Suchergebnisse für ‘falschmeldung’

Unwort des Jahres, Assanges Hinrichtung auf Raten, Herrenwitz

1. Selbstverliebte Männer
(taz.de, Ingo Arzt)
Eine Jury aus vier SprachwissenschaftlerInnen und einem Journalisten hat entschieden: Unwort des Jahres ist “Klimahysterie” (Pressemitteilung als PDF). Im Interview mit dem “Spiegel” erklärt Jurychefin Nina Janich, warum das Wort irreführend und diskreditierend sei: “Wenn man die Klimadebatte mit einem Wort wie Hysterie in Zusammenhang bringt, dann diskreditiert man die Debatte, indem man sie pathologisiert und wie eine kollektive Psychose behandelt. Damit werden in der Konsequenz alle, die sich für Klimaschutz engagieren, als Hysteriker abgestempelt. Irreführend ist der Begriff deshalb, weil die Klimadebatte auf Basis wissenschaftlicher Ergebnisse geführt wird, mit dem Wort Hysterie wird sie aber in einen Krankheitsbereich verschoben.” “taz”-Redakteur Ingo Arzt kommentiert: “Auch FDP-Neoliberale, CDU-Konservative und diverse Journalisten nutzten es, denn sie eint mit den Rechtspopulisten das dumpfe Gefühl, dass ihnen da jemand die argumentative Lufthoheit geraubt hat. ‘Hysterie’ als Kampfbegriff gegen eine größtenteils weibliche Klimabewegung lag da auf der Hand.”

2. Gericht stärkt Faktenchecks von Correctiv
(correctiv.org, David Schraven)
Wie “Correctiv”-Chef David Schraven berichtet, habe das Landgericht Mannheim die Klage des Blogs “Tichys Einblick” auf eine einstweilige Verfügung abgewiesen (Urteil als PDF). Bei “Tichys Einblick” hatte man sich an “Correctivs” Faktencheck für Facebook gestört. Die Entscheidung sei auf 45 Seiten ausführlich und umfassend begründet. Trotzdem hätten Tichys Anwälte angekündigt, in Berufung gehen zu wollen. Der Streit wird also vermutlich fortgeführt.

3. Julian Assanges Hinrichtung auf Raten
(deutschlandfunkkultur.de, Milosz Matuschek)
Nach einem langjährigen Aufenthalt in der Botschaft Ecuadors sitzt Wikileaks-Gründer Julian Assange nun in einem Hochsicherheitsgefängnis in Großbritannien. Der UN-Folterbeauftragte Nils Melzer spreche in diesem Zusammenhang von “psychologischer Folter”. Trotz dieses Vorwurfs würden sich nur wenige Journalistenverbände für Assanges Freilassung einsetzen. Der Publizist und Jurist Milosz Matuschek spricht in seinem Kommentar von einem Totalversagen: “Wäre Julian Assange in einem Keller über Monate eingesperrter, gequälter Hund — wir hätten vermutlich längst einen Prozess gegen die Tierquäler, eine Verschärfung des Tierschutzgesetzes und ‘Donnerstage für Doggen’-Demos gesehen. Doch Assange ist — zu seinem Pech — leider ein Mensch. Und zwar einer, der sich bei Mächtigen nicht beliebt gemacht hat.”

4. Liebe Kollegen der @berlinerzeitung …
(twitter.com, Julius Betschka)
Julius Betschka wirft der “Berliner Zeitung” in einem Twitter-Thread vor, zum wiederholten Mal Falschmeldungen über die Mordrate in Berlin zu verbreiten: “Jeder macht Fehler. Man kann sich korrigieren und entschuldigen. Aber anstelle einer Entschuldigung wird hier eine unhaltbare These mit wiederholt falschen Fakten und besonders markigen Worten verteidigt. Verstehe ich nicht, liebe @berlinerzeitung.”
Lesehinweis zum Hintergrund: Berlin doch nicht Mordmetropole Europas (uebermedien.de, Stefan Niggemeier).

