Aber eines kann man über “Focus Online” wahrlich nicht sagen: dass es an Format fehlt. Nein, Journalismus mit Format gibt es auf focus.de. Oder genauer: Journalismus über Format. Zum Beispiel über das Format DIN A3:
Wenn einem gerade mal nicht einfallen will, dass ein DIN-A3-Blatt 29,7 mal 42 Zentimeter groß ist, dann gibt man normalerweise “din a3” bei Google ein. Und weil es Leuten wahrscheinlich ständig so geht und diese Leute ständig nach der Größe eines DIN-A3-Blatts googeln, haben die Klick-Maximierungsexperten bei “Focus Online” dafür gesorgt, dass diese Leute bei ihnen auf der Seite landen:
Das DIN A3-Format kennen viele noch aus dem Kunstunterricht. Denn der häufig genutzte Zeichenblock hat in der Regel genau diese Größe. Zudem ist das Format aber auch in Form von Zeitungen, Notenblättern oder kleineren Plakaten sehr geläufig und dadurch häufig im Alltag anzutreffen.
Doch wie groß ist ein Blatt Papier im DIN A3-Format eigentlich? Die Maße des DIN A3-Formats betragen genau 29,7 cm x 42,0 cm.
Ja, ja.
Nun kann eine Redaktion aber nicht nur mit der Info, wie groß ein DIN-A3-Blatt ist, Klicks abgreifen, sondern auch mit der Info, wie groß ein DIN-A4-Blatt ist:
Oder ein DIN-A2-Blatt:
Oder ein DIN-A1-Blatt:
Oder …
… oder …
… oder …
… oder …
… oder …
… oder …
Die Vorstellung, dass bei “Focus Online” erwachsene Leute zusammensitzen, die darüber grübeln, wie sie noch ein paar Tausend Klicks mehr raustricksen können, und von denen einer dann sagt: “Wir machen eine große DIN-Größen-Reihe”, woraufhin alle anderen klatschend aufstehen und sagen: “Ja, super Idee” — das ist schon sehr traurig. Und wird nur davon getoppt, dass diese Bankrotterklärung höchstwahrscheinlich auch noch funktioniert.
Alice Weidel hat also vorzeitig ein TV-Studio verlassen. Die Spitzenkandidatin der AfD bei der anstehenden Bundestagswahl ist gestern Abend in der knapp 100 Minuten dauernden ZDF-Talkrunde “Wie geht’s, Deutschland?” bereits nach 65 Minuten gegangen. Heute gibt es fast keine Redaktion, die nicht bei diesem kalkulierten Eklat mitmacht.
Anders als bei CDU-Politiker Wolfgang Bosbach, der vor knapp zwei Monaten die Talk-Runde von Sandra Maischberger — ob nun zu Recht oder zu Unrecht — ehrlich empört verlassen hatte, wirkt Weidels Abgang recht gelassen. Die AfD-Politikerin warf CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer noch vor, dass dessen Partei illegale Einwanderung legalisieren wolle, lächelte dabei, dann packte sie auch schon ihre Unterlagen und ging.
Im Verlauf der Sendung gab es mitunter zwar hitzige Debatten, aber keine Situation, die zwangsläufig zum Verlassen des Studios führen musste. Es scheint so, als wollte Alice Weidel unbedingt gehen, egal wann, Hauptsache gehen, vielleicht auch, weil sie und ihre Partei gesehen haben, wie groß das Medienecho nach Bosbachs Aktion war. Über Weidels Aussagen in der ZDF-Sendung hätte heute wohl kaum eine Redaktion ausführlich berichtet. Über den “Eklat im TV” berichten so gut wie alle:
Genau das ist das Kalkül der AfD: Die Schlagzeilen bringen ihr 18 Tage vor der Wahl eine Aufmerksamkeit, die sie sonst nie bekommen würde. Schon in einem Strategiepapier für den Wahlkampf schrieb die Partei, dass sie “vor sorgfältig geplanten Provokationen nicht zurückschrecken” wolle, negative Reaktionen seien dabei “ganz bewusst” einkalkuliert. Ein gut inszenierter “Eklat im TV” ist sicher eine solche “Provokation”. Bei der anschließenden PR-Arbeit machen die Redaktionen, die unreflektiert jede AfD-Kleinigkeit in eine Überschrift packen, immer wieder freiwillig mit.
Immerhin grübeln mancheMedieninzwischen, ob Alice Weidel das nicht doch alles geplant habe. Die kostenlose Wahlwerbung für die AfD haben sie aber längst unters Volk gebracht.
