerhin bekommt das “Spiegel”-Cover geradeordentlichGegenwind. Auch der Presserat ist schon eingeschaltet; sieben Beschwerden seien zu dem Titelblatt eingegangen, sagte uns Presserats-Geschäftsführer Lutz Tillmanns. Er halte solche Opfergalerien aus pressethischer Sicht ohnehin für “bedenklich”. Im Fall des MH17-Absturzes komme aber hinzu, “dass diese Galerie eingebaut ist in die Putin-kritische Berichterstattung, das heißt das unmittelbare Unfallereignis ist gar nicht vorrangiger Anlass für den Beitrag.”
Er verweist auf eine Entscheidung des Presserats, die kurz nach den Anschlägen von Utøya veröffentlicht wurde und seines Erachtens auch heute noch gültig sei. Darin heißt es:
Viele Medien hatten die Fotos [der Opfer] veröffentlicht, weil die Redaktionen den Opfern “ein Gesicht geben” wollten, um den Lesern das Ausmaß dieses schrecklichen Verbrechens begreifbarer zu machen. Diese Intention stößt sich allerdings mit dem Persönlichkeitsrecht der Opfer.
Nur weil Menschen zufällig Opfer eines schrecklichen Verbrechens werden, rechtfertigt dies nicht automatisch eine identifizierende Berichterstattung über ihre Person. Bei der Abwägung gelangte das Gremium zu dem Ergebnis, dass das Persönlichkeitsrecht der Opfer im konkreten Fall ein mögliches Informationsinteresse der Leser überlagert. Die durch die Fotos entstehende Emotionalisierung ist lediglich eine erweiterte Information, die vom ethischen Standpunkt her zum sachlichen Verständnis des Amoklaufs so nicht erforderlich war.
Ob der Presserat das auch im Fall der MH17-Opfer so sieht, wird sich erst in ein paar Wochen zeigen, wenn er über die eingegangenen Beschwerden beraten hat.
Änderungen an der Praxis der Medien wird das vermutlich in keinem Fall zur Folge haben.
George Clooney sagt, er sei es gewohnt, dass die britische Zeitung “Daily Mail” Geschichten über ihn erfindet und Lügen über ihn verbreitet. Aber diese eine wollte er nicht hinnehmen, ohne laut zu widersprechen. Die “Daily Mail” hatte geschrieben, dass die Mutter seiner Verlobten Amal Alamuddin aus religiösen Gründen gegen ihre Heirat sei. Sie habe das schon “halb Beirut” erzählt. Weil es keine Drusen-Hochzeit sei, riskiere Amal, dass sie aus der Gemeinschaft ausgestoßen werde, so die “Daily Mail” — mehrere Bräute seien aus ähnlichen Gründen schon umgebracht worden.
Nichts davon sei wahr, sagt George Clooney. Amals Mutter sei keine Druse, ewig nicht in Beirut gewesen, nicht gegen die Hochzeit. Vor allem aber sei es verantwortungslos und gefährlich, in dieser Weise religiöse Differenzen auszubeuten, wo nicht einmal welche bestehen.
Die Meldung, dass Clooney sich so über die “Daily Mail” beschwert, die ihre Geschichte inzwischen zurückgenommen hat, stand in vielen deutschen Medien. Was aber auch in vielen deutschen Medien stand und teilweise noch steht: Die Lügengeschichte der “Daily Mail”.
Der Kölner “Express” brachte sie am vergangenen Mittwoch:
Die “Bunte” verbreitete sie online (inzwischen gelöscht), mit einer Fragezeichen in der Überschrift, aber ohne ernste Zweifel am Inhalt der von der “Daily Mail” abgeschriebenen Geschichte:
So verriet ein Nahestehender der Familie der Familie Alamuddin dem britischen Blatt: “Man würde denken, dass Amal mit George Clooney den Jackpot geknackt hat, aber Baria ist nicht glücklich. Sie denkt, dass sie es besser hätte treffen können.” Weiter habe Amals Mutter in Beirut herumerzählt, dass es schließlich 500.000 Drusen gäbe – warum nur könne ihre Tochter darunter niemanden finden, der gut genug für sie ist?
Die “Abendzeitung” erzählt die Lügengeschichte immer noch:
Hören wir nicht richtig? Eigentlich dachten wir, es gäbe kein Mittel, mit dem FRAU dem Charme von Hollywood-Schauspieler George Clooney widerstehen könnte. Doch auch ein Clooney muss hin und wieder die seltene Erfahrung machen, dass er nicht jede um den Finger wickeln kann.
Mehrere deutsche Medien haben die Falschmeldung von der Boulevardagentur “Spot On News” übernommen (Eigendarstellung: “Die Artikel von spot on news beschränken sich nicht auf das Ab- und Umschreiben von Internet-Content. (…) Exklusivität steht bei spot on news ganz weit oben”). Die hat nach den Unwahrheiten der “Daily Mail” nun auch ungerührt die empörte Antwort von Clooney verbreitet — so gesehen profitiert sie doppelt von den Falschmeldungen der Auslandspresse, die sie abschreibt.
Der amerikanische Schauspieler hat über die “Daily Mail” noch gesagt, sie habe — mehr als jede andere “Nachrichten”-Organisation — ein ums andere Mal beweisen, “dass Tatsachen für sie keine Bedeutung haben bei den Artikeln, die sie sich ausdenkt.” Das wird die deutschen Medien auch bei den nächsten “Daily Mail”-Geschichten nicht davon abhalten, sie blind zu übernehmen.
