Es ist an der Zeit, dass endlich einmal über die wirklich wichtigen Themen gesprochen wird: Sollten sich Männer die Achselhaare rasieren? Zu welcher Zeit trugen Frauen wie viel Intimbehaarung? Tut Haarentfernung mit Wachs wirklich so weh, wie alle sagen?
Das People-Magazin “Gala” war so frei, sie mit dem Schauspieler und Brusthaarrasierer Til Schweiger zu diskutieren.
Zum Beispiel so:
Kommen wir zur Enthaarung bei Frauen. Eine Frau mit Achselhaaren hätte bei Ihnen vermutlich wenig Chancen, oder?
Achselhaare bei einer Frau finde ich jetzt nicht so prickelnd.Aber wenn ich die Frau total lieben würde und sie die lustigste und tollste Person wäre, die mir je begegnet ist, dann würde ich auch eine Zeitlang über die Achselhaare hinwegsehen. Irgendwann würde ich sie dann wahrscheinlich heimlich nachts im Bett abschneiden …(lacht)
Das etwas unmotiviert wirkende Interview ist mit dieser schwer unmotiviert wirkenden Fotomontage bebildert:
Andererseits ist Schweiger Testimonial von Braun, was das ganze Interview in einem etwas anderen Licht erscheinen lässt.
Und weil “Gala” ein paar Krumen aus dem Gespräch vorab von dapd weiterverteilen ließ, berichten auch “Spiegel Online”, abendblatt.de oder “Focus Online” davon, dass sich Schweiger seine Brusthaare entferne — “mit dem Rasierer”.
Mit Dank an Marcel Sch. und an Jeannine J. für den Ausriss.
Jürgen Trittin, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, ist gestern bei einer öffentlichen Veranstaltung vor zahlreichen Zuschauern in Hannover angegriffen worden.
Schock für Grünen-Bundesfraktions-Chef Jürgen Trittin (56)! In Hannover wurde er von einem Maskierten mit weißer Farbe beworfen – offenbar versteckt in einer Torten-Attrappe!
Während der Veranstaltung sprang ein maskierter Unbekannter auf die Bühne und warf einen tortenähnlichen – offenbar mit heller Farbe gefüllten – Gegenstand auf den Politiker.
(Pressemitteilung der Polizei Hannover, 22. September, 21.20 Uhr)
Trittin bei Theaterprojekt mit Torte beworfen
(dpa, 22. September, 21.21 Uhr)
Grünen-Politiker Jürgen Trittin ist bei einer Podiumsdiskussion mit Farbe übergossen worden. In anderen Berichten ist von einem Tortenwurf die Rede.
Trittin war (…) von einem maskierten Unbekannten mit einer mit heller Farbe gefüllten Torte beworfen worden.
(dapd, 22. September, 22.28 Uhr)
Angriff mit Farb-Torte auf Trittin
(“Berliner Kurier”, 23. September)
Ein mit weißem Einweganzug gekleideter Mann (ca. 20), der sein Gesicht hinter einer Maske versteckt haben soll, sprang auf den Politiker zu und warf einen tortenähnlichen Gegenstand, der mit heller Farbe gefüllt war, auf Trittin.
(“B.Z.”, 23. September)
(“Bild”, 23. September)
Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin ist bei einer Podiumsdiskussion am Mittwochabend in Hannover mit einer Farbtorte beworfen worden.
(taz.de, 23. September)
Auch ob der tortenähnliche Gegenstand mit heller Farbe oder Joghurt gefüllt war, sei derzeit noch unklar, sagte ein Polizeisprecher am Donnerstag auf dapd-Anfrage.
(dapd, 23. September, 9.20 Uhr)
Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin ist bei einem Theaterprojekt zur Anti-Atom-Bewegung gestern Abend in Hannover mit einer Torte beworfen worden. Die Polizei geht davon aus, dass sie mit Joghurt gefüllt war.
(dpa, 23. September, 11.00 Uhr)
Doch kurz nach Diskussionsbeginn sprang gegen 19.20 Uhr plötzlich ein Maskierter auf die Bühne, warf eine mit heller Farbe gefüllte Torte auf den Grünen-Politiker und rannte davon.
(dapd, 23. September, 11.40 Uhr)
Von hinten kommt ein weiß gekleideter Mann angeschossen, wirft dem Grünen-Politiker einen Gegenstand, der aussieht wie eine Torte, ins Gesicht. Der weiße Brei tropft Trittin über Gesicht und Schulter, es soll sich um Farbe oder Joghurt handeln, die Polizei ermittelt.
Ein Sprecher der Hannoveraner Polizei erklärte uns um 15.50 Uhr, sie gehe derzeit davon aus, dass es sich um eine “Torte aus Joghurt” bzw. eine “Torte, wo Joghurt drin war” (“vergleichbar einer Käsetorte, nur eben mit Joghurt statt Frischkäse”) gehandelt habe. Die Überreste des Objekts seien beim Eintreffen der Beamten bereits entfernt worden, es gebe aber keine Hinweise, die für Farbe sprächen.
Mit Dank an Christian B., Christian G., Tobias S. und ich.
Amerikanischer Verschwörungstheoretiker müsste man sein! Dann würden die europäischen Medien über einen berichten — wenn es denn das ist, was man will.
Doch von Anfang an: Das “International Center for 9/11 Studies” ist ein gemeinnütziger Verein, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die Anschläge vom 11. September 2001 besser verständlich zu machen. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Einsturz des WTC 7, jenes Gebäudes des World Trade Centers, das – anders als die beiden berühmten Türme – nicht selbst von einem Flugzeug getroffen wurde. Hinter dem Kollaps dieses Hochhauses vermuten Verschwörungstheoretiker eine gezielte Sprengung.
Das “National Institute of Standards and Technology” (NIST) wiederum ist eine Normierungsbehörde in den Vereinigten Staaten, die auch zahlreiche bautechnische Untersuchungen zum Einsturz des World Trade Centers durchgeführt hat. Im Jahr 2008 veröffentlichte das NIST eine Untersuchung über den Einsturz von WTC 7, deren ursprüngliche Fassung nach zahlreichen Hinweisen des Zentrums für 9/11-Studien noch einmal etwas überarbeitet werden musste. Es gibt also seit längerem ein gewisses Spannungsfeld zwischen dem Verein und der Behörde.
Unter Berufung auf den Freedom of Information Act, der jedem US-Bürger Einblick in Regierungsdokumente erlaubt, hat das 9/11-Zentrum vom NIST die Herausgabe von Gutachten, Plänen und Detailzeichnungen statischer Elemente des WTC 7 gefordert (PDF) — und die Herausgabe aller Videos und Fotos, die bei der Untersuchung des Einsturzes durch das NIST verwendet wurden.
In einer Pressemitteilung schreibt das 9/11-Center, dass das NIST das Material erst herausgegeben habe, nachdem das Center Klage eingereicht habe. Diese Klage ist ein bisschen nebulös: Außer in dieser Pressemittelung lässt sich kein Hinweis dazu finden. Auch lässt das Center selbst offen, ob es einen direkten Zusammenhang zwischen Klage und Herausgabe gibt oder nur einen zeitlichen, und ob es tatsächlich zu einer Verhandlung oder gar einem Urteil gegen das NIST kam.
Als das Material, das eine bunte Sammlung von Fotos und Videos von privaten Nutzern und Medien darstellt, dem Verein vor kurzem dann endlich übergeben wurde, fing der an, es auf YouTube hochzuladen — eine Nachricht, die in den USA außer den üblichen Verschwörungswebseiten näherungsweise niemanden interessierte.
Ganz anders in Europa: Mit der Internetseite der “Neuen Zürcher Zeitung” fing letzte Woche alles an. Die erklärte erst noch einigermaßen korrekt:
[Die Videos] gleichen im wesentlichen denjenigen, die schon am 11. September 2001 und kurz danach im Fernsehen gezeigt wurden. Darunter befinden sich aber auch die Szene [sic] aus der Sicht von direkt Beteiligten, etwa von Feuerwehrmännern oder von Eingeschlossenen.
Nur um dann hinzuzufügen:
Die Aufnahmen blieben während Jahren unter Verschluss.
Eine Formulierung, die so oder so ähnlich von allen anderen Medien übernommen wurde, die aber grob irreführend ist: Das NIST hatte die Aufnahmen ja nur für seine Untersuchungen zusammengetragen, nicht etwa beschlagnahmt. Die Originalaufnahmen existierten weiterhin und wurden teilweise veröffentlicht (zum Teil live am 11. September 2001 selbst) und teilweise eben nicht. Bei der Menge des Materials lässt sich schlecht sagen, was davon schon veröffentlicht wurde und was nicht, und anders als Texte lassen sich Videos auch nur bedingt googeln. Schon unter den Clips, die das 9/11-Center mit seiner Pressemitteilung online gestellt hat, finden sich aber prompt zwei, die schon seit mindestens drei Jahren auf YouTube zu sehen sind.
“NZZ Online” zeigte die beiden seit Jahren veröffentlichten Videos als zwei von drei Beispielen für die “bisher unbekannten Videos”. Und weil die Formulierungen zur Klage gegen das NIST in der Pressemitteilung etwas vage waren und der Autor von “NZZ Online” auf jede weitere Recherche verzichtete, wie er uns auf Anfrage mitteilte, lautet die Formulierung dort ähnlich vage:
Die Veröffentlichung erfolgt unter dem Druck einer Klage des International Center for 9/11 Studies.
Obwohl sich “NZZ Online” ausschließlich auf das Center for 9/11 Studies selbst stützt, reichte der gute Ruf der “Neuen Zürcher Zeitung” einigen Journalisten offenbar aus, die Angaben ungeprüft zu übernehmen. Und damit existierte plötzlich eine neue, vermeintlich seriösere Quelle:
Wie die “Neue Züricher Zeitung” in ihrem Internetangebot berichtet, seien die Videos in den vergangenen neun Jahren durch das National Institute of Standards and Technology (Nist) unter Verschluss gehalten worden.
Auch Bild.de (BILDblog berichtete), express.de, FAZ.net und “Focus Online” schlossen sich an. “Spiegel Online” erklärte gar, die Veröffentlichung der “jahrelang unter Verschluss gehaltenen” Aufnahmen sei “vor Gericht” erzwungen worden, wofür sich nun wirklich überhaupt kein Beweis mehr finden lässt.
Und weil ein paar europäische Journalisten auf der Suche nach einer guten Story und beeindruckenden Bildern auf ernstzunehmende Recherche verzichtet haben, glauben jetzt ein paar Millionen Internetnutzer, dass sie bisher unbekannte Videos gesehen haben, für die amerikanische Verschwörungstheoretiker vor Gericht gezogen sind.
Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.
Nachtrag, 15. September: Das International Center for 9/11 Studies hat uns gegenüber bestätigt, dass es keine gerichtliche Entscheidung gegen das NIST gegeben hat. Ob ein direkter Zusammenhang zwischen der eingereichten Klage und der Freigabe des Bildmaterials durch das NIST besteht, ließ das Center selbst offen.
Seit mehr als zwei Wochen sitzt der Meteorologe und TV-Moderator Jörg Kachelmann in Untersuchungshaft. Zwei Wochen, die mit immer hilfloserer Berichterstattung gefüllt wurden, denn noch immer gibt es nichts Neues, worüber man schreiben könnte.
Außer vielleicht die Entscheidung des Kölner Landgerichts in der vergangenen Woche, das der Focus Magazin GmbH verbot, “Details zum angeblichen Tat- und Nachtatgeschehen sowie zur rechtsmedizinischen Untersuchung der Anzeigenerstatterin aus der Ermittlungsakte im Kachelmann-Verfahren” zu veröffentlichen, so Kachelmanns Anwalt.
Der “Focus” hatte in seiner Ausgabe vom 29. März ausführlich aus den Ermittlungsakten zitiert und zahlreiche Details aus den Aussagen der Frau wiedergegeben, die Kachelmann wegen Vergewaltigung angezeigt hatte. Noch am Veröffentlichungstag erwirkte Jörg Kachelmanns Anwalt Prof. Ralf Höcker vor der Pressekammer des Landgerichts Köln eine einstweilige Verfügung gegen die Zeitschrift.
Ermittlungsakten gehören nicht in die Öffentlichkeit, denn Ermittlungsverfahren werden bei der Staatsanwaltschaft und vor Gericht geführt und nicht in den Medien. Derart verfrühte Spekulationen zum Tathergang und zur Schuldfrage können das Bild eines Beschuldigten in der Öffentlichkeit so massiv beeinträchtigen, dass auch ein späterer Freispruch diesen Makel nicht mehr ausräumen kann.
Der “Focus” hat den Artikel, der im Inhaltsverzeichnis mit “Die Vorwürfe gegen Jörg Kachelmann sind schlimmer als bislang bekannt” beworben worden war, aus dem eigenen Online-Archiv und aus weiteren Archiven entfernt, doch die Details aus den Ermittlungsakten sind noch immer in Umlauf: Denn noch ehe das Heft am Kiosk lag, hatte der “Focus” schon mal vorab eine “Kurzfassung” veröffentlicht, die von anderen Medien dankbar aufgegriffen wurde. Und weil die einstweilige Verfügung nur für die Focus Magazin GmbH gilt, kann im Moment auch noch bei “Focus Online” stehen, was die Print-Kollegen in den Ermittlungsakten gefunden haben.
Kachelmanns Anwalt Ralf Höcker erklärte uns gegenüber, dass seine Kanzlei zahlreiche Unterlassungserklärungen versandt habe, die von fast allen Medien unterschrieben worden seien. Und tatsächlich haben Webseiten wie Sueddeutsche.de oder general-anzeiger-bonn.de inzwischen ihre Artikel zum Thema offline genommen. Andere Onlinemedien gaben auf Anfrage an, noch keine Anwaltspost bekommen zu haben.
Der Sprecher des Landgerichts Köln berichtete uns, dass weitere Verfahren von Jörg Kachelmann gegen verschiedene Medien anhängig seien.
Nachtrag, 8. April: Nach einer weiteren einstweiligen Verfügung gegen “Focus Online” ist der Artikel auch dort offline genommen worden.
2. Nachtrag, 14. Mai: Auch nach der mündlichen Verhandlung hat das Landgericht Köln die Einstweilige Verfügung gegen den “Focus” aufrecht erhalten. Die Presse habe “aus gutem Grund” kein Einsichtsrecht in die Ermittlungsakten eines Strafverfahrens — die Akten seien vielmehr durch das Strafgesetzbuch gegen unbefugte Preisgabe geschützt, wie Kachelmanns Anwalt aktuell vermeldet.
Es ist ja schon erstaunlich, aus was für Kleinigkeiten Bild.de manchmal so Meldungen fabriziert:
Und wie die dann auch noch anmoderiert werden:
Was ist denn auf der Insel los? Ausgerechnet der England-Profi, der eine der heißesten Spielerbräute überhaupt an seiner Seite hat, wäre gern eine Jungfrau!
Peter Crouchs (29) irre Beichte.
Auf die Frage, was er statt eines Fußballers gern geworden wäre, erwiderte der England-Star: “Eine Jungfrau.”
Wer soll ihm das denn glauben? Schließlich ist er mit Unterwäsche-Model Abigail Clancy (24) zusammen. Und die ist das fleischgewordene Gegenteil von keuscher Jungfräulichkeit.
Glauben muss ihm das niemand, weil er es nicht gesagt hat. Und wenn er es gesagt hätte, dann nicht jetzt, sondern “einmal”.
Bild.de hat diese gewagte Übersetzung eines älteren Zitats offensichtlich vom Sportinformationsdienst (sid), der anlässlich Crouchs Wahl zum lustigsten Mann im britischen Sport folgende Gaga-Meldung veröffentlichte:
Der englische Fußball-Nationalstürmer Peter Crouch wurde zum lustigsten Sportler Großbritanniens gewählt. Den Sieg bei der Wahl verdankt Crouch seiner Antwort auf die Frage, was er statt eines Fußball-Profis gerne geworden wäre. “Eine Jungfrau”, hatte Crouch darauf geantwortet.
“Na, wenn man mit so was lustigster Sportler wird, kann es um den berühmte britischen Humor ja nicht zum Besten bestellt sein”, dachte bei “RP Online”, “Focus Online” oder Handelsblatt.com offenbar niemand, und so wurde diese merkwürdige Geschichte munter weiterverbreitet, wenn auch nicht derart aufgeblasen wie bei Bild.de.
The 6ft 7in striker won top billing for a cheeky response to the question: “What would you be if you weren’t a footballer?”
The Spurs targetman replied: “A virgin.”
Auf die Frage, was er wäre (nicht: geworden wäre), wenn er nicht Fußballer wäre, hatte der nicht sonderlich attraktive Stürmer also geantwortet: (noch) Jungfrau.
Nehmen wir mal für einen Moment an, 36,4 Prozent aller Fehler, die wir hier im BILDblog protokollieren, würden anschließend von den jeweiligen Medien korrigiert. Wenn dieser Sachverhalt anschließend in einem Artikel aufgegriffen und mit der Überschrift “Ein Drittel aller Berichte in deutschsprachigen Medien wird hinterher korrigiert” versehen würde — dann wäre das so falsch, dass wir schon wieder etwas zum Aufschreiben hätten.
Aber jetzt husch husch runter von dieser Meta-Ebene und hinein ins Gewühl: Das ARD-Magazin “Report Mainz” berichtet, dass “jeder dritte Widerspruch der Hartz-IV-Empfänger” erfolgreich war.
Oder, wie dpa den Sachverhalt richtig zusammenfasst:
Die Bundesagentur für Arbeit hat vergangenes Jahr rund 280 000 Hartz-IV-Bescheide nachbessern müssen. Von Januar bis November wurden bei der BA 766 700 Widersprüche bearbeitet. 36,4 Prozent davon wurden ganz oder teilweise stattgegeben, bestätigte die Nürnberger Behörde einen Bericht des ARD-Magazins “Report Mainz”.
Deutlich knackiger liest sich der Sachverhalt in der Überschrift diverserOnline–Medien:
Knackiger — aber falsch: Nicht ein Drittel der Bescheide war fehlerhaft. Ein Drittel der Bescheide, gegen die Widerspruch eingelegt wurde, war fehlerhaft. Ein gravierender Unterschied, den eine erschütternd große Zahl von Medien (anscheinend auf der Grundlage einer Meldung der Nachrichtenagentur APN*) nicht verstand:
Bei “Spiegel Online” war man ebenfalls erst auf dem Holzweg, hat sich aber inzwischen korrigiert:
*) APN ist das Kürzel des Deutschen Auslands-Depeschendienstes DAPD, der früher zu AP gehörte, jetzt zum ddp, und zwischenzeitlich auch “APD” abgekürzt wurde (vgl. hier).
Mit Dank an Stephan K. und Tim N.
Nachtrag, 11.20 Uhr: Inzwischen haben heute.de und “Focus online” ihre Überschriften und Einleitungen korrigiert und auf diesen Umstand hingewiesen.
2. Nachtrag, 18.25 Uhr: Die Nachrichtenagentur DAPD, die ihre Meldungen unter der Agenturkennung APN versendet, weist den Verdacht zurück, dass der Fehler bei ihr gelegen haben könnte. Ihre Meldung trug die korrekte Überschrift “Behörden mussten knapp 280.000 Hartz-IV-Bescheide korrigieren”.
Diese Schlagzeile ist aus der “Bild” vom 20. Mai 2009:
Und diese aus der “Bild” von heute:
Und wenn Sie jetzt meinen, dass dieser Herr Schäfer von der “Bild”-Zeitung entweder sehr leicht zu schockieren ist oder ein sehr schlechtes Gedächtnis hat (oder beides), dann haben Sie natürlich Recht.
Allerdings ist er damit nicht allein. Weil die alte Geschichte, dass auf viele Kurzarbeiter Steuer-Nachzahlungen zukommen, heute noch einmal auf der Titelseite der “Bild”-Zeitung steht, halten sie diverse andere Medien reflexartig für eine Neuigkeit. Die Nachrichtenagentur AFP meldete eilig noch mitten in der Nacht: “‘Bild’: Hunderttausende Kurzarbeiter müssen Steuern nachzahlen”. Die Konkurrenz von AP, die schon im Mai unter Berufung auf “Bild” berichtet hatte: “Hunderttausende Kurzarbeiter erwartet höhere Steuerlast”, titelte diesmal: “Finanzamt bittet Hunderttausende Kurzarbeiter zur Kasse”.
“Focus Online”, “Spiegel Online” — sie alle trotten kopflos hinterher und meldeten unter Bezug auf “Bild” aufgeregt, was lange bekannt ist und in den vergangenen Monaten vielfach aufgeschrieben wurde.
Manchmal sind es gerade scheinbar besonders unterschiedliche Partner, die perfekt zusammenpassen. Eine journalistische Zeitschrift und eine kommerzielle Kontaktbörse zum Beispiel.
Die Illustrierte “Focus” macht seit längerer Zeit fleißig Schleichwerbung für die Partnervermittlung Elitepartner.de. Die Kontaktbörse gehört der Tomorrow Focus AG, der Internet-Tochter des Burda-Verlages, der den “Focus” herausgibt.
Bei Veröffentlichungen, die ein Eigeninteresse des Verlages betreffen, muss dieses erkennbar sein.
Dem Branchendienst “Meedia” ist aufgefallen, dass “Focus” und “Focus Online” immer wieder auf “ElitePartner” verweisen, ohne die geschäftliche Verquickung offenzulegen, wie es der Pressekodex eigentlich vorschreibt. Eine “Focus”-Sprecherin sagte gegenüber “Meedia”, man achte selbstverständlich “immer darauf, transparent zu berichten und gerade im Falle von Beteiligungen unseres Unternehmens diese auch zu erwähnen”. Wenn dieser Hinweis fehle, sei das “wohl aus Platzgründen ausnahmsweise nicht möglich gewesen”.
Der “Focus” berichtet vor allem gerne über sinnlose Ergebnisse nicht-repräsentativer Umfragen, die das Schwesterunternehmen “ElitePartner” in großer Zahl veröffentlicht, um in die Medien zu kommen. (Ähnlich aussageschwache Umfrageergebnisse des Konkurrenzunternehmens “Parship” haben es seit Jahren nicht mehr in den “Focus” geschafft.) Gelegentlich äußert sich die Illustrierte aber auch über “ElitePartner” direkt und schreibt zum Beispiel:
Spezialisiert auf Klasse: Mittels eines Persönlichkeitstests verkuppelt die Hamburger Partneragentur Elitepartner.de anspruchsvolle Singles mit festen Bindungsabsichten.
Ab dem 1. November 2010 gibt es einen neuen elektronischen Personalausweis, der einen elektronischen Chip enthält, auf dem die Daten des Besitzers sowie optional sein Fingerabdruck und eine sichere Kennung für den Internetgebrauch gespeichert werden.
“Bild” “erklärt” heute den neuen Ausweis und zeigt, wie er aussehen wird — natürlich “BILD-Exklusiv”:
Aufmerksame BILDblog-Leser ahnen natürlich längst: Den Ausweis gab es schon lange vorher zu sehen.
Aber selbst, wenn “BILD-exklusiv” im Sinne von “erstmalig in ‘Bild'” gemeint gewesen sein sollte, befindet sich die Zeitung mit der Behauptung auf dünnem Eis: Vor mehr als fünf Monaten hat sie ihn bereits in ihrem Online-Auftritt präsentiert.
Immerhin: “Bild” scheint das erste Foto vom neuen Ausweis zu haben, auf dem nicht “Test” steht.
Seit der britische Sänger und Gitarrist Peter Doherty mit Modell Kate Moss liiert war, ist er für die Boulevardpresse faktisch Freiwild. Wo immer der durchaus von Drogen- und Alkoholsucht geplagte Sänger der Babyshambles auftritt (oder eben nicht auftritt), reibt sich eine Boulevardjournalistin die Hände — denn so einfach kommt man selten an eine Geschichte, in deren Überschrift man ungestraft und ungeprüft von einem “Skandalrocker” wechselweise auch “Rüpelrocker” schwadronieren darf. Und wenn auf diesen ohnehin schon absurden Nährboden der Erregung noch ein wenig Nazismus fällt, dann macht die deutschsprachige Boulevardpresse offenbar gleich den Schampus auf und die Lexika zu. Anders lässt sich kaum erklären, welch einem skandalgetünchten Taumel der hiesige Gossenjournalismus in den letzten Tagen versank.
Noch mal grölt [Peter Doherty] “Deutschland, Deutschland über alles”. Diese erste Strophe des Deutschlandliedes war unter Hitler zur Nationalhymne gemacht worden. Diese Nazi-Hymne erklingt im Bayerischen Rundfunk!
Der schweizerische “Blick” will gar eine “Hymne an Hitler” vernommen haben.
Überall sonst tut man sich Doherty und Nationalsozialismusverdacht zum Trotz deutlich schwerer, das Wesen dieses Skandals zu erläutern: Die “Bild”-Zeitung konnte gerade noch einen “Eklat” ausmachen, ohne allerdings erklären zu können, worin dieser denn nun bestanden haben soll. Die Nachrichtenagentur dpa konnte sich gerade noch zur wenig skandalträchtig klingenden Schlagzeile “Doherty singt live im Radio Deutschlandlied” durchringen. Ähnlich vage vermeldete die Nachrichtenagentur AFP am Montag “Rocker Doherty stimmt bei Konzert erste Deutschlandlied-Strophe an”, liefert aber freundlicherweise in der Dachzeile einen Baukasten mit den Stichworten “D/Musik/Leute/Nationalsozialismus” — auf dass ich jede Redaktion ihren Skandal selber bastle.
Noch ahnungsloser als die deutschen Boulevardmedien erwiesen sich nur die Schreiber des britischen Popmagazins “NME”, die fantasierten:
Doherty’s performance at they [sic!] city’s On3 Festival was reportedly cut short when he began singing a right-wing version of the German national anthem “Das Deutschlandlied” that has been prohibited since the end of the Second World War.
(Dohertys Auftritt beim Münchner On3-Festival wurde laut Berichten verkürzt, als er anfing, eine rechte Version der deutschen Nationalhymne ‘Das Deutschlandlied’ zu singen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verboten ist.)
Was war passiert? Peter Doherty, der derzeit als Solokünstler durch Deutschland tourt, war als Überraschungsgast beim Münchener “On3”-Festival des gleichnamigen Jugendsenders des Bayerischen Rundfunks eingeladen worden. Wie nüchtern Doherty zu diesem Zeitpunkt gewesen sein mag, darüber kann nur spekuliert werden. Allerdings war er offenbar klar genug, um zu verstehen, dass ein Teil des Publikums — vor allem wohl die Fans der Deutschrockband Kettcar — seinen Auftritt nicht sonderlich goutierte, worauf sich eine Art Dialog entwickelte zwischen dem zeitweilig in Krefeld aufgewachsenen und also des Deutschen mächtigen Sänger (“Ich spreche Deutsch. Ich verstehe — ich bin kein Dummkopf”) und dem desinteressierten bis krakeelenden Publikum. In diese schon recht aufgebrachte Atmosphäre hinein, schrammelte Doherty die Akkorde der österreichischen Kaiserhymne und sang “Deutschland, Deutschland über alles. Das Publikum, zurecht empört und entnervt, begann zu buhen, so dass der Bayerische Rundfunk Dohertys Auftritt bald beendete.
Soweit, so banal. Ob der Fauxpas nun dem möglichen Delirium Dohertys, fehlender Sensibilität oder mangelndem Wissen zuzuordnen ist, darüber mag ja diskutiert werden. Dass es aber recht unwahrscheinlich ist, dass jemand wie Doherty, der die britische Anti-Rassismus-Initiative “Love Music, Hate Racism” unterstützt, mit nationalsozialistischem Gedanken- oder Kulturgut sympathisiert, das hätte man recherchieren können. Wenn man gewollt hätte.
Denn der Skandal liegt im Falle der ersten Strophe des Deutschlandliedes nicht im Gegenstand, sondern weitgehend im Auge der Betrachter. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der 1841 auf der damals britischen Insel Helgoland den Text des “Liedes der Deutschen” auf die Melodie der österreichischen Kaiserhymne schrieb, zu unterstellen, sein Lied sei “eine Hymne an Hitler” oder eine “Nazi-Hymne”, das trifft den Kern nicht. Mit gleichem Recht könnte man auch die Autobahnen als “Nazi-Straßen” oder “Wege für Hitler” bezeichnen. Zudem Hoffmanns “Lied der Deutschen” nicht von Hitler, sondern vom ersten demokratisch gewählten deutschen Kanzler Reichspräsidenten — dem SPD-Politiker Friedrich Ebert — zur Hymne gemacht worden war. Hätte Pete Doherty das Horst-Wessel-Lied angestimmt, ja, dann wären die Nazi-Hitler-Überschriften vielleicht gerechtfertigt gewesen. Hat er aber nicht.
So aber funktioniert die Dialektik der Aufregung: Weil sich das Große im Kleinen spiegelt und Mahner ein ständiges “Wehret den Anfängen” raunen, wird aus einer Mücke ein Tyrannosaurus Rex gemacht. Unter dem Banner von Wehrhaftigkeit und Aufklärung geistert dann der so schön gruselige Geist des Dritten Reiches durch die billigen Gazetten, selbst wenn er da so gar nichts zu suchen hat. Und ganz im Sinne der Aufmerksamkeit darf sich die Boulevardjournalistin zweimal freuen — einmal, wenn sie sich den Skandal herbeischwadroniert. Und einmal, wenn sich der Protagonist dann für den vermeintlichen Skandal entschuldigt. Und so geschah es, und sueddeutsche.de, “Focus Online”, “RP Online”, die “Welt”, die “tz” und all die anderen, sie hatten wieder eine Seite mit irgendeinem Unsinn gefüllt und zugleich das gute, aber unberechtigte Gefühl, etwas im Kampf gegen den Faschismus getan zu haben.