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Guttenberg, The Atlantic, 9Live

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Liebe der Adeligen in den Zeiten des Krieges”
(dradio.de, Arno Orzessek)
Arno Orzessek erkennt kunsthistorische Ahnenreihen im Bildprogramm des “nach Posen lechzenden Verteidigungsministers” Karl-Theodor zu Guttenberg. “Offenkundig will er die vom Gleichheitswahn angekränkelten Deutschen durch moderne Re-Inszenierung wieder mit dem Herrschaftsporträt alter Schule vertraut machen.”

2. “Marke Wikileaks: was Verlage neidisch macht”
(meedia.de, Don Alphonso)
Don Alphonso glaubt, dass Wikileaks etwas hat, von dem die Verleger träumen: “ein funktionierendes Geschäftsmodell im Internet auf Basis der Einnahmen von Lesern. Und das ohne jede Abhängigkeit von Werbung.”

3. Interview mit Vaughan Smith
(zeit.de, Khue Pham)
Vaughan Smith hat Wikileaks-Gründer Julian Assange Unterschlupf geboten. “Die Medien missbrauchen Wikileaks als Schild: Sie publizieren die Geschichten und machen damit Quote, zeigen gleichzeitig aber mit dem Finger auf ihn, schreiben über Sexgeschichten und machen ihn zum Bösewicht.”

4. “Das CIA-Gerücht im Infokrieg – Julian Assanges falsche Freunde”
(rpzine.de, Robert Pitterle)
Eine der beiden Frauen, die Julian Assange anklagen, habe CIA-Kontakte. Robert Pitterle prüft die durch einen Retweet von Keith Olbermann ausgehenden Gerüchte.

5. “Web Focus Helps Revitalize The Atlantic”
(nytimes.com, Jeremy W. Peters)
“The Atlantic” erzielt nach tiefgreifenden Umstrukturierungen (Abbruch der Paywall, Zusammenführung von Print- und Onlineredaktion, Aufhebung der Unterschiede zwischen Print und Online bei den Anzeigenverkäufen, Einstellung junger Journalisten) fast 40 Prozent der Werbeeinnahmen online.

6. “Cashcow hat ausgedient: Sind die Tage von 9Live gezählt?”
(dwdl.de, Thomas Lückerath)
Der Call-In-Sender 9Live befindet sich in der Krise, weil “die Auflagen und Informationspflichten verschärft” wurden – “die kontinuierliche Aufklärungsarbeit über die Tricks des Call-In-Geschäfts durch aufmerksame und engagierte TV-Zuschauer im Internet hat dort sicher ihren Beitrag geleistet.” Nachtrag, 16. Dezember: Christoph Bellmer von ProSiebenSat.1 dementiert: “Presse-Spekulationen über eine Einstellung von 9Live entbehren jeder Grundlage.”

Küssen verboten

“Die 25 verrücktesten Sex-Gesetze” versprach Bild.de am Donnerstag – selbstverständlich immer mit Blick auf den Bildungsauftrag gegenüber dem Leser – und lieferte dazu eine 25-teilige Klickstrecke. Viel Zeit für Recherche dürfte dabei nicht draufgegangen sein, denn ausnahmslos alle Beispiele geistern zum Teil schon seit den späten Neunzigern in zahllosen Sammlungen und häufig sogar im gleichen Wortlaut durchs Internet oder erschienen schon einmal auf Bild.de.

Noch leichter macht man es sich da nur noch beim Online-Auftritt der Schweizer Boulevardzeitung “Blick”, wo die 25 verrückten “Sex-Gesetze” von Bild.de einfach zwei Tage später als “Verrückte Erotikgesetze” im selben Wortlaut erschienen. Einzige nennenswerte Eigenleistung: blick.ch sortiert nach Ländern.

Bei vielen dieser Gesetze ist es auch aufgrund des komplizierten angelsächsischen Fallrechts nahezu unmöglich zu überprüfen, ob sie immer noch gültig sind oder ob sie überhaupt jemals existiert haben. Zwar lässt sich ein Teil der Gesetze auf der Seite dumblaws.com wiederfinden, aber auch dort fehlt häufig eine Quellenangabe.

Ganz sicher falsch sind jedoch folgende:

Nr. 17 (Bild.de):

Auf Hawaii darf ein Mann nicht mit einer Unter-18-Jährigen zusammen sein. Verstößt er gegen das Gesetz, müssen die Eltern des Mädchens drei Jahre ins Arbeitslager, weil sie ihre Tochter “freizügig” erzogen haben.

Abgesehen davon, dass es im US-Bundesstaat Hawaii keine “Arbeitslager” gibt, findet sich dieses Gesetz weder auf dumblaws.com, noch erscheint es realistisch, wenn man bedenkt, dass auf Hawaii selbst “Unter-18-Jährige” für eine Abtreibung keine elterliche Zustimmung benötigen.

Nr. 20:

Im US-Bundesstaat Connecticut dürfen Kondome offiziell nicht verkauft werden.

Tatsächlich ist der Kondomverkauf in Connecticut seit einem Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten (Griswold v. Connecticut) im Jahre 1965 zulässig.

Nr. 21:

Und in Indiana ist es nur Frauen verboten, Kondome zu kaufen.

Kondome werden in Indiana sowohl geschlechts- als auch altersunabhängig verkauft — und zwar in Drogerien, Apotheken, Supermärkten und online.

Nr. 22:

Wenn Sie nach Irland fahren, nehmen Sie lieber einen großen Vorrat an Kondomen mit: Auch im streng katholischen Inselstaat sucht man vergeblich nach Lümmeltüten.

Ja, die Mehrheit der Iren ist katholisch. Deshalb sind Kondome auf der grünen Insel auch erst seit 1979 nicht mehr verschreibungspflichtig. Und erst seit 1993 können sie auch von Jugendlichen unter 17 Jahren legal erworben werden. Aber wenn Sie am Flughafen jemanden sehen, der wegen eines Koffers voller “Lümmeltüten” Übergepäck anmelden muss, handelt es sich sicher um Redakteure von Bild.de oder blick.ch.

Andere “verrückte” US-Gesetze wie etwa die gesetzliche Beschränkung auf maximal “zwei Dildos pro Haushalt” in Arizona (Nr. 24) versuchte der amerikanische Jurist Daniel Enevoldsen zu verifizieren — erfolglos. Ihm gebührt das Schlusswort, das wohl auf den Großteil der Gesetze aus der Liste zutreffen dürfte:

Ich glaube, dass es sich dabei irgendwann tatsächlich um Gesetze gehandelt hat, die aber inzwischen nicht mehr angewendet werden. Sie sind vermutlich so alt, dass sie nicht in Online-Datenbanken aufgezeichnet sind. Möglich ist auch, dass die Gesetze nie existiert haben und einfach von irgendwelchen Leuten erfunden wurden. Wie auch immer: Es scheint sie nicht mehr zu geben.
(Übersetzung von uns.)

Mit Dank an Michael und einen anonymen Helfer!

AFP, dpa, SDA  

Slumdog Billionaire

Hohe Gebäude sind richtig teuer, schreiben Nachrichtenagenturen.

dpa:

Der 174 Meter hohe Wolkenkratzer mit dem Namen “Antilia” hat rund 755 Millionen Euro Baukosten verschlungen und gilt damit als das teuerste Privathaus der Welt.

AFP:

Das Haus ist 174 Meter hoch und Medienberichten zufolge mit Kosten von mehr als einer Milliarde Dollar (752 Millionen Euro) das teuerste Privathaus der Welt.

Und SDA:

Das Haus ist 174 Meter hoch und Medienberichten zufolge mit Kosten von mehr als einer Milliarde Dollar das teuerste Privathaus der Welt.

1 Milliarde US-Dollar für ein Wohnhaus mit 174 Metern Höhe? Während das derzeit höchste Gebäude der Welt, der 828 Meter hohe “Burj Chalifa” in Dubai, rund 1.5 Millarden US-Dollar kostete? Das kam kobuk.at schon im Oktober seltsam vor (s.a. “6 vor 9” vom 1. November).

Doch die Zahl war bereits 2008 in einem “Forbes”-Artikel zu lesen gewesen:

The cost, originally set at $1 billion, is approaching $2 billion.

Zwei Milliarden Dollar wären verdammt viel Geld. Zwei Milliarden indische Rupien hingegen entsprachen im April 2008 rund 50 Millionen Dollar. Diese Größenordnung passt auch besser zur Aussage eines Sprechers von Reliance Industries, der im Juni 2008 der “New York Times” sagte, die Kosten würden letztlich 50 bis 70 Millionen US-Dollar betragen. Mukesh Ambani, der nun in das Haus einzieht, ist Vorstandsvorsitzender von Reliance Industries.

Ob man damit in Mumbai so ein Haus bauen kann, wurde allerdings bereits im April 2010 auf skyscrapercity.com diskutiert:

Ich persönlich schätze 50 bis 70 Millionen USD für ein solches Gebäude etwas tief ein, aber über was reden wir? Nur über die reinen Baukosten? Innerhalb oder ausserhalb der besten Wohnlage in Mumbai? Mit oder ohne Innenausstattung? Die Zahlen sind so durcheinander an diesem Punkt, dass es nichts bringt, es herauszufinden.

(Übersetzung von uns.)

Doch wenn eh alles durcheinander ist, kann man sich natürlich einfach irgendeine, möglichst hohe Zahl aussuchen: Der Übernahme von Agenturtexten wegen kostet das Haus deshalb auf bild.de 750 Millionen Euro, auf welt.de, stern.de und badische-zeitung.de 752 Millionen Euro, auf focus.de, abendzeitung.de und merkur-online.de 755 Millionen Euro und auf epochtimes.de nur 700 Millionen Euro.

Da die Schweizer Nachrichtenagentur SDA nicht umrechnen wollte, ist in den nahezu deckungsgleichen Berichten von blick.ch, 20min.ch, swissinfo.ch, cash.ch und anderen immer von “einer Milliarde Dollar” die Rede.

Mit Dank an Leo S. und Markus.

Nachtrag, 30. November: Badische-zeitung.de korrigiert ihren Bericht und versieht ihn mit einer “Anmerkung der Redaktion”.

Bild  

“Tatort Internet” und das Recht zu schweigen

Mindestens genauso spannend wie das, was in der Zeitung steht, ist ja häufig das, was nicht in der Zeitung steht.

Aber erst mal zurück zu dem, was tatsächlich gedruckt wird:

Seit dem Start von “Tatort Internet” berichtete “Bild” immer wieder wohlwollend über die RTL2-Sendung. Stephanie zu Guttenberg, First Lady von “Bilds” Gnaden und Gastmoderatorin der ersten Ausgabe, wurde für ihr Engagement gefeiert und zur “Gewinnerin” ernannt (BILDblog berichtete mehrfach darüber).

Am 12. November vermeldete “Bild” auf Seite 2:

“Tatort Internet” verstößt nicht gegen Jugendschutz

München – Wichtiger Erfolg für die RTL-2-Reihe “Tatort Internet”: Die TV-Sendung verstößt nicht gegen die Jugendschutzbestimmungen! Das bestätigte die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM). Der KJM-Vorsitzende Wolf-Dieter Ring sagte, dass die Gefahren des sexuellen Missbrauchs im Internet durch diese Sendung “ein Stück weit breiter diskutiert” und neue Zielgruppen erreicht würden.

Vergangene Woche sprach der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann bei einem Symposium der Initiative “White IT” in Hannover mit Fachleuten von Polizei und Wirtschaft über die Bekämpfung von Kinderpornografie und Kindesmissbrauch jenseits medialer Show-Effekte. Im Rahmen der Veranstaltung wurde “Tatort Internet” mehrfach kritisiert — so forderte die EU-Abgeordnete Sabine Verheyen (CDU) von den Medien “gehaltvolle Information” und setzte hinzu: “Damit meine ich nicht, was in der letzten Zeit über den Äther gegangen ist”.

Die Lokalredaktion Hannover jedoch ignorierte die Veranstaltung nahezu komplett und lud Minister Schünemann zum gemeinsamen Fernsehgucken, um seine Meinung zu “Tatort Internet” zu erfahren. Schünemanns durchaus differenzierte Antworten (“Eine ehrenwerte Idee.”, “Fahndung ist Aufgabe der Polizei, nicht von TV-Reportern.”) fasste “Bild” in der Überschrift so zusammen:

Innenminister über TV-Jagd auf Kinderschänder: "Dieser dunkle Bereich gehört ins Licht der Öffentlichkeit"

Diesen Dienstag teilte die Kommission für Zulassung und Aufsicht der Landesmedienanstalten (ZAK) mit, dass “Tatort Internet” gegen den Rundfunkstaatsvertrag verstoßen habe: In den beiden ersten Folgen seien die potentiellen Täter nicht hinreichend unkenntlich gemacht worden, “so dass sie von ihrem sozialen Umfeld durchaus identifizierbar waren”.

Zahlreiche Medien berichteten über die Entscheidung der ZAK — in “Bild” ist dazu nichts zu finden.

Mit Dank an a Friend.

Focus  etc.

Hilfe, die Mohammedaner kommen! (2)

Die Meldung, dass die meisten Neugeborenen in England und Wales im vergangenen Jahr “Mohammed” genannt worden seien, hat über zwei Wochen gebraucht, um im vermeintlichen Nachrichtenmagazin “Focus” anzukommen. Auf dem Weg dahin ist sie älter geworden. Richtiger nicht.

Mohammeds Siegeszug in England. Der Prophet der Muslime ist auf dem Vormarsch in Großbritannien. Der meistgewählte Jungenname für Neugeborene in England und Wales lautete im Jahr 2009 zum ersten Mal Mohammed. Offiziell gaben die Angestellten des Büros für nationale Statistiken zwar an, der traditionell britische Name Oliver liege an erster Stelle, gefolgt von Jack, Mohammed komme erst auf Platz 16. Nur waren die Statistiker einem Irrtum aufgesessen und hatten zwölf verschiedene Schreibweisen des Prophetennamen - bespielsweise Muhammad oder Mohammad - getrennt gewertet.

Also noch einmal: Die Statistiker sind, anders als die beiden (!) Autoren des “Focus”, keineswegs einem “Irrtum aufgesessen”; es war einfach ihre Methode, die unterschiedlichen Schreibweisen von Namen getrennt zu zählen. Fasst man sie aber zusammen, muss man das natürlich nicht nur bei Mohammed/Muhammad tun, sondern zum Beispiel auch bei Oliver/Olli, Harry/Henry usw. Zählt man dann entsprechend durch, liegen Oliver und Harry aber wieder vor Mohammed.

Ihre Falschmeldung, Mohammed sei 2009 der beliebteste Jungenname in England und Wales gewesen, haben bis heute weder die Nachrichtenagenturen dpa und AFP noch Medien wie “Spiegel Online”, “Welt Online”, die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” oder die “Financial Times Deutschland” korrigiert.

Mit Dank an Kai!

Primärquellen, Sonntagszeitung, Griechenland

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Journalisten und Primärquellen – Managergehälter”
(marcmichels.blogspot.com, Marc Michels)
“Nutzt endlich mal die verdammten Primärquellen!”, ruft Marc Michels Journalisten, Bürgern und Politikern entgegen. Während ein Bericht der “Thüringer Allgemeinen Zeitung” über Managergehälter auf den “Focus” verweist, schreibt “Bild”: “Eine neue Umfrage macht deutlich…”. Dabei seien die betreffenden Informationen schlicht frei im Internet verfügbar.