In den sozialen Netzwerken und in einigen Medien stößt man seit einiger Zeit auf Karten wie diese hier:
Angeblich zeigt sie die Expansionspläne der Terrorgruppe Isis; ihren Fünf-Jahres-Plan auf dem Weg zur Weltherrschaft.
Bei “Focus Online” finden sich gleichzwei solcher Karten. Und Blick.ch schreibt:
Die Gotteskrieger von Isis haben den Grössenwahn. Auf einer in sozialen Medien veröffentlichten Roadmap verraten sie, wie sie die Welt gestalten wollen: Der Nahe Osten, Nordafrika, Teile Asiens, der Balkan, Osteuropa, Spanien und Portugal sollen bis 2020 zum ausgerufenen Kalifat gehören. Wie die Karte zeigt, wollen die Islamisten über Österreich sogar bis zur Schweizer Grenze vordringen!
Auch Bild.de alarmierte seine Leser sogleich über die “Machtphantasien von Isis”:
Vor allem den Betreibern und Nutzern von rechten Blogs und Hetzportalen dienen die Karten seither als effektiver Stimmungsanheizer gegen den Islam insgesamt.
Dabei gibt es enorme Zweifel daran, ob die Karten überhaupt echt sind.
Zunächst: Bild.de gibt als Quelle “Twitter (ThirdPosition)” an — verschweigt allerdings, dass es sich dabei um eine nationalistische und rassistische Bewegung aus den USA handelt, deren erklärtes Ziel die Vorherrschaft der Weißen ist.
Davon ab kursieren im Netz verschiedene Varianten der Karte, und das schon seitWochen. Und schon zwei Tage vor dem Bild.de-Artikel hatte der Nahost-Experte Aaron Zelin erklärt, dass es sich bei der (von “abc News” und der “Daily Mail” verbreiteten) Karte um einen Fake handele. Er sagte:
Das ist ein altes Bild, das von Fans der [Isis-]Gruppe veröffentlicht wurde. Es ist weder offiziell, noch gibt es einen Fünf-Jahres-Plan.
Auch Yassin Musharbash von der “Zeit” twitterte heute:
(1/2) Regarding those maps floating about, that allegedly show #IS's ambition and/ a5 year plan: I know of no official map to that kind…
Es gibt Hunderte solcher Fakes. Das Problem ist, wenn sie für wahr gehalten werden. So kursieren mehrere Landkarten des Nahen Ostens unter Isis-Anhängern, in denen das von Isis beanspruchte Gebiet schwarz eingefärbt und mit ihrer Flagge markiert ist – das zukünftige Kalifat. Solche Karten gibt es seit Jahren, von Al-Kaida-Anhängern fabriziert, von Sympathisanten von Isis’ Vorläufergruppen – es ist ein alter Propaganda-Hut. Weiterverbreitet wurde aber letzte Woche eine Version dieser Karte mit dem Hinweis, es handle sich um den Fünf-Jahres-Plan von Isis. Huch! Und schon wird aus einer schnell hinretouchierten Karte plötzlich ein vermeintliches Dokument.
Als hätten wir nicht schon genug Schwierigkeiten, bei den wirklich von Isis stammenden Informationen herauszufinden, welche bedeutsam sind, welche die Wahrheit abbilden oder nur einen absichtsvoll gewählten Teil der Wahrheit, und welche gelogen sind.
Manchmal scheint es allerdings so, als wollten einige Journalisten das gar nicht herausfinden.
1. “Haut ab mit eurem Wow-Effekt!” (zeit.de, David Hugendick)
Ein ZDF-Interview mit Per Mertesacker (youtube.com, Video, 2:35 Minuten) im Anschluss an das Fußball-WM-Spiel Deutschland gegen Algerien: “Im Fernsehen, wo notorisch ‘magische Momente’ eingefordert werden, hat Negativität keinen Platz mehr. Man will lieber Wirklichkeit mit dem Emotionswert der Soap-Opera. Man will ‘echte Tränen’, ‘echte Freude’ und alles, was sonst noch unter dem Modewort ‘Authentizität’ firmiert, die nur gut ist, solange sie sich anpasst und irritationsfrei konsumierbar ist.”
2. “Herzlichen Glückwunsch, Boris Büchler!” (faz.net, Frank Lübberding)
Frank Lübberding gratuliert ZDF-Reporter Boris Büchler zu diesem Interview und regt an, sich mit dem Bundestrainer zu beschäftigen: “Stattdessen sieht man etwa im Fernsehen jene Szenen namens ‘Löw am Strand’ im WM-Quartier der Nationalmannschaft. Ein nachdenklicher Trainer auf dem Wege zu Ruhm, so ist diese Form des öffentlich-rechtlichen Propaganda-Fernsehens zu nennen. Offenkundig muss jeder Journalist für ein kritisches Wort befürchten, am Hofe des DFB in Ungnade zu fallen.” Siehe dazu auch “In Interviewgewittern” (begleitschreiben.net, Gregor Keuschnig).
3. “LSR: Wiederholt sich die Geschichte?” (vocer.org, Heidi Tworek und Christopher Buschow)
Heidi Tworek und Christopher Buschow erinnern an das Gesetzgebungsverfahren in den 1920er-Jahren, als mit der zunehmenden Verbreitung des Radios “die Forderung nach einem rechtlich geregelten Nachrichtenschutz” aufkam.