5. “Deutschland sticht absolut heraus”
(deutschlandfunk.de, Bettina Schmieding, Audio: 6:30 Minuten)
Bettina Schmieding hat sich im Deutschlandfunk mit der Wissenschaftlerin Susanne Fengler unterhalten, die sich mit ihrem Co-Autor Marcus Kreutler die Berichterstattung über Geflüchtete genauer angeschaut hat (“Stumme Migranten, laute Politik, gespaltene Medien”). In Deutschland werde zwar intensiv über Migration und Flucht berichtet, aber dies erfolge sehr selektiv. So kämen Migranten und Geflüchtete nur in einem Viertel der Berichte als zentrale Akteure vor. Auch Herkunft und Kontext sowie der Status — Geflüchteter oder Migrant — seien oft kein Thema, so Fengler.

6. Herrenwitz: Keine Partei wird anteilig häufiger von Männern gewählt
(einfacherdienst.de)
Welche Partei wird laut offizieller Wahlstatistik des Bundeswahlleiters am meisten, nämlich zu zwei Dritteln, von Männern gewählt? Ist es die AfD? Oder vielleicht die FDP? Nein, es handelt sich dabei um die Satirepartei Die Partei mit ihren Spitzenleuten Martin Sonneborn und Nico Semsrott. Das krasse Geschlechter-Ungleichgewicht bei der Wählerschaft soll sich jedoch ändern. Laut Semsrotts Pressesprecherin Isabel Prößdorf stelle man sich nun “immer die Frage, ob Frauen aber auch Personen, die sich selbst als divers bezeichnen würden, genug in unsere Aktionen miteingebunden sind und sich angesprochen fühlen.” Männer seien dabei egal, “die werden von der AfD und CSU schon genug vertreten.”

Neurechte Schmähgemeinschaft, Mordmetropole, “Homo-Milieu”

1. Berlin doch nicht Mordmetropole Europas
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Ist Berlin tatsächlich die “Hauptstadt der Tötungsdelikte”, wie es kürzlich in den Blättern des Berliner Verlags hieß? Stefan Niggemeier ist der Meldung nachgegangen und kommt, so viel kann verraten werden, zu einem gänzlich anderen Schluss.

2. Die Schmähgemeinschaft der neuen Rechten
(netzpolitik.org, Daniel Laufer)
Über mehrere Jahre habe der Sprachwissenschaftler Joachim Scharloth Artikel und Kommentare rechter Internetportale gesammelt und ausgewertet. Die neue Rechte definiere sich vor allem über Beleidigungen und herabwürdigende Sprache und könne daher als “Schmähgemeinschaft” bezeichnet werden. Allein für Angela Merkel habe Scharloth über 1000 Beschimpfungen gefunden. Insgesamt habe er bei seiner Bestandsaufnahme mehr als 30.000 unterschiedliche Schimpfwörter erfasst.
Weiterer Lesehinweis: Soleimani: «Tot» und «Tötung» oder «Mord» und «ermordet»: “Der Sprachgebrauch deckt auf, welche Medien nicht im Klartext informieren, wenn es um die befreundeten USA geht.” (infosperber.ch, Urs P. Gasche).

3. Im ZDF ist das “Homo-Milieu” noch lebendig
(queer.de)
Obwohl seit Jahren kritisiert, tauchen in Medienberichten und Pressemitteilungen immer noch Begriffe wie “Homo-Milieu”, “Homosexuellen-Milieu” oder “Schwulen-Milieu” auf. Jüngst sei der Begriff in einer (laut queer.de ansonsten empfehlenswerten) ZDF-Doku über den Mord an Walter Sedlmayr verwendet worden.

4. Ohne bösen Vorsatz
(deutschlandfunk.de, Mirjam Kid & Annika Schneider, Audio: 7:29 Minuten)
Der Deutschlandfunk hat mit “Buzzfeed”-Redakteur Marcus Engert über eine Falschmeldung beziehungsweise ungenaue Meldung der Leipziger Polizei und deren Folgen unterhalten. Engerts Rat: Journalistinnen und Journalisten sollten die Social-Media-Accounts der Polizei nicht als privilegierte Quellen betrachten und entsprechende Meldungen gegenrecherchieren.