Wenn Sie gestern eine Runde auf deutschen Online-Nachrichtenseiten gedreht haben, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Sie auch auf diese Schlagzeile hier gestoßen sind:
(“Spiegel Online”)
Oder auf diese:
(Stern.de)
Oder diese:
(Welt.de)
Oder auf eine von diesen:
(FAZ.net)
(“Focus Online”)
(Morgenpost.de)
(“Deutschlandfunk”)
(derstandard.at)
(Express.de)
(FR.de)
(rp-online.de)
(Merkur.de)
(derwesten.de)
(maz-online.de)
(rbb-online.de)
(orf.at)
Die Liste ließe sich noch lange weiterführen — es stand gestern so gut wie überall, auch weil Agenturen die Nachricht übernommen und verbreitet haben: Die AfD prüfe, ob sie die gerade erst im Bundestag beschlossene “Ehe für alle” vor dem Bundesverfassungsgericht verhindern könne.
Als Ursprung für diese Neuigkeit nennen die Artikel, die hinter den oben aufgeführten Titelzeilen stecken, alle die gleiche Quelle: “Bild am Sonntag”. Die “BamS”-Redaktion hatte die AfD-Info gestern, beziehungsweise online bereits vorgestern am späten Abend, exklusiv:
Die AfD plant, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen und die am Freitag im Bundestag beschlossene “Ehe für alle” zu kippen. AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland (76) zu BamS: “Wir prüfen derzeit eine Klage beim Bundesverfassungsgericht. Ich bin für einen solchen Schritt. Die Ehe für alle bedeutet eine Wertebeliebigkeit, die unserer Gesellschaft schadet.”
Nun kann die AfD das so sehr wollen und planen und prüfen, wie sie mag — sie kann nicht wegen der “Ehe für alle” vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.
Wie Patrick Gensing bereits gestern am Nachmittag beim ARD-“Faktenfinder” schrieb, gibt es verschiedene Wege, die dazu führen, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit einem Gesetz beschäftigt. Im Fall der “Ehe für alle” kommt eigentlich nur die abstrakte Normenkontrolle in Frage. Und die kann nicht von jedem einfach so beantragt werden. Das Bundesverfassungsgericht schreibt dazu:
Der Antrag kann nur von der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages gestellt werden. Bürgerinnen und Bürger sind in dieser Verfahrensart nicht antragsberechtigt.
Die AfD sitzt zwar in einigen Landesparlamenten, sie gehört aber weder der Bundesregierung noch einer Landesregierung an, und keiner ihrer Mitglieder ist aktuell Bundestagsabgeordneter. Über die abstrakte Normenkontrolle kann sie eine Überprüfung der “Ehe für alle” durch das Bundesverfassungsgericht derzeit nicht beantragen.
Eine Verfassungsbeschwerde, die auch einzelne AfD-Mitglieder initiieren könnten, macht bei der “Ehe für alle” auch keinen Sinn. Denn dazu schreibt das Bundesverfassungsgericht:
Die beschwerdeführende Person muss selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihren Rechten betroffen sein.
Und wer soll schon ernsthaft in seinen Rechten betroffen sein, weil nun auch Frauen Frauen und Männer Männer heiraten können sollen und sonst durch die “Ehe für alle” niemandem etwas weggenommen wird?
All das hätten auch die zwei “Bild am Sonntag”-Autoren herausfinden können, bevor sie (und in der Folge all die anderen Redaktionen, die auch nicht recherchierten) der AfD riesige Werbeflächen für eine Null-und-nichtig-Ankündigung einräumten.
1. Streit um Antisemitismus-Doku (deutschlandfunk.de, Brigitte Baetz, Audio, 7:23 Min.)
Der deutsch-französische Sender “Arte” will die 90-minütige Doku “Auserwählt und ausgegrenzt — Der Hass auf Juden in Europa” nicht zeigen. Der Film über die Ausgrenzung von Juden sei nicht ausgewogen. Im Gespräch weist der Autor die Vorwürfe zurück. (Für den Audiobeitrag im Beitragsbild rechts unten auf “HÖREN” klicken)
2. Die falschen Fluten von Rakka (ndr.de, Fiete Stegers)
In einem Nachrichtenvideo von “Focus Online” wird darüber berichtet, dass die Terrormiliz “IS” Teile der von ihr besetzten Stadt Rakka unter Wasser gesetzt hat und zeigt dabei Bilder der überschwemmten Gebiete. Das Problem: Die gezeigten Gebiete liegen nicht in Rakka, sondern in Amerika und Asien… Fiete Stegers dazu: “Natürlich kommt es bei TV-Beiträgen und Online-Videos häufig vor, dass symbolische Bilder oder Archivmaterial verwendet werden. In der Regel sollte dies sich allerdings den Zuschauern auf den ersten Blick erschließen oder deutlich kenntlich gemacht werden, insbesondere bei klassischen Nachrichten. Dies fehlt bei Focus Onlines phanstasievoller Flut-Kollage völlig.”
3. Warum politische Kampagnen-Hashtags fast immer failen (fearlessdemocracy.org, Kai Heiderich)
Oftmals wird versucht, eine politische Debatte auf Twitter durch die Verwendung eines Hashtags zu befördern. Doch das kann sich als kontraproduktiv erweisen, wenn politische Gegner den Begriff kapern: “Traurige Realität ist jedoch: die Lustlosigkeit und die wenig an Medienrealitäten angelegte Integration von Hashtags in Kampagnenlogiken führt gerade bei Themen, die speziell die Rechten gerne für sich in Anspruch nehmen wollen, zu Hijacks. Anders ausgedrückt: Öffentlich-rechtliche Anstalten oder die Bundesregierung werben mit Hashtags, die dann faktisch auf twitter von AfD & Co besetzt werden.”
4. Publizistin: “Man kann völlig ungeniert lügen” (derstandard.at, Lisa Breit)
Der österreichische “Standard” hat sich mit der am Institut für Publizistik in Wien lehrenden Julia Wippersberg über Fake News unterhalten Der Grundstein für Medienkompetenz müsse in den Schulen gelegt werden. Doch auch das sei nicht einfach: “Dort gibt es aber bereits einen ambitionierten Lehrplan, zu wenig Personal, viele Schüler haben schlechte Deutschkenntnisse. Wie sollen Lehrer da zusätzlich Medienkompetenz unterrichten? Zudem müsste man vielen von ihnen erst einmal Medienkompetenz beibringen.”
5. Einfach weggesperrt (taz.de, Karim El-Gawhary)
Der ägyptische Pressefotograf Shawkan (Mahmud Abu Zeid) sitzt seit fast vier Jahren ohne Urteil in Haft. Anlass seiner Inhaftierung: Er hat für eine Bildagentur als Pressefotograf am Rabaa-Adawiya-Platz in Kairo ein Protestlager der Muslimbrüder fotografiert. Nach Aussagen des Bruders von Shawkan geht es ihm mittlerweile gesundheitlich sehr schlecht. Er sei zusammen mit 22 weiteren Menschen in einer Zelle eingepfercht und leide an Hepatitis C und Anämie, ohne angemessen behandelt zu werden.
6. TSV 1860 München: Die Medien sind ein ständiger Unruheherd (journalisten-training.de, Bernd Oswald)
Bernd Oswald ist der Meinung, dass die Medien eine Mitschuld daran hätten, dass es beim Münchner Fußballverein TSV 1860 so chaotisch zugehe. Sein Vorschlag: Statt sich auf die Wiedergabe der Versäumnisse und Schuldzuweisungen im Verein zu beschränken, sollten die Münchner Sportmedien lösungsorientierter berichten.
Die “Süddeutsche Zeitung”, NDR und WDR berichten heute, dass der Mann, der verdächtigt wird, die drei Bomben neben dem Mannschaftsbus des BVB gezündet zu haben, sagt, er sei es nicht gewesen:
“Mein Mandant bestreitet die Tat”, erklärt der Tübinger Anwalt Reinhard Treimer, der den 28-jährigen Mann vertritt. Sergej W. habe auch gegenüber dem Haftrichter des Bundesgerichtshofs bestritten, dass er der Täter gewesen sei.
Auch die weiteren Ermittlungen der zuständigen Behörden sollen bislang kein weiteres belastendes Material zutage gefördert haben:
Die bisherige Auswertung des bei Durchsuchungen sichergestellten Materials hat nach Recherchen von Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR keine weiteren eindeutigen Belege für die Tat gebracht.
Dennoch seien sich die Ermittler “weiterhin sicher, dass der wegen dringenden Tatverdachts festgenommene 28-jährige Sergej W. den Anschlag auf den Bus verübt hat.” In dem Fall geht es um versuchten Mord, gefährliche Körperverletzung und die Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion.
Bild.de berichtet, mit Bezug auf die “Süddeutsche Zeitung”, ebenfalls über die neueste Entwicklung:
Moment mal! “Mutmaßlicher Attentäter”? Warum denn auf einmal diese Zweifel, liebe “Bild”-Richter? Ihr wart doch schon vor Tagen sicher:
(Diese und alle weiteren Unkenntlichmachungen im Beitrag von uns.)
Wozu auf eine offizielle Verurteilung warten, wenn man medial schon mal vorverurteilen kann? Warum nicht einfach schon mal schreiben, dass es sich um “seinen 30-fachen Mordversuch” handelt?
Warum nicht jemanden schon mal ohne jeden Zweifel zum “Dortmund-Attentäter” erklären?
Warum nicht immer und immer wieder vom “BVB-Bomber” beziehungsweise, wenn man in besonderer Alliterationslaune ist, vom “BVB-Bus-Bomber” schreiben und ein unverpixeltes Foto des Tatverdächtigen danebenpacken, als hätte ein Gericht bereits rechtskräftig festgestellt, dass es sich bei dem Mann um den Attentäter handelt?
Keine Frage: Aufgrund der Indizien — zum Beispiel die Börsenwette des Tatverdächtigen auf einen fallenden BVB-Aktienkurs oder sein Bestehen auf ein Hotelzimmer mit Blick auf den Anschlagsort — kann man der Meinung sein, dass der Mann etwas mit dem Attentat zu tun hat. Aber es sind eben nur Indizien. Und ein “mutmaßlich” oder “angeblich” oder “wahrscheinlich” in die Berichterstattung einzubauen, ist kein großer Akt. Wenn eine Redaktion es denn will.
Die Mitarbeiter von “Focus Online” schrieben übrigens auch schon vom “BVB-Attentäter”. Aber im Gegensatz zu ihren “Bild”-Kollegen hatten sie auch schon ein Geständnis des Tatverdächtigen gehört. Jedenfalls meinten sie vor einer Woche, eins gehört zu haben:
Die “dpa” griff die “Focus Online”-Hinhör-Geschichte damals auf und machte eine Meldung daraus. Diese tauchte dann erneut bei “Focus Online” auf:
Heute veröffentlichte “Focus Online” diese Eilmeldung:
1. Woher stammen die Facebook-Bilder der AfD? (ndr.de, Fiete Stegers)
Auf der Facebook-Seite der AfD gibt es für die aktuell 321.269 Nutzer, denen sie gefällt, immer wieder markige Partei-Botschaften, die auf Fotos gepackt wurden. Aber woher stammen diese Bilder, wenn sie gerade mal nicht Frauke Petry oder Alexander Gauland zeigen? Fiete Stegers hat einigen hinterherrecherchiert: “Für die Bebilderung bedient sich die Partei unter anderem bei ausländischen Fotografen, bei Wikipedia und auch mal bei der Deutschen Presseagentur (dpa). Einige dieser Fotografen sind verärgert und prüfen nach Hinweisen von ZAPP nun juristische Schritte.”
2. Medienfreiheit in Demokratien bedroht (reporter-ohne-grenzen.de)
Die “Reporter ohne Grenzen” haben gestern ihre “Rangliste der Pressefreiheit” für das Jahr 2017 veröffentlicht und bieten in diesem ausführlichen Beitrag kompakte Überblicke zu den Arbeits- und Lebensbedingungen von Journalisten in vielen Ländern der Welt: von Polen über den Jemen und Burundi bis Nicaragua.
3. Wer bin ich? (sueddeutsche.de, Katharina Riehl)
Der Printbranche geht es insgesamt nicht gut. Beim „Focus“ müssen jedoch besondere Umstände dazugekommen sein, denn es kriselt dort besonders: „Wahr ist aber auch, dass die Krisenmeldungen beim Focus noch ein bisschen häufiger sind als anderswo, die Zahlen noch ein bisschen schlechter — und dass das Heft publizistisch bei vielen aus der Wahrnehmung gerutscht ist.“ “SZ”-Autorin Katharina Riehl hat sich auf Ursachensuche gemacht.
4. Universität Leipzig bildet vorerst keine weiteren Journalisten aus (flurfunk-dresden.de, Alexander Laboda)
Die Journalisten-Ausbildung an der Universität Leipzig stand schon länger in der Kritik, doch jetzt hat die Uni die Reißleine gezogen: Der Fakultätsrat verhängte am Dienstagnachmittag einen Immatrikulationsstopp. Grund dafür sind offenbar erhebliche Mängel bei der Qualität der Ausbildung und der Durchführung des Masterprogramms.
5. Spiegel Online, BILD & Co. NEU bei Snapchat Discover – Ich hab’s mir angesehen (philippsteuer.de, Video, 6:47 Minuten)
Sie sind neugierig, wie sich „Spiegel Online“, „Bild“ & Co. neuerdings bei Snapchat präsentieren, haben die App aber nicht installiert? Dann lassen Sie sich von Philipp Steuer in einem kommentierten Video durch die neue bunte Snapchat-Medienwelt führen.
6. Und wieder grüßt der dicke Mops… (radioszene.de, Wolf-Dieter Roth)
Immer wieder versuchen pfiffige Radiomacher, mit provokativen Aktionen ins Gespräch zu kommen. Der österreichische Radiosender “Kronehit” ist nun mit einer wenig originellen und geschmackvollen Idee um die Ecke gekommen und bietet eine Brustvergrößerung für Mutter und Tochter an. Ein Spiel mit dem einkalkulierten, ja vielleicht sogar erwünschten Shitstorm?
1. Exklusiv: Journalismus zum Heulen (uebermedien.de, Boris Rosenkranz)
Hat der Mann, der im Verdacht steht, ein Attentat auf den BVB-Mannschaftsbus begangen zu haben, wirklich unter Tränen ein Geständnis abgelegt? Wer “Focus Online” liest, muss genau das annehmen. Das Problem: Das Bundeskriminalamt widerspricht dieser Behauptung mit deutlichen Worten. Das hält “Focus Online” jedoch nicht ab, erneut … Ach, lesen Sie selbst, was Boris Rosenkranz auf “Übermedien” dazu aufgeschrieben hat.
2. Mediennotizen #1: Petry/”Spiegel” und DJV (daniel-bouhs.de)
Daniel Bouhs sieht in den Aussagen von Frauke Petry über die “Spiegel”-Reporterin Melanie Amann ein Symbol für das verstörte Verhältnis der AfD zu vielen Journalisten. Er hat dazu die Langfassung des Interviews von Doku-Filmer Stephan Lamby mit Frauke Petry herangezogen und eine Antwort von “Spiegel”-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer eingeholt. Im zweiten Teil seines Blogbeitrags geht es um die Causa der Mafia-Rechercheurin Petra Reski, der vom “Freitag” die juristische Unterstützung in einer Rechtssache verweigert wurde, und die Frage, inwieweit diese von Verdi oder DJV geleistet worden wäre. Weiterführender Link: Die “FAZ” berichtet über Petra Reskis Fundraising zur Abdeckung der Kosten für den gegen sie angestrengten Rechtsstreit: Nicht allein gegen die Mafia.
3. Das Ende der Zukunft des Journalismus’ (medium.com/@lorz, Lorenz Matzat)
Lorenz Matzat konstatiert: “Ohne Vorstellung von einer digitalen Gesellschaft braucht es auch keinen entsprechenden digitalen Journalismus.” Seit rund zwei Jahren sei hierzulande ein Stillstand zu beobachten. Je mehr das Wort “Innovation” überstrapaziert werde, desto weniger trete diese im Journalismus ein. “Die traurige Ironie ist, dass wir in Deutschland mit den Öffentlich-Rechtlichen Einrichtungen besitzen, die mit rund 8.000 Millionen Euro im Jahr von der Gesellschaft ausgestattet werden, um Information und Unterhaltung zu organisieren. Das sind etwa 100 Euro pro Jahr pro Einwohner dieses Landes. Wo wären wir, wenn davon ein Euro pro Jahr pro Einwohner in Experimente, in Format- und Technologie-Entwicklung, in Open-Source-Software gesteckt würde?”
4. Falschmeldungen über US-Drohkulisse (faktenfinder.tagesschau.de, Wolfgang Wichmann & Jenny Stern)
Der “Faktenfinder” der “Tagesschau” beschäftigt sich mit den widersprüchlichen Meldungen über die Flugzeugträger der US-Marine bzw. deren derzeitigen Aufenthaltsort. Die Meldung der südkoreanischen Agentur “Yonhap”, dass sich drei Flugzeugträger auf dem Weg nach Nordkorea befänden, sei falsch.
5. Journalisten zensieren sich selbst (deutschlandfunk.de, Thomas Otto)
Eine aktuelle Studie des Europarates fördert Erschreckendes zu Tage: Weit mehr als jeder zweite befragte Journalist habe angegeben, in den letzten drei Jahren mindestens einmal das Opfer von Demütigung, Herabsetzung, Einschüchterungsversuchen, Verleumdung oder Schmutzkampagnen gewesen zu sein. Das Ergebnis dieser unschönen Entwicklung sei oftmals Selbstzensur.
6. Faktencheck: Christian Lindner behauptet, dass Einbrüche in NRW massiv zugenommen haben. Richtig oder falsch? (correctiv.org, Jacques Pezet)
FDP-Chef Christian Lindner hat der “Bild”-Zeitung ein Interview gegeben. Dort wurde ihm unter anderem die Frage gestellt: “Leben die Menschen in NRW weniger sicher als in anderen Bundesländern?” Darauf entgegnete Lindner, dass die Einbruchskriminalität massiv gestiegen sei, während die Aufklärungsquote stagniere.
Jacques Pezet von “Correctiv” hat sich in den amtlichen Statistiken schlau gemacht und schreibt: “Zwischen 2012 und 2016 ist die Zahl der Wohnungseinbrüche in NRW um 2,9 Prozent gesunken. Wir wissen nicht, wie FDP-Chef Christian Lindner zu der Auffassung gelangt ist, dass die Zahl der Einbrüche ‘massiv gestiegen’ sei. Jedenfalls — ist seine Behauptung komplett falsch.” Nachtrag, 22:10 Uhr: Zum Faktencheck von “Correctiv” hatten wir allerdings auch noch was zu sagen: “Vercheckt”.
Kein islamistischer Terror, keine Rechtsextremen, keine Linksextremen. Habgier soll das Motiv des Anschlags auf den BVB-Mannschaftsbus vor zehn Tagen gewesen sein. Heute früh wurde ein Mann festgenommen, der die drei Sprengsätze am 11. April in Dortmund gezündet haben soll. Dabei soll es ihm um die Aussicht auf viel Geld gegangen sein — die Bundesanwaltschaft schreibt in einer Pressemitteilung, dass der Tatverdächtige vor dem Anschlag Optionsscheine gekauft habe, mit denen er auf einen fallenden Kurs der BVB-Aktie spekuliert habe. Viele Medien schreiben, dass der Mann dadurch Millionen hätte machen können.
Bei ihrer Jagd nach großen Schlagzeilen mit großen Summen bringen die Redaktionen allerdings Zahlen ins Spiel, an denen es erhebliche Zweifel gibt. Der Ursprung des Übels ist dabei einmal mehr Bild.de:
Die zuständigen sieben Autoren schreiben:
Nach BILD-Recherchen fanden die Ermittler heraus, dass Sergej W. vom Hotel aus online ein Aktienpaket von 15 000 Optionsscheinen für 78 000 Euro kaufte. (…)
Im Falle eines deutlichen Kursverlustes der BVB-Aktie hätte Sergej W. einen Millionengewinn machen können. Nach den Ermittlungen des Bundeskriminalamtes hätte er einen Gewinn von bis zu 3,9 Millionen Euro erzielt.
Dafür musste die Aktie dramatisch fallen. Und genau das wäre nach einem Anschlag, bei dem ein Teil der Mannschaft schwer verletzt oder sogar getötet worden wäre, vermutlich passiert.
Andere Nachrichtenseiten übernahmen die Kennziffern 15.000 Optionsscheine, 78.000 Euro Einsatz, 3,9 Millionen Euro möglicher Gewinn. “Focus Online” zum Beispiel:
Erstmal zu den 78.000 Euro — wir vermuten, dass die Bild.de-Mitarbeiter durch eine simple Rechnung auf diese Zahl gekommen sind: Sie dürften die 15.000 Optionsscheine, von der die Bundesanwaltschaft berichtet, mit dem Basispreis von 5,20 Euro je Optionsschein multipliziert haben. Macht insgesamt 78.000 Euro.
Das Problem dabei: So funktioniert der Kauf von Optionsscheinen nicht. Man erwirbt die sogenannten Put-Optionsscheine, mit denen man auf fallende Kurse spekulieren kann, nicht zum Basispreis, sondern zu einem Kaufpreis des jeweiligen Optionsscheins. Und der lag bei den Put-Optionen zur BVB-Aktie am Tag des Anschlags bei nur wenigen Cents je Schein.
Die Put-Option zur BVB-Aktie mit dem Basiswert von 5,20 Euro, auf die sich Bild.de bei der 78.000-Euro-Rechnung vermutlich bezieht, hatte am Tag den Anschlags einen Kaufpreis von 0,18 Euro. Die 15.000 Optionsscheine, die der Tatverdächtige gekauft haben soll, haben also nur 2700 Euro gekostet.
Weiter zu den 15.000 Optionsscheinen — vermutlich hat der Verdächtige noch einige mehr gekauft. Sowohl boerse.ard.de (wo Detlev Landmesser übrigens bereits am 12. (!) April im Zusammenhang mit dem Anschlag in Dortmund auf “eine kleine Auffälligkeit aus Börsensicht” hingewiesen hatte) als auch die “Wirtschaftwoche” gehen davon aus, dass mehr Transaktionen getätigt wurden.
Es gibt 23 verschiedene Put-Optionen auf die BVB-Aktie, die man an deutschen Börsen kaufen kann. Sie haben unterschiedliche Basiswerte und unterschiedliche Kaufpreise. Bei insgesamt fünf von ihnen gab es am Tag des Anschlags Aktivitäten an der Frankfurter Börse (was laut Finanzexperten auffällig ist, da Optionsscheine von Privatanlegern in der Regel an der Stuttgarter Börse gehandelt werden):
1) Wertpapierkennnummer DG9CHE
Basiswert: 3,60 Euro
gehandeltes Volumen: 15.000 Optionsscheine
Kaufpreis: 0,09 Euro
2) DG7MN5
Basiswert: 4,00 Euro
gehandeltes Volumen: 15.000 Optionsscheine
Kaufpreis: 0,019 Euro
3) DGQ1VU
Basiswert: 4,40 Euro
gehandeltes Volumen: 15.000 Optionsscheine
Kaufpreis: 0,043 Euro
4) DGM51Y
Basiswert: 4,80 Euro
gehandeltes Volumen: 15.000 Optionsscheine
Kaufpreis: 0,12 Euro
5) DGQ1VV
Basiswert: 5,20 Euro
gehandeltes Volumen: 15.000 Optionsscheine
Kaufpreis: 0,18 Euro
Der Gesamtkaufpreis für diese 75.000 Optionsscheine liegt bei 6780 Euro.
Einen Tag später gab es ebenfalls an der Frankfurter Börse noch einmal Aktivitäten bei Put-Optionsscheinen zur BVB-Aktie. Wir konnten nicht endgültig klären, ob es sich auch bei ihnen ausschließlich um Käufe — und nicht um Verkäufe — handelt. Sollten es alles Käufe gewesen sein, und sollte für all diese Käufe der nun festgenommene Mann verantwortlich sein, hätte er insgesamt 123.000 Optionsscheine im Wert von 10.218 Euro erworben. Also immer noch weit entfernt von den 78.000 Euro, die Bild.de ins Spiel gebracht hat. Und auch nur ein Bruchteil des 79.000-Euro-Kredits, den der Tatverdächtige laut NRW-Innenminister Ralf Jäger aufgenommen haben soll. Bei süddeutsche.de und “Spiegel Online” ist die Rede von einem 40.000-Euro-Kredit.
Zuletzt noch zu den 3,9 Millionen Euro — konnte der Verdächtige auf so viel Geld hoffen? Höchstwahrscheinlich nicht. Detlev Landmesser schreibt bei boerse.ard.de, dass “der theoretisch maximale Gewinn” bei “gerade mal 276.000 Euro” läge. Dafür hätte der Wert der BVB-Aktie allerdings auf 0 Euro sinken müssen. Wäre er lediglich auf 3 Euro gesunken, hätte der Gewinn nur 96.000 Euro betragen. Die “Wirtschaftswoche” nennt zwar keine konkreten Zahlen, glaubt aber auch nicht, dass der nun festgenommene Mann Millionen hätte verdienen können: Die Annahme, dass sich mit dem Einsatz von einigen Tausend Euro “mithilfe von Put-Optionsscheinen Millionen verdienen lassen”, sei “vollkommen unrealistisch.”
Uns ist ja schon einiges begegnet in Sachen Clickbait: Clickbait mit Krebskranken, Irrsinnswiederholungsclickbait, die inzwischen ganz normale Klickjagd von “Bravo”, “Focus Online” und all den anderen Portalen, die ihre Leserinnen und Leser gern ein wenig hinhalten, bis diese mal erfahren, was wirklich passiert ist (und ob überhaupt irgendwas passiert ist).
Dieser Versuch der “Huffington Post”, die Klickrate ein bisschen hochzuschrauben, ist aber so erbärmlich, dass er aus dem ganzen Clickbait-Stumpfsinn negativ heraussticht:
In dem Artikel geht es nicht — wie man durchaus erst einmal denken könnte — um einen Vater, der seine Tochter sexuell missbraucht. Stattdessen erzählt die “Huffington Post” unter anderem vom “allmorgendlichen Ritual” eines Mannes, der sich sehr liebevoll um seine Tochter kümmerte, als diese unter Magersucht litt. Die britische “Daily Mail” veröffentlichte die Geschichte bereits vor 15 Monaten, die “Huffington Post” plapperte sie vor gut einer Woche nach:
Ihr Vater Steve entwickelte mit der Zeit ein allmorgendliches Ritual: Nachdem er aufgestanden war, schlich er sich in ihr Zimmer und überprüfte, ob seine Tochter noch atmete.
“Manchmal saßen wir einfach nur auf dem Boden neben ihrem Bett, um bei ihr zu sein. Wir konnten nichts machen”, sagt er.
Das österreichische Knallportal oe24.at fand die Idee der “Huffington Post” wohl so gut, dass es vor drei Tagen nachzog und die gleiche, schon über ein Jahr alte Story mit einer peinlich ähnlichen Clickbait-Überschrift ebenfalls veröffentlichte:
Bei der Wahl ihrer Titelzeilen scheint es beiden Portalen einzig um Klicks zu gehen, und nicht darum, der Leserschaft zu vermitteln, wovon die Artikel in etwa handeln. Das Schleich-Ritual des Vaters ist schließlich nur ein Seitenaspekt, der kaum etwas mit dem eigentlichen Thema — dem Kampf und der Genesung der Tochter — zu tun hat.
Gut möglich, dass einige Leserinnen und Leser gar nichts dagegen haben, derart getäuscht zu werden. Jedenfalls hinterlassen sie bei Facebook solche Kommentare:
Der Titel ließ erst etwas anderes erahnen. Nicht nur ich, auch andere Leute dachten erst es hätte was mit Vergewaltigung oder so zutun. Aber einglück ist dies ja nicht so. Tolle Geschichte, tolle Familie und soviel Stärke 💕
Mit Dank an Sven W. und Thomas A. für die Hinweise!
Manchmal ist es ja schon verblüffend, wie der Blick von außen dabei helfen kann, Dinge zu sehen, die man sonst nicht wahrnimmt. Da entdeckt zum Beispiel ein beachtlicher Teil der Weltpresse einen Babyboom auf Island, ziemlich genau neun Monate nach einem tollen Sieg der isländischen Fußballnationalmannschaft, zwinkerzwinker. Und die Isländer selbst bekommen das vor Ort gar nicht mit.
Doch der Reihe nach: Bei der Fußballeuropameisterschaft in Frankreich im vergangenen Jahr besiegte das isländische Team im Achtelfinale am 27. Juni England mit 2:1. Ein ziemlich überraschender Erfolg. Und vor drei Tagen, am 28. März und somit fast exakt neun Monaten nach dem isländischen Triumph, melden Medien weltweit: Auf Island gibt es einen Babyboom, angeblich ausgelöst durch wilde Liebesnächte nach dem Erfolg bei der EM.
Nur: Die Sache mit dem Babyboom auf Island stimmt wohl nicht. Der öffentlich-rechtliche Rundfunksender RÚV schreibt von “Falskar fréttir” und berichtet, dass in den Geburtskliniken in den vergangenen Tagen alles ganz normal gewesen sei. Das Portal “Nútíminn” fragt bei einigen Hebammen nach, und auch die sagen: alles wie immer. Und auf der Seite “The Reykjavík Grapevine” heißt es schon in der Überschrift: “No, There’s No Football-Fueled Baby Boom in Iceland”.
Aber wie kommt dann die Nachricht der isländischen Fußballbabys in die internationalen Titelzeilen? Viele der Seiten, die eine Quelle angeben, berufen sich auf die isländische Website “Visir”. Der dortige Artikel basiert lediglich auf einer einzigen Quelle: dem Tweet eines Mannes, der offenbar Arzt ist und von einem Rekord bei den Periduralanästhesien auf der Entbindungsstation seines Krankenhauses am vergangenen Wochenende schreibt, “neun Monate nach dem 2-1 Sieg gegen England”. Sein Tweet beginnt mit einem “hehehe” und endet mit einem Zwinkersmiley:
Das ist dann auch schon alles, worauf sich die Meldungen aus der ganzen Welt stützen: einen Zwinkertweet.