4. “Schlechte Schlagzeilen (1): ‘Warum in Deutschland stärkere Erdbeben drohen'” (scienceblogs.de/astrodicticum-simplex, Florian Freistetter)
Die Schlagzeile “Warum in Deutschland stärkere Erdbeben drohen” auf Focus.de: “Die Gefahr durch geologische Aktivität ist heute nicht größer als sie es in der Vergangenheit war. Es ist nichts passiert, dass eine neue ‘Bedrohung’ durch Erdbeben verursacht hat. Wir wissen nun nur besser über die Statistik Bescheid als vorher.”
5. “Warum werden eigentlich ausgerechnet Zeitungszusteller vom Mindestlohn ausgenommen?” (nachdenkseiten.de, Jens Berger)
Der angeblich flächendeckende Mindestlohn von 8,50 Euro soll erst ab 2017 auch für Zeitungszusteller gelten. “Geht es nicht noch ein bisschen grotesker und dreister?”, fragt Jens Berger zur Behauptung, die Pressefreiheit sei dadurch in Gefahr: “Nach dieser Logik sind auch Hungerlöhne für Krankenpfleger gerechtfertigt, da ansonsten ja Krankenhäuser geschlossen werden müssten und die öffentliche Gesundheitsvorsorge in Gefahr wäre. Nach dieser Logik ließen sich in so ziemlich in jeder Branche Hungerlöhne rechtfertigen.”
Inzwischen ist es ja normal, dass deutsche Journalisten total am Rad drehen, sobaldirgendeinFußballer (oder Trainer) irgendwas mit seinen Haaren anstellt. Diesmal ist es aber besonders extrem. Nicht nur, weil es um Superstar Cristiano Ronaldo geht, der beim letzten WM-Spiel mit einem ins Haupthaar einrasierten Zickzack-Muster auflief, sondern weil sich hinter dieser Frisur eine “ergreifende” bzw. “rührende” bzw. “traurige” bzw. “dramatische” Geschichte verbirgt.
Im März wurde nämlich bekannt, dass Ronaldo eine Familie finanziell unterstützen will, deren kleiner Sohn Erik an einer Hirnerkrankung leidet und eine teure Operation benötigt.
Was das mit der Frisur zu tun hat? Nun, der “Blitz” sei in Wirklichkeit kein Blitz, schreiben die Medien, sondern er zeichne die OP-Narbe des kleinen Jungen nach, der Ende letzter Woche operiert worden sei. Ein Zeichen der Verbundenheit also. Hach!
Sieht zwar recht seriös aus, ist aber, wie sich nach anderthalbsekündiger Recherche zeigt, ein Fake-Account (“Not affifilated with the FIFA World Cup”). Und der wiederum hat die Story offenbar von diesem hier:
Ronaldo cut his hair to match the scar of a young fan who had surgery to remove a brain tumor last week #respectpic.twitter.com/zGqAFS7DN7
Davon abgesehen leidet der kleine Junge nicht, wie in den Tweets (und in ihren zahlreichen Varianten) behauptet wird, an einem Tumor, sondern an kortikaler Dysplasie. Einen Beleg dafür, dass Ronaldos Frisur irgendwas mit der OP-Geschichte zu tun hat, liefern die Tweets ohnehin nicht. Spätestens hier hätten die Journalisten — so sie denn recherchiert hätten — also stutzig werden müssen. Und allerspätestens am Montagabend. Da schrieb die Mutter des kleinen Jungen auf ihrer Facebookseite nämlich:
Ich habe gesehen, dass in den sozialen Netzwerken das Gerücht verbreitet wird, Cristiano Ronaldo hätte sich einen Haarschnitt zu Ehren von Eriks Operation machen lassen, aber ich möchte klarstellen, dass das nicht der Fall ist. Mein Sohn wurde noch gar nicht operiert. Cristiano Ronaldo hat zugesagt, einen Teil der Kosten für die Operation zu übernehmen, wenn mein Sohn sich dieser unterziehen muss, aber dieser Tag ist zum Glück noch nicht gekommen.
(Übersetzung von uns.)
Inzwischen sind auch einige Medien wieder halbwegs zurückgerudert. “Bild” und “Sportbild” beispielsweise haben ihre Artikel um den Hinweis ergänzt, dass es keine offizielle Bestätigung für die Frisurengeschichte gebe. Das “Handelsblatt” hat den Online-Artikel kurzerhand gelöscht. Und Stern.de hat zwar die Sache mit der Operation korrigiert (“Hinweis: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, dass Erik Ortiz Cruz bereits operiert worden sei. Das ist nicht der Fall”), findet aber immer noch, dass die Frisur einen tieferen Sinn habe:
Ronaldo wollte nicht symbolisieren, dass er (blitz-)schnell ist. Die einrasierte Stelle steht für eine Narbe am Kopf. Und damit für eine bewegende Botschaft: Der einjährige Erik Ortiz Cruz leidet an einer schweren Hirnerkrankung, er muss operiert werden, auch sein Kopf wird einmal über eine solche Narbe verfügen.
Offenbar findet Stern.de die Geschichte dann doch zu schön, um sie ganz aufzugeben.
Der Spanier Manuel Cáceres, besser bekannt als Manolo “el del Bombo”, ist einer der bekanntesten Fußballfans der Welt. Markenzeichen: Bierbauch, Baskenmütze und natürlich “el bombo”, seine berühmte Trommel. Seit Jahrzehnten ist er bei fast jedem Spiel der spanischen Nationalelf dabei, reist mit dem Team durch die ganze Welt, trommelt, feiert und feuert an.