5. Stimmungsmache im Netz: “Die Empörungsmaschinerie sprang an”
(t-online.de, Nicole Diekmann)
Eine offensichtlich ironisch gemeinte Bemerkung bescherte der ZDF-Korrespondentin Nicole Diekmann vor einem Jahr einen gewaltigen Shitstorm. Gerade haben wir mit dem Satireliedchen von der Oma als “Umweltsau” einen ähnlichen Vorgang erlebt. Diekmann attestiert den Sendern Fehleinschätzungen und eine katastrophale Krisenkommunikation: “Keine Frage danach, ob womöglich eine Agenda hinter einem Shitstorm steckt. Ob im Netz dazu aufgerufen wurde, in Zuschauerredaktionen anzurufen. Stattdessen hektischer Aktionismus, der eben denen in die Hände spielt, die die Algorithmen verstanden haben und sie zu ihren Zwecken zu nutzen wissen. Noch immer fällt man auf sie herein und macht im Zweifel alles nur noch schlimmer mit aussichtslosen Versuchen, die neuen Dynamiken mit den traditionellen Instrumenten in den Griff zu kriegen. In etwa so, als würde man ein Pferd vor ein liegengebliebenes Auto spannen.”

6. Glaskugelige Kaffeesatzlesereien 2020
(indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
Thomas Knüwer hat turnusgemäß die Glaskugel aus dem Schrank geholt und wirft einen Blick auf mögliche Medienentwicklungen des bevorstehenden Jahres. Er geht dabei auch schonungslos seine Prognosen des Vorjahres durch: Knüwer kommt auf einen Endstand von 1,5 zu 7,5 Punkten (“So, verzeihen Sie das Wort, beschissen daneben lag ich noch nie”). Wie auch immer die nächste Auswertung ausfällt: Seine aktuellen Prognosen sind dennoch lesenswert.

Herdentrieb: Immer den anderen hinterher!

Im zurückliegenden Jahr haben wir hier im BILDblog wieder viel über Fehler geschrieben. Aber was genau sind das eigentlich: Fehler? Wie häufig passieren sie? Wie entstehen sie? Und was können Redaktionen gegen sie tun? Unser Autor Ralf Heimann hat sich in einer achtteiligen Serie mit all dem Falschen beschäftigt. Heute Teil 4: der Herdentrieb.

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Zwei Bars in einer fremden Stadt. Beide liegen direkt nebeneinander. Die eine ist voll, in der anderen ist so gut wie gar nichts los. Wenn Menschen sich nun für eine der Bars entscheiden müssen, werden die meisten in die vollere gehen, weil sie sich von der Annahme leiten lassen: Die Leute werden schon wissen, warum sie nicht in der anderen sitzen.

In Situationen, in denen Menschen unsicher sind, orientieren sie sich an anderen. Sie ahmen deren Verhalten nach. Der Effekt heißt “social proof”. Er erklärt sich dadurch, dass Menschen in Unsicherheit offenbar zu der Überzeugung neigen, andere wüssten besser Bescheid als sie. So kann schnell ein Herdenverhalten entstehen.

Als am 17. Januar 2017 die Meldung die Runde machte, das Bundesverfassungsgericht habe die NPD verboten, war genau das passiert. Viele Redaktionen hatten Journalistinnen und Journalisten nach Karlsruhe geschickt, die sich mit Gerichtsberichterstattung nicht auskannten. Sie glaubten, schon das Urteil zu hören, als die Richter noch die Anträge vorlasen. Dann kamen die ersten Eilmeldungen, andere Medien zogen nach. Die falsche Nachricht verbreitete sich mit einem enormen Tempo und musste später wieder eingefangen werden.

Dass die Lage unübersichtlich ist und nicht klar scheint, wie etwas zu deuten oder zu verstehen ist, kommt im Journalismus ständig vor. Im besten Fall recherchieren Journalistinnen und Journalisten dann, um sich mit den Hintergründen vertraut zu machen. Im zweitschlechtesten Fall schauen sie, was die Kolleginnen und Kollegen so schreiben und orientieren sich daran. Im schlechtesten Fall hatten die Kolleginnen und Kollegen das auch schon getan.

Wenn immer weniger Zeit zur Verfügung steht, wächst die Gefahr, dass Fehleinschätzungen sich verbreiten, weil alle sich gegenseitig aufeinander verlassen. Besonders groß ist diese Gefahr, wenn Journalistinnen und Journalisten nicht dazu verpflichtet sind, Informationen zu überprüfen, weil sie zum Beispiel von Nachrichtenagenturen geliefert werden. Dann passiert etwas, das man aus Situationen kennt, in denen man sich von einem Navigationsgerät oder Ortskundigen leiten lässt. Das eigene Denken nimmt sich eine Pause. Im Journalismus verbreiten sich unter diesen Umständen Meldungen, die man unter normalen Umständen für mindestens seltsam gehalten hätte:




Doch auch, wenn Agenturen nicht beteiligt sind, kommt es immer wieder zu verhängnisvollen Domino-Effekten, weil Journalistinnen und Journalisten zu sehr aufeinander vertrauen.