2. “Kachelmann-Verfahren: Schweizer Zeitung wirft Befangenheit auf”
(morgenweb.de, M. Wirth, A. Lin, J. Gruler)
In ihrer neusten Ausgabe äußert die “Sonntagszeitung” “Zweifel an der Unabhängigkeit des Richters” im Fall Jörg Kachelmann. Einige Regionalblätter vermeldeten darauf, “Vater und Richter seien im gleichen Verein und würden sich gut kennen”, was “zahlreiche seriöse deutsche Tageszeitungen und sogar die berühmten Nachrichtenmagazine Spiegel und Stern” sofort aufnahmen. Der betreffende Richter, Michael Seidling, dementiert und gibt an, weder die Klägerin noch ihren Vater überhaupt zu kennen.

3. “Im Würgegriff der Parteien”
(echo-online.de, Klaus Thomas Heck)
Klaus Thomas Heck sieht die öffentlich-rechtlichen Sender von den Parteien stark beeinflusst. Die Folge: Es ergießen sich “auf beiden Seiten telegene Gesichter in inhaltsarmen Worthülsen, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Man kennt sich, ist einander viel zu nah und hat sich vor der Kamera nichts zu sagen. Ergebnis ist meist journalistisch wie politisch der kleinste gemeinsame Nenner.”

4. “Mehr Mut zur Zensur”
(nzz.ch, Rainer Stadler)
Rainer Stadler fürchtet, dass “unterhalb der offiziellen Medienangebote”, also in den Kommentarspalten, “bizarre Parallelgesellschaften” entstehen. “Wer interessante Publikumsmeinungen finden will, muss darum oft durch kniehohen Wortmüll stapfen.” Er empfiehlt, kommerzielle Wege zu prüfen: “Wenn eine Website als Blitzableiter für Enttäuschte oder als Auffangbecken für Unterbeschäftigte dient, sollte man doch daraus eine Geschäftsidee entwickeln können.”

5. “Griechenland: Tödlicher Terror gegen Journalisten”
(focus.de, Wassilis Aswestopoulos)
Journalist Sokrates Giolias wird “im Athener Vorort Ilioupolis” von mehreren Attentätern vor seinem Haus erschossen. “Giolias war wie viele andere Journalisten auf Webseiten autonomer, extremistischer Gruppen als zu eliminierender Klassenfeind erwähnt worden.”

6. “Why Journalists Make Mistakes & What We Can Do About Them”
(poynter.org, Mallary Jean Tenore, englisch)
“Misspelled names and typos are among the more basic errors journalists make. But there’s another type of error that is harder to correct: when journalists miss the story completely.”

Journalisten: Ein Berufsstand meldet sich krank

“Die Welt” berichtet in ihrer heutigen Ausgabe:

Die Arbeitnehmer fehlten in den ersten sechs Monaten laut den neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegen, 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit – das sind zehn Prozent mehr als im vergleichbaren Vorjahreszeitraum.

Diese Behauptung ist insofern falsch, als es in den Statistiken gar nicht um die Sollarbeitszeit geht, sondern um den Anteil der Pflichtversicherten, die am 1. eines Monats krankgeschrieben sind.

Autor Christoph B. Schiltz hätte gewarnt sein müssen. Etwa durch den Hinweis, den das Bundesgesundheitsministerium deutlich sichtbar im Vorlauf seines Berichts untergebracht hatte:

Krankenstand = Arbeitsunfähig kranke Pflichtmitglieder in % der Pflichtmitglieder ohne Rentner, Studenten, Jugendlichen und Behinderten, Wehr-, Zivil- und Dienstleistende bei der Bundespolizei, landwirtschaftliche Unternehmer, Alg II- sowie Vorruhestandsgeldempfänger / Stichtag jeweils 1. des Monats

Oder durch die Pressemitteilung, die das Ministerium im Vorjahr veröffentlichen musste, um den Schaden einzudämmen, den Schiltz angerichtet hatte, weil er (damals schon wiederholt) den gleichen Fehler gemacht hatte — und der natürlich von anderen Medien munter weiterverbreitet wurde.

Auch die anderen Medien hätten also gewarnt sein können, als die Vorabmeldung der “Welt” bei ihnen einging. Sie waren es nicht:

Im Durchschnitt hätten die Arbeitnehmer 3,58 Prozent der Soll-Arbeitszeit gefehlt, berichtete die Zeitung “Die Welt” vorab aus ihrer Montagausgabe unter Berufung auf neueste Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums.
(Reuters)

Die Arbeitnehmer fehlten einem Bericht der Zeitung «Die Welt» zufolge in der Zeit von Januar bis Juni 2010 im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit – das ist ein Anstieg um zehn Prozent gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum (3,24 Prozent der Sollarbeitszeit). Das Blatt beruft sich auf die neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums.
(AFP)

Die Krankenstände in den deutschen Betrieben sind nach einem Bericht der Zeitung «Die Welt» in den ersten sechs Monaten 2010 auf den höchsten Halbjahresstand seit fünf Jahren geklettert. Die Arbeitnehmer fehlten in der Zeit von Anfang Januar bis Ende Juni im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit.
(dpa)

Die Arbeitnehmer hätten in der Zeit von Januar bis Juni 2010 im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit gefehlt, hieß es.
(epd)

Die Arbeitnehmer fehlten in der Zeit von Januar bis Juni 2010 im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies berichtet die Tageszeitung “Die Welt” (Montagausgabe) unter Berufung auf die neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums (BMG).
(AP)

Die Arbeitnehmer hätten in der Zeit von Januar bis Juni 2010 im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit gefehlt, hieß es unter Berufung auf Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums.
(FAZ.net)

Die Arbeitnehmer fehlten zwischen Januar und Juni im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit, berichtet die Zeitung unter Berufung auf die neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums, die die Krankenstände aller gesetzlich versicherten Arbeitnehmer umfassen.
(“Spiegel Online”)

Die Arbeitnehmer fehlten in der Zeit von Anfang Januar bis Ende Juni im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit.
(Bild.de)

Die Arbeitnehmer fehlten von Januar bis Juni im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit.

Das ist ein Anstieg um zehn Prozent gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum (3,24 Prozent der Sollarbeitszeit), wie die Zeitung “Die Welt” unter Berufung auf die neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) berichtet.
(“RP Online”)

Besonders bemerkenswert daran: Die ominösen Statistiken, “die der WELT vorliegen” und auf die sich “das Blatt beruft”, sind schon länger für jeden zugänglich auf der Webseite des Gesundheitsministeriums einzusehen (PDF). Ein halbwegs erfahrener Computernutzer braucht fünf Sekunden um festzustellen, dass das Wort “Sollarbeitszeit” im ganzen Dokument nicht ein einziges Mal auftaucht.

Immerhin tagesschau.de hat es geschafft, die Statistik richtig zu lesen — und lässt einen Ministeriums-Sprecher gleich die begrenzte Aussagekraft der Statistik kommentieren.

Das Ministerium selbst sah sich abermals gezwungen, eine Stellungnahme zu veröffentlichen, die die Interpretationen des Herrn Schiltz in ihre Schranken weist. Inzwischen sei man ein wenig resigniert: “Das passiert jedes Mal”, beklagte sich eine Sprecherin auf unsere Anfrage hin.

Seit dem Vormittag kursieren jetzt auch einzelne korrekte Meldungen der Nachrichtenagenturen. Offiziell korrigiert wurden die alten Versionen aber alle nicht.

Mit Dank an Matthias B.

Nachtrag, 22.40 Uhr: “Spiegel Online” hat den Fehler korrigiert und den Artikel mit einem Hinweis versehen — zumindest den diesjährigen Artikel, wenn auch nicht den von 2009.

2. Nachtrag, 20. Juli: dpa hat inzwischen eine Korrektur seiner ursprünglichen Meldung verschickt.

Mehr zu Christoph B. Schiltz und seiner jahrzehntelangen eigenwilligen Statistikinterpretation:

Blumenkohl, Eier, Jolie

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Blumenkohl billiger”
(sprengsatz.de, Michael Spreng)
Michael Spreng über einen “Bild”-Redakteur, der dem Ministerium für Staatssicherheit seinen Einfluss demonstrierte, in dem er dafür sorgte, dass eine Meldung, der Blumenkohl werde billiger, zweimal nacheinander abgedruckt wurde.

2. “Schleichwerbung oder nicht Schleichwerbung, das ist hier die Frage!”
(klatschkritik.blog.de, Antje Tiefenthal)
In der Zeitschrift “Jolie” verhilft Visagist Boris Entrup zu “Hollywood-Lips” mit “Star-Appeal”. “Doch wo Boris Entrup ist, kann der Kosmetikhersteller Maybelline Jade nicht weit weg sein. Und siehe da, gleich im Vorspann zum Artikel taucht der Firmenname auf. Dann noch einmal unter einem Zitat von Boris Entrup.”

3. “Journalistische Vergütungsregeln unexplained”
(filmjournalisten.de, Julian)
Julian weiß nicht recht, was er mit einem Flyer vom DJV zu Vergütungsregeln anfangen soll. “Dass es sich bei der Einheit für die Auflage um ‘Exemplare’ oder ‘Stück’ handelt, kann ich mir ja noch zusammenreimen, aber ob die mir zustehenden Summen Cent oder Euro bedeuten ist mir ebenso unbekannt wie die Frage, ob diese pro Zeichen, Wort, Zeile, Absatz, Artikel, Arbeitsstunde, Arbeitstag oder sonstwas bedeuten. Rein theoretisch könnte es sich bei der Vergütung also auch um Käselaibe pro Schaltjahr handeln oder um Kinokarten pro Quartal.”

4. Interview mit Wolfram Weimer
(fr-online.de, Joachim Frank und Daland Segler)
Der neue “Focus”-Chefredakteur Wolfram Weimer appeliert “an die Verlage, auf Qualität zu setzen” – das sei auch eine Frage der wirtschaftlichen Vernunft. “Qualität, Glaubwürdigkeit, Evidenz. Hier müssen wir investieren – die Journalisten wie auch die Verlage.”

5. “Shock as EU says: ‘You can still buy a dozen eggs if you want'”
(tabloid-watch.blogspot.com, englisch)
Die Sonntagsausgabe der “Daily Mail” titelt: “EU to ban selling eggs by the dozen”. Ein Statement der EU dagegen: “Selling eggs by the dozen, for example, will not be banned.”

6. “Allah, Allah, Allah …Goooooooooool”
(blogs.taz.de/arabesken, Karim El-Gawhary, Videos)
“Deutschland-England auf arabisch.”

Indiras Heiße-SMS-Ausschlachtung gestoppt

Gestern hatten wir noch berichtetet, dass der TV-Moderator Jörg Kachelmann vor dem Kölner Landgericht gegen weitere Medien vorgehen wollte, heute wissen wir, wen es diesmal erwischt hat:

Eine einstweilige Verfügung erging gestern gegen Bild.de, das unter Berufung auf den “Focus” (dem diese Art der Berichterstattung schon vor zehn Tagen verboten worden war) Details aus den Ermittlungsakten wiedergegeben und auf Basis von Aussagen der Frau, die Kachelmann der Vergewaltigung beschuldigt, über das mögliche Strafmaß für den Wetterexperten spekuliert hatte.

Eine weitere einstweilige Verfügung erging gegen die gedruckte “Bild” und ihre gestrige Titelgeschichte:

50 heiße Flirt-SMS: So baggerte Jörg Kachelmann Popstar Indira an

Die Sängerin Indira Weis, die seit längerem ihr Privat- und Berufsleben in “Bild” ausbreitet, erklärte in einem halbseitigen Artikel und einem Video auf Bild.de, sie könne sich nicht vorstellen, “dass so ein charmanter und liebevoller Mann wie Jörg Kachelmann eine Frau vergewaltigt haben soll.”

Und wie charmant und liebevoll Jörg Kachelmann ihrer Ansicht nach ist, meinte die vor sieben Jahren aus der Castingband Bro’Sis ausgestiegene Sängerin mit einigen ihrer angeblich “50 heißen Flirt-SMS von Kachelmann” im Wortlaut belegen zu können bzw. müssen.

Die Pressekammer des Landgerichts Köln entschied gestern auf Antrag Kachelmanns, dass es “Bild” und Bild.de verboten ist, derart private SMS weiter zu verbreiten. SMS, “die zudem in keinerlei Zusammenhang mit den strafrechtlichen Vorwürfen gegen Herrn Kachelmann stehen”, wie Kachelmanns Anwalt Prof. Ralf Höcker betont.

Das Rechtsmittel der einstweiligen Verfügung kommt zum Einsatz, weil Bild.de bzw. die Axel Springer AG auf eine vorherige Abmahnungen hin keine Unterlassungserklärung abgegeben hatten. Für jeden Fall der Zuwiderhandlung droht ihnen nun ein Ordnungsgeld von bis zu* 250.000 Euro. Zur Zeit sind die beanstandeten Artikel noch online.

*) Nachtrag / Korrektur, 12. April: Ein mögliches Ordnungsgeld muss nicht automatisch 250.000 Euro betragen. Dies ist vielmehr die festgelegte Obergrenze.
Welt Online  etc.

Der endlich gefallene Hartz-IV-Groschen

Die Geschichte von der Kellnerin, die 109 Euro weniger verdient als ein Hartz-IV-Empfänger, ist eine Geschichte voller Missverständnisse, die nicht nur von staunenden Medien, sondern auch von einem kommentarfreudigen Außenminister handelt:

Es war einmal am 6. Februar ein Artikel in der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung”, der besagte, im Niedriglohnbereich hätten bestimmte Arbeitnehmer am Monatsende weniger in der Tasche als ein vergleichbarer Hartz-IV-Empfänger. Obwohl die “FAZ” bei diesen Berechnungen wichtige Faktoren außer Acht gelassen hatte (BILDblog berichtete), wurden diese unvollständigen Zahlen von zahlreichen Medien unter grob vereinfachenden Schlagzeilen wie “Diese Jobs bringen weniger Geld als Hartz IV” (“Welt Online”) oder “In diesen Branchen lohnt sich die Arbeit nicht mehr!” (Bild.de) weiterverbreitet.

Aus letztgenanntem “Bild”-Artikel wiederum bediente sich laut einem FDP-Sprecher Guido Westerwelle für seinen mittlerweile legendären Kommentar in der “Welt”. Um die Gefahr des Abdriftens in “spätrömische Dekadenz” zu unterstreichen, nannte der FDP-Chef das Beispiel einer verheirateten Kellnerin mit zwei Kindern, die angeblich 109 Euro weniger verdient als ein Hartz-IV-Empfänger — denn genauso stand es in der Tabelle mit den unvollständig berechneten Zahlen, die “Bild” aus dem “FAZ”-Artikel übernommen hatte. Es folgten ein großes Medienecho und eine hitzige Debatte über alles mögliche, nur nicht über den Wahrheitsgehalt der Westerwelle’schen Beispielrechnung.

Als Anfang März der Paritätische Wohfahrtsverband eine Gegenstudie veröffentlichte, in der die Zahlen der “FAZ” widerlegt wurden, berichteten verschiedene Medien darüber — so auch “Die Welt”. Dort stand unter anderem, dass Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, beklagte, Guido Westerwelle berufe sich auf “äußerst dubiose Rechenbeispiele” (BILDblog berichtete). Für “Welt” und andere Medien ein Anlass, diese Vorwürfe zu überprüfen? Nein.

Erst als zu Beginn dieser Woche – und damit über sechs Wochen nach dem ersten “FAZ”-Bericht – eine kleine Anfrage der Partei “Die Linke” ergab, dass Westerwelles Rechenbeispiel nicht stimmig ist, berichtet “Welt Online” — wieder ohne selbst nachzuprüfen:

Sozialstaatsdebatte: Hat Westerwelle bei Hartz IV falsch gerechnet?

FDP-Chef Guido Westerwelle ist nach einem Zeitungsbericht zu Beginn seiner Hartz-IV-Debatte im Februar von falschen Voraussetzungen ausgegangen.

Und wenn die Journalisten noch nicht gemerkt haben, dass sie das alles erst möglich gemacht haben, dann tappen sie noch heute im Dunkeln.

Mit Dank an Gesine D.

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