Doch wenn es nach einer spanischen Internetseite geht, hat Manolo noch ganz andere Qualitäten.
Stolze 100 Kilogramm Kokain soll er bei der Einreise in die USA in seiner Trommel versteckt haben, schrieb das Portal “Pormisbalones.com” am Wochenende. Und nicht nur das: FBI und CIA seien dem Fan bereits seit 30 Jahren auf der Spur, denn Manolo führe ein Doppelleben und habe jede Weltmeisterschaft genutzt, um Drogen zu schmuggeln. In Wirklichkeit sei der eigentlich so sympathische Trommler “einer der größten und gefährlichsten Drogenhändler” der Welt. Und jetzt sei endlich die Festnahme geglückt, schrieb das Portal. Manolo drohten 25 Jahre Haft.
Die deutsche Sport-Nachrichtenagentur SID brachte die Meldung Anfang der Woche auch nach Deutschland:
Der spanische Fußball-Verband RFEF hat nach Drogen-Vorwürfen gegen “Oberfan” Manolo eine Klage gegen ein Internetportal angekündigt. Die spanische Webseite (pormisbalones.com) hatte berichtet, dass Manolo in seiner berühmten Trommel 100 kg Kokain in die USA geschmuggelt haben soll. RFEF-Generalsekretär Jorge Pérez kündigte daraufhin rechtliche Schritt an.
“Dieser Herr transportiert seit 28 Jahren Drogen durch die ganze Welt. Wir haben gewartet, dass er in unser Land einreist”, wurde in dem Bericht unter anderem ein FBI-Agent zitiert.
Warum der Verband gegen die Seite klagen will, wird nicht gesagt. Und was das überhaupt für eine Seite ist — und vor allem: ob an den Vorwürfen gegen Manolo irgendwas dran ist –, erfährt man auch nicht.
Dabei hätte schon ein kurzer Blick auf die Originalquelle Antworten geliefert. Auf “Pormisbalones” (was im Übrigen etwa so viel heißt wie “Für meine Bälle”) steht nämlich ganz unten:
Todos los contenidos de esta web son ficticios.
… und dafür hätte man nicht mal tiefergehende Spanischkenntnisse gebraucht. Nur eine halbe Minute Zeit und die Fähigkeit, ein Wörterbuch zu bedienen. Der Satz bedeutet: Alle Inhalte dieser Seite sind fiktiv. “Pormisbalones” ist ein Satire-Portal.
Anders gesagt:
Nein.
Mit Dank an j. und Sarah T.
Nachtrag, 6. Juni: handelsblatt.com, mopo.de, welt.de und berliner-kurier.de haben ihre Artikel gelöscht.
Die Beschwerdeausschüsse des Presserats haben in ihren jüngsten Sitzungen sechs Rügen, 20 Missbilligungen und 16 Hinweise ausgesprochen. Die Hälfte der Rügen ging an die “Bild”-Gruppe.
Etwa hierfür:
(Unkenntlichmachungen von uns.)
So hatten die Kölner “Bild”-Ausgabe und Bild.de Anfang des Jahres über ein Verbrechen in einem Dorf in Nordrhein-Westfalen berichtet. Die Redaktionen nannten den Vornamen, den abgekürzten Nachnamen sowie persönliche Details des Patensohns und zeigten ein Foto von ihm, das lediglich mit einem kleinen Alibi-Balken versehen war. Kurz darauf erwies sich der Mann jedoch als unschuldig (BILDblog berichtete).
Nach Ansicht des Presserats ist die Berichterstattung vorverurteilend und identifizierend und verstößt damit gegen Ziffer 13 (Unschuldsvermutung) des Pressekodex. “In Anbetracht des Ermittlungsstandes hätte über ihn nicht identifizierend berichtet werden dürfen”, befand der Ausschuss und sprach gegen “Bild” und Bild.de eine Rüge aus. Bei Bild.de ist der Artikel übrigens immer noch unverändert online.
Eine weitere Rüge erhielt Bild.de für die Berichterstattung über den Mord an einem zwölfjährigen Mädchen. Das Portal hatte den Artikel mit einem Foto des Kindes bebildert, obwohl Opfer von Verbrechen — insbesondere Minderjährige — laut Pressekodex besonderen Schutz genießen (Richtlinien 8.2 und 8.3). Die Redaktion argumentierte später, die Familie habe in der Lokalzeitung selbst eine Todesanzeige mit Foto veröffentlicht. Dieses Argument ließ der Presserat jedoch nicht gelten:
Aus einer Todesanzeige in einem anderen Medium, die sich an einen kleineren Personenkreis richtet, lässt sich nicht auf eine grundsätzliche Einwilligung zu einer identifizierenden Abbildung schließen. Zudem war in der Todesanzeige nicht die Rede von einem Gewaltverbrechen. Diesen Zusammenhang stellte erst BILD Online in der Berichterstattung her. Besonders schwer wog aus Sicht des Gremiums zudem, dass das Mädchen unmittelbar neben seinem Mörder abgebildet wurde. Dies verletzt die Gefühle der Angehörigen.
Die Nürnberger “Bild”-Redaktion wurde gerügt, weil sie über ein laufendes Strafverfahren wegen eines Drogendelikts berichtet und dabei viele Details zu dem Betroffenen genannt hatte. Der Presserat erkannte darin einen schweren Verstoß gegen Ziffer 8 (Schutz der Persönlichkeit). Ein überwiegendes öffentliches Informationsinteresse an der identifizierenden Berichterstattung habe nicht bestanden. Dass sich die Redaktion auf die Beschwerde hin zwar bei dem Betroffenen, nicht aber bei den Lesern entschuldigt hatte, sei keine “ausreichende Wiedergutmachung im Sinne des Pressekodex”.
Doppelt gerügt wurde die Berichterstattung von Welt.de über den Suizid einer Nachwuchssportlerin. Die Redaktion hatte in zwei Artikeln (darum auch zwei Rügen) ausführlich über persönliche Details der jungen Frau geschrieben — etwa über ihre psychischen Probleme und die Beziehung zu ihrem Freund — und damit “tiefgreifend” in ihre Privatsphäre eingegriffen, wie der Presserat befand. “Zudem spekulierte die Redaktion über die Beziehung zwischen Eltern und Tochter und stellte hierdurch indirekt Schuldzuweisungen für den Suizid in den Raum.” Die Berichterstattung verstoße gegen Ziffer 8 (Schutz der Persönlichkeit) und insbesondere Richtlinie 8.7 (Selbsttötung), nach der die Berichterstattung über Suizide Zurückhaltung gebietet — vor allem mit Blick auf mögliche Nachahmer.
Übrigens hatten auch andere Medien detailliert über den Suizid berichtet und über die Hintergründe spekuliert. Beim Presserat gingen aber nur Beschwerden über Welt.de ein.
“Focus Online” schließlich wurde mit einer Rüge belegt, weil das Portal “unangemessen sensationell” über einen Überfall in Ecuador berichtet hatte. Auf einem Video war unter anderem ein blutüberströmtes Opfer zu sehen, das aus einem Bus stürzte. Aus Sicht des Presserats verstößt die Darstellung der sterbenden Menschen gegen Ziffer 11 (Sensationsberichterstattung) des Pressekodex. “Focus Online” argumentierte zwar, das Video sei zu Fahndungszwecken der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden, doch das ließ der Beschwerdeausschuss nicht gelten. Die Täter seien zum Zeitpunkt der Berichterstattung bereits gefasst, der Fahndungszweck also nicht mehr gegeben gewesen.
Die “Maßnahmen” des Presserates:
Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:
einen Hinweis
eine Missbilligung
eine Rüge.
Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.
Von den 20 Artikeln, die missbilligt wurden, erschienen sieben in “Bild” bzw. bei Bild.de.
Ein Brief von Franz Josef Wagner wurde missbilligt, weil er darin den Ex-Präsidenten der Ukraine als “egoistisches, luxuriöses Schwein” bezeichnet hatte. Diese Herabwertung verstoße gegen Ziffer 1 (Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde), entschied der Beschwerdeausschuss.
Missbilligt wurden außerdem das Foto von einer privaten Trauerfeier, das Foto eines flüchtenden Ladendiebes und der Screenshot eines Facebook-Profils, auf dem persönliche Details zu Täter und Opfer einer Straftat zu erkennen waren (alles bei Bild.de erschienen; jeweils Verstöße gegen Ziffer 8).
Außerdem zeigte Bild.de ein Foto, auf dem ein Feuerwehrmann ein lebloses Kind in den Armen hält. Zwar war der Körper des Jungen einigermaßen verpixelt worden, dennoch wertete der Presserat die Darstellung als unangemessen sensationell (Ziffer 11), vor allem auch, weil die Bildunterschrift suggerierte, dass es sich um ein totes bzw. sterbendes Kind handele.
Gleich zwei Missbilligungen gab es für die Berichterstattung über einen mutmaßlichen Piraten aus Somalia, der von Bild.de vorverurteilt (Ziffer 13) und von der gedruckten “Bild” ohne Unkenntlichmachung gezeigt wurde (Ziffer 8).
Weitere Missbilligungen gingen an “Bunte” und Bunte.de (für die Weight-Watchers-PR-Geschichte mit Julia Klöckner), “Playboy”, “Fränkischer Tag Online”, taz.de, “Buxtehuder/Stader Tageblatt”, Derwesten.de, “Hundeleben”, “Express”, Ruhrbarone.de und Tagesspiegel.de.
1. “Heftig.co & Urheberrecht – Ein erfolgreiches, aber riskantes Geschäftsmodell” (rechtzweinull.de, Carsten Ulbricht)
Ein Blick auf das Geschäftsmodell von Viralplattformen aus urheberrechtlicher Sicht: “Die schlichte Übernahme fremder (übersetzter) Texte, Bilder und Videos stellt sich ohne entsprechende Zustimmung des Rechteinhabers nach deutschem Recht in aller Regel als Urheberrechtsverletzung dar. Der Rechteinhaber kann im Wege der Abmahnung oder Klage Unterlassungs-, Kostenerstattungs- und Schadenersatzansprüche gegen die Betreiberfirma (bzw. in vielen Fällen auch gegen die Geschäftsführer persönlich) geltend machen.”
2. “Die Klickdiebe” (journalist.de, Jakob Schulz)
Auch Jakob Schulz widmet sich dem Erfolg von Boulevardportalen, die auf virale Inhalte setzen: “Die Macher setzen auf die Gelangweilten dieser Welt, die sich über leicht zu konsumierende Inhalte freuen.”
2. “Zufälliges Bikinifoto neben Prominenten” (medien-internet-und-recht.de)
Das Oberlandesgericht Karlsruhe bestätigt den Unterlassungsanspruch, nicht aber den Geldentschädigungsanspruch einer Frau, die sich im Hintergrund eines in “Bild” abgedruckten Fotos im Bikini wiederfindet.
3. “Tote Fische reden nicht” (nzz.ch, Tom Felber)
“In dubio pro reo” spricht das Obergericht Zürich einen 26-Jährigen “vom Vorwurf der Gehilfenschaft zu mehrfacher Drohung gegen ‘Blick’-Journalisten” frei.
4. “Der liquide Newsroom als Zentrale” (t3n.de, Luca Caracciolo)
Ein Interview mit Jochen Wegner, Chefredakteur von Zeit.de: “Hochwertiger Journalismus funktioniert für uns als Geschäftsmodell ausgesprochen gut – auch im Digitalen. Vor zehn Jahren haben viele Experten erklärt, dass Branding-Werbung ohnehin eine Lüge sei und im Internet nie Erfolg haben werde. Das Gegenteil ist heute der Fall. Manche Luxusmarken etwa fangen jetzt erst an, nach hochwertigen Umfeldern im Netz zu suchen. Und wir wachsen mit diesem Trend.”
5. “Wollen wir Journalismus nur bezahlen, wenn wir ihn hinter Gitter bringen?” (stefan-niggemeier.de)
Muss Journalismus zwingend hinter eine Schranke, damit die Leser dafür zu bezahlen bereit sind? Stefan Niggemeier schreibt: “Wir kaufen für unsere Ecke im Büro einen Ventilator, lassen aber, wenn es heiß ist, niemand anderes dort sitzen, die hätten sich ja selber einen Ventilator kaufen können? Und wenn sich nicht vermeiden lässt, dass auch andere etwas von der Kühlung abbekommen, verzichten wir lieber ganz auf den Ventilator?”
Alfred Draxler, der ehemalige Vize-ChefredakteurundOber-Sportchef der “Bild”-Zeitung, hat am Sonntag bei “Günther Jauch” mal erzählt, wie Journalismus funktioniert. Also nicht dieser Schweinepressejournalismus, sondern der richtige. Der verantwortungsvolle, penible, juristisch, moralisch und ethisch einwandfreie Journalismus. Der Journalismus also, den “Bild” pflegt — laut Alfred Draxler.
Leider hat er bei seinen Ausführungen die Beispiele ganz vergessen. Aber kein Problem, liefern wir sie eben jetzt nach. Beginnen wir mit …
Alfred Draxlers Einführung in die Medienethik, Teil 1
Das Interesse der Menschen [am Fall Schumacher] ist riesengroß. Als Journalist hat man dann halt die Aufgabe, zu filtern und zu entscheiden: Was kann man machen, was kann man nicht machen.
Ein Beispiel. Gerade in der ersten Zeit nach dem Unfall wurden die Angehörigen von Michael Schumacher jedes Mal von etlichen lauernden Fotografen umzingelt, sobald sie die Klinik betraten oder verließen. Schumachers Managerin Sabine Kehm berichtete bei “Günther Jauch”, dass die Familie sogar Sicherheitskräfte engagierte und alternative Zugangswege auskundschaftete, um sich nicht immer wieder durch den Pulk von Kameraleuten und Fotografen quälen zu müssen – ohne Erfolg.
Die Redaktionen bekamen täglich Dutzende solcher Fotos geliefert und mussten entscheiden: Kann man oder kann man nicht machen?
“Bild” meinte: Kann man.
Die Kliniktür-Klickstrecken endeten erst, nachdem ein Absperrgitter zum Schutz der Angehörigen aufgebaut worden war. Heißt: Zum “verantwortungsvollen” Journalismus der “Bild”-Zeitung gehört auch die Veröffentlichung solcher Fotos. Solange sie nicht massivst daran gehindert wird.
Alfred Draxlers Einführung in die Medienethik, Teil 2
[Im Fall Schumacher] strömen auf die Redaktionen unglaublich viele Informationen ein – angebliche Informationen. Sei es der Kollege Alesi von Schumacher, seien es Ärzte, die eine Ferndiagnose machen. Und es ist unsere Aufgabe, damit verantwortungsvoll umzugehen, und ich glaube, das gelingt uns.
Sabine Kehm hatte zuvor erzählt, dass es jedes Mal eine Belastung für die Familie sei, wenn Äußerungen wie die von Alesi oder Ferndiagnosen unbeteiligter Ärzte von den Medien verbreitet würden.
Und so “verantwortungsvoll” ist “Bild” mit den Äußerungen von Alesi umgegangen:
Und so “verantwortungsvoll” ist “Bild” mit den Ferndiagnosen von Ärzten umgegangen:
Alfred Draxlers Einführung in die Medienethik, Teil 3
Ich kann da nur für “Bild” und “Sport Bild” und andere Springer-Medien sprechen: Wir prüfen das wirklich – sowohl juristisch als auch moralisch als auch ethisch –, ob wir das überhaupt bringen können. Also: Wir nehmen nicht jede Information und stellen sie ungeprüft in die Öffentlichkeit, sondern das wird schon sehr, sehr, sehr verantwortungsvoll geprüft.
Und erst wenn “Bild” eine Information sowohl juristisch als auch moralisch als auch ethisch als auch sehr, sehr, sehr verantwortungsvoll geprüft hat, wird sie zu einer solchen Titelgeschichte verarbeitet:
JETZT MÜSSEN SICH DIE FANS NEUE SORGEN MACHEN: Bei Schumi wurde nach BILD-Informationen in der vergangenen Woche eine Lungenentzündung diagnostiziert! Die Folgen sind noch nicht absehbar.
Die Meldung wurde sofort vonanderenMedienaufgegriffen — und auch wenn einige der Abschreiber durchaus Zweifel hegten und Schumachers Managerin Sabine Kehm die Meldung nicht hatte kommentieren wollen: die “Neue Sorge um Schumi” war in der Welt.
Die Reporter bezogen erneut Stellung vorm Krankenhaus, die internationale Presse bombardierte Kehm erneut mit Anfragen, die “Experten” ferndiagnostizierten erneut drauf los, die Fans machten sich erneut Sorgen, die Freunde und Angehörigen wurden erneut aufgeschreckt.
Dabei stimmten die “BILD-Informationen” gar nicht. Zwei Tage später schrieb das Blatt im vorletzten Absatz eines weiteren Schumi-Artikels:
BILD hatte berichtet, dass in der vergangenen Woche eine Lungenentzündung diagnostiziert worden war. Die Erkrankung liegt aber schon weiter zurück und stellte in dieser Woche nach neuesten Erkenntnissen keine akute Gefahr mehr da.
So viel zum Punkt juristisch als auch moralisch als auch ethisch als auch sehr, sehr, sehr verantwortungsvoll geprüfte Informationen.
Die ganze unnötige Panik wäre nicht ausgelöst worden, wenn “Bild” sich an den Wunsch von Schumachers Managerin gehalten hätte, die immer und immer wieder ausdrücklich und nachdrücklich darum gebeten hat,
das Arztgeheimnis zu respektieren und sich ausschließlich an die Informationen des zuständigen Ärzte-Teams oder Managements zu halten, die die einzigen gültigen Informationen sind.
Aber “Bild” ignorierte diese Bitte.
Die Medien wollen so viele Details wie möglich. Schumachers Familie will aber so wenige wie möglich rausgeben. Die Lücke wird geschlossen mit Spekulationen, Ferndiagnosen, Übertreibungen und Wiederholungen. Oder mit Berichten darüber, dass es nichts zu berichten gibt.
Und damit zu …
Alfred Draxlers Einführung in die Medienethik, Teil 4
Jauch: “Was machen Sie denn, wenn Sie so ein riesiges Interesse feststellen und müssen sagen: ‘Es gibt nichts Neues, wir haben nichts’?”
Draxler: “Dann machen wir’s auch nicht.”
Nun ja …
Bild.de, 4. Januar:
Zu seinem aktuellen Zustand gibt es keine Neuigkeiten.
Bild.de, 16. März:
Weiterhin keine Neuigkeiten bei Schumi!
Bild.de, 10. April:
Unterdessen gibt es zu Schumis gesundheitlichen Zustand keine Neuigkeiten.
Bild.de, 2. Januar:
Aber es gibt ja auch noch genug anderen Quatsch, mit dem “Bild” die Seiten füllen kann:
So hat “Bild” seit dem Unfall bereits über 40 Artikel veröffentlicht. Viele davon bestehen aus nicht viel mehr als Gerüchten, Fragen, Wiedergekäutem und Geschwafel.
Am 4. April schien es dann aber, als hätte Bild.de tatsächlich etwas Neues zu berichten. Auf der Startseite jubelte das Portal riesengroß:
Grund für die “neue Hoffnung” war eine Aussage von Schumachers Managerin Kehm gegenüber “Bild”:
Managerin Sabine Kehm gegenüber BILD: “Ich kann nur noch einmal sagen: Es gibt Anzeichen, die uns Mut machen.”
Dieser Artikel war ziemlich genau drei Wochen zuvor bei Bild.de erschienen. Er bezog sich auf eine Pressemitteilung von Sabine Kehm, in der es hieß:
Es gibt immer wieder kleine Anzeichen, die uns Mut machen.
Genau das, was sie per Pressemitteilung allen gesagt hatte, hat sie drei Wochen später der “Bild”-Zeitung also noch einmal gesagt. Und die bastelt daraus eine große Neuigkeit.
Andere Medien (und zwar viele, viele, viele, viele, viele, viele, viele, vieleandereMedien) rannten erwartungsgemäß blind hinterher und verkündeten, Schumacher gehe es “besser”, obwohl einige von ihnen sogar selbst feststellten, dass Kehm genau das Gleiche schon in ihrem letzten Statement gesagt hatte.
“Bild” hatte den alten Stand kurzerhand als neuen verkauft (und alle anderen nahmen es ihr ab). Wenn Alfred Draxler also sagt: “Machen wir nicht”, meint er “nicht” im Sinne von: “doch”.
Alfred Draxlers Einführung in die Medienethik, Teil 5
Da ist kein Journalismus, das ist Schweinepresse!
Die womöglich zutreffendste Aussage Draxlers in der gesamten Sendung. Er meinte die billigen, bunten Klatschblätter. Mit denen will er unter keinen Umständen auf eine Stufe gestellt werden. Schon am Anfang der Sendung hatte er darauf bestanden, dass man “sehr differenzieren” müsse, “was die Art der Medien anbelangt”, denn da gebe es durchaus “Abstufungen”.
Es kommt ihm freilich sehr entgegen, dass es da noch einen Bereich in der Presselandschaft gibt, der noch mieser, noch krawalliger und noch skrupelloser zur Sache geht als die “Bild”-Zeitung. Gegen die Regenbogenpresse wirkt sein Ex-Blatt ja auch in der Tat nicht mehr ganz so schlimm. Zumindest auf der ersten Blick.
Rein inhaltlich haben “Bild” und die Regenbogenblätter in den vergangenen Wochen aber durchaus Parallelen gezeigt. Natürlich: Im Wahrheit-Verzerren sind die Klatschblätter ungeschlagen. Aus einer banalen Kleinigkeit wird auf derm Cover schnell mal eine riesige Schocktränentragödie. Oder aber ein “Zeichen der Hoffnung”, wie in diesem Fall:
Das Blatt suggeriert, Schumachers Zustand habe sich gebessert — dabei steckt hinter der Schlagzeile lediglich das Gerücht, dass Schumachers Glücksarmband angeblich wiedergefunden wurde.
Die “Bild”-Zeitung hatte bei der Überschrift allerdings eine ganz ähnliche Idee…
… ließ ihre Leser aber immerhin nicht im Unklaren über den Kern der, äh, “Nachricht”:
Einige Journalisten scheinen fest davon überzeugt zu sein, sie hätten Anspruch auf eine Rund-um-die-Uhr-Versorgung mit neuen Einzelheiten; manche drehen sogar dermaßen am Rad, wenn Schumachers Managerin “nichts zu berichten” hat, dass man ihnen am liebsten die Tastatur wegnehmen möchte.
Und so werden die Zeitungs- und Internetseiten — und zwar sowohl in den Boulevard- als auch den Regenbogen- als auch den seriösen Medien — mit Nachrichten gefüllt, die diese Bezeichnung eigentlich gar nicht verdient haben und statt dem Informationsinteresse nur einer Sache dienen: der Gier der Leute, irgendetwas über Michael Schumacher zu lesen. Dass die “Bild”-Zeitung sich dabei nicht ganz so weit aus dem Fenster lehnt wie die Regenbogenpresse, ist klar. Und es kam ihr sehr zugute, dass diese Unterscheidung auch bei Jauch so stark betont wurde, vor allem von Draxler selbst. Guck mal, was die da machen, dagegen sind wir ja nun wirklich nicht schlimm.
Ohnehin profitierte “Bild” in Jauchs Runde enorm von den Vergleichen mit anderen Medien. Auch Schumachers Managerin Kehm sagte, dass sich das Blatt “im Großen und Ganzen fair” verhalten habe und dass sie andere Boulevardmedien als “sehr viel grenzwertiger” empfunden habe. Und natürlich wirkt “Bild” im direkten Vergleich nicht ganz so schlimm wie etwa der unsägliche “News”-Ticker von “Focus Online” oder die Knallblätter der deutschen oder englischen Regenbogenpresse. Aber nur weil die “Bild”-Zeitung noch genug Restskrupel hat, auf der Titelseite nicht einfach zu lügen, Schumacher sei “aufgewacht” oder es gebe ein “Wunder”, und nur weil sie nicht jedes Gerücht aufgreift, sondern auch mal eins auslässt, heißt das ja nicht automatisch, dass sie guten Journalismus macht. Es ist lediglich das kleinere Übel.
Es gibt darüber hinaus noch einen bedeutenden Unterschied zwischen “Bild” und der Regenbogenpresse, der bei solchen Vergleichen schnell unter den Tisch fällt. Dieser Unterschied wird gerade am Beispiel der rumgereichten “Bild”-Panikmache wegen der angeblichen Lungenentzündung deutlich.
Wenn die “Bild”-Zeitung etwas schreibt, dauert es nämlich nicht lange, bis andere, auch seriöse und internationale Medien aufspringen, so groß deren Zweifel auch sein mögen. Die Spekulationen der “Freizeit X” werden dagegen allenfalls von der “Freizeit Y” und der “Z für die Frau” aufgegriffen, sie verbleiben im Paralleluniversum der Regenbogenwelt und dringen nur selten ans Licht der breiten Öffentlichkeit. Auch wenn die Auflagenzahlen in diesem Segment riesig sind, erreicht ein Gerücht der Regenbogenpresse nur selten so viele Meinungsmacher wie eines, das von der “Bild”-Zeitung in die Welt gesetzt wurde.
So zieht jede große “Bild”-Schlagzeile ein riesiges Echo nach sich, das selbst dann noch hallt, wenn die ursprüngliche Meldung längst korrigiert oder widerlegt wurde.
Im Fall Schumacher klang dieses Echo unter anderem so:
Dahinter steckt nichts anderes als die Falschmeldung der “Bild”-Zeitung. “die aktuelle” schreibt:
Der Feind in seinem Körper — er macht alles kaputt. Die schreckliche Schock-Nachricht aus Grenoble: Schwere Lungenentzündung. Ausgerechnet jetzt! Das Leben von Michael Schumacher, 45, steht auf Messers Schneide. Sein Schicksal liegt nun allein in Gottes Hand. Dabei hatte es doch schon so gut ausgesehen …
Diesen Artikel hätte es ohne “Bild” nicht gegeben. Viele andere Schumi-Artikel in den Regenbogenbogenblättern auch nicht. Klar: Die Redaktionen hätten sicherlich auch andere Quellen für ihre Schock-Wunder-Dramen gefunden. Aber in vielen Fällen lieferte die “Bild”-Zeitung schon genug Futter für die “Schweinepresse”.
All das erwähnte Alfred Draxler in seiner Lehrstunde über verantwortungsvollen Journalismus natürlich mit keinem einzigen Wort.