Im Mai 2013 schrieb Detlef Esslinger in einem Kommentar für die “Süddeutsche Zeitung”:

Was man den Medien vorwerfen kann, ist ein zweifacher Herdentrieb. Zum einen arbeitet jede Zeitungs- und Fernsehredaktion grundsätzlich nach der Devise: “Dazu müssen wir auch was haben.” Zum anderen reihen Autoren sich lieber gefahrlos in einen Chor ein, als eine Solostimme zu wagen — wie andere Akteure übrigens auch.

In Esslingers Text ging es unter anderem um die Berichterstattung, die dazu geführt hatte, dass Christian Wulff als Bundespräsident zurücktrat.

Der Journalistik-Professor Hans Mathias Kepplinger schildert in seinem Buch “Totschweigen und Skandalisieren – Was Journalisten über ihre eigenen Fehler denken”, wie es dazu kam: Es hatte alles angefangen mit einem Bericht in der “Bild”-Zeitung über einen Kurzurlaub Wulffs zusammen mit dem Unternehmer David Groenewold. Der hatte das Hotel mit seiner Kreditkarte bezahlt. Vier Jahre später, als die Berichterstattung über die Reise bereits in vollem Gange war, habe Groenewold das Personal im Hotel gebeten, ihm die Belege auszuhändigen, was der Versuch hätte sein können, die Unterlagen verschwinden zu lassen. Der “Bild”-Artikel war laut Generalstaatsanwalt der Auslöser für die Aufhebung von Wulffs Immunität.

Nach Christian Wulffs Darstellung hatte David Groenewold lediglich um Kopien gebeten, um auf Fragen von Journalistinnen und Journalisten genaue Antworten geben zu können. Hans Mathias Kepplinger schreibt:

Falls das zutrifft, würde es sich bei dem Bild-Artikel um die folgenschwerste Falschmeldung der deutschen Nachkriegsgeschichte handeln.

Der Rest ist bekannt. Vergessen oder nie gelesen haben allerdings viele, dass danach mehrere Chancen verstrichen, die Sache richtigzustellen. Stefan Niggemeier hat damals in seinem Blog ausführlich nachgezeichnet, wie Wulff über eine Falschmeldung stürzte, aber es im Grunde keinen kümmerte — und sich später mehrere Gelegenheiten ergaben, die ganze Geschichte zu erzählen, zum Beispiel zur Veröffentlichung von Wulffs Buch, die aber alle ungenutzt blieben.

Es mögen unglückliche Zufälle gewesen sein, aber es sieht nicht nach Zufällen aus — eher nach Journalistinnen und Journalisten, die “sich lieber gefahrlos in einen Chor ein[reihen], als eine Solostimme zu wagen.”

Der Journalist Michael Götschenberg hat über den Fall Wulff ein Buch geschrieben. Es heißt: “Die Geschichte hinter der Geschichte und die Rolle der Medien über die Amtszeit des Bundespräsidenten Christian Wulff”. Er sieht auch Parallelen zu anderen Fällen. Im Interview mit der “taz” sagte Götschenberg:

Man konnte das sehr gut in den ersten Stunden der Berichterstattung über den Fall Edathy beobachten, gerade bei den Online-Medien. Da wurden innerhalb von Stunden aus Vermutungen plötzlich Fakten. Das Schlimmste ist, dass alle voneinander abschreiben. Niemand macht sich mehr die Mühe zu überprüfen, ob überhaupt zutreffend ist, was behauptet wird. Das war bei Wulff auch so.

Der Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl hat den Eindruck, dass das in den vergangenen Jahren noch schlimmer geworden ist. In seinem Buch “Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde” schreibt er:

Herdentrieb und Ingroup-Tunnelblick, sprich: Orientierung an der Berichterstattung der Wettbewerber, mag es im Journalismus immer gegeben haben. In Zeiten der Digitalisierung, in denen Redaktionen kaputt gespart werden, wird das allerdings zur Regel.

Dass Menschen sich an anderen Menschen orientieren, kann auch auf andere Weise zum Problem werden, etwa beim Phänomen des Gruppendenkens (Groupthink). Dabei einigen sich mehrere Menschen in einer Gruppe auf eine Entscheidung, die kein einzelnes Mitglied so getroffen hätte. Das passiert auch in Redaktionen — zum Beispiel, wenn Kritik nicht erwünscht ist.

Wenn es in Redaktionskonferenzen darum geht, sich selbst auf die Schulter zu klopfen, und kritische Anmerkungen dabei eher stören, führt das zwangsläufig dazu, dass kaum noch jemand etwas Kritisches sagt. Dazu genügt es oft schon, wenn der Chef oder die Chefin empfindlich auf Kritik reagiert. So etabliert sich schnell eine Atmosphäre, in der auch schlechte Entscheidungen durchkommen, weil Harmonie wichtiger erscheint als die Sache.

Ein ähnliches Phänomen beschreibt die Schweigespirale von Elisabeth Noelle-Neumann. Sie besagt: Bevor Menschen sich äußern, schätzen sie das Meinungsklima ab. Je stärker die zu erwartenden Widerstände sind, desto eher schweigen sie — aus Angst vor der Isolation.

In einer digitalen Welt bringt das Menschen nicht zum Schweigen. Sie weichen einfach aus und verbreiten ihre Meinung dort, wo Zustimmung zu erwarten ist. In Milieus, in denen Nähe eine große Rolle spielt, etwa in Vereinen oder in der Nachbarschaft, ist das Ausweichen schwer. Dort kommt es leichter zu einer Spiralwirkung. Journalistinnen und Journalisten verstärken das mit ihrer Berichterstattung, wenn sie ihre Meinung mit dem allgemeinen Meinungsklima synchronisieren — aus Überzeugung oder um im eigenen Milieu nicht alleine in einer Ecke zu stehen.

Der Medienwissenschaftler Michael Haller hat dieses ein Phänomen im Jahr 2015 in Deutschland beobachtet. In der Studie “Die ‘Flüchtlingskrise’ in den Medien” (PDF), die Haller zusammen mit einem Forscherteam für die Otto-Brenner-Stiftung erstellt hat, beschreibt er, wie Journalistinnen und Journalisten von Tageszeitungen (nur um die geht es in der Studie) das Narrativ der “Willkommenskultur” zum moralischen Gebot erhoben und damit andere Meinungen automatisch mit dem Stempel “unmoralisch” versahen. Haller schreibt:

In der Tagespresse wurde unseren Befunden zufolge das Narrativ Willkommenskultur als moralisch intonierte Verpflichtungsnorm “top-down” vermittelt. (…) Annähernd 83 Prozent aller Zeitungsberichte vermittelten das Leitbild Willkommenskultur in einem positiven oder mehr positiven Sinne. Über Bedenkenträger oder Skeptiker wurde eher selten berichtet.

Vor allem die lokale und regionale Presse kommt in der Studie sehr schlecht weg:

Die Besonderheit der Regionalpresse, dass sie [die Journalistinnen und Journalisten] in ihren Lokalteilen die Nah- und Alltagswelt der Menschen durchleuchten und Vorgänge wie auch Probleme quasi hautnah recherchieren, wurde im Jahr 2015 für die Flüchtlingsthematik nicht genutzt. Die vergleichsweise wenigen Texte, die Probleme oder Konflikte thematisierten, sind fast ausnahmslos Veranstaltungsberichte und insofern keine journalistischen Eigenleistungen. Nur in seltenen Ausnahmefällen wurden abweichende Positionen wie auch behördliche Fehlleistungen untersucht oder Fachwissen eingeholt und ausgewertet oder dialogisch aufbereitet.

Überhaupt sieht es so aus, dass Journalistinnen und Journalisten sehr viel Wert darauf legen, was andere Journalistinnen und Journalisten über sie denken. Der Medienwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger schreibt:

Eine Ursache der Entstehung von berufsspezifischen Übereinstimmungen bei der Bewertung aktueller Fragen ist die extrem intensive Kollegenorientierung im Journalismus. Alle Journalisten verfolgen permanent die Berichterstattung aller ihnen relevant erscheinenden Medien, bilden sich ein Urteil über die Einschätzung der Lage durch Kollegen und orientieren sich an den publizierten Sichtweisen der von ihnen besonders geschätzten Medien.

Die Kollegenorientierung zeigt sich auch in der geringen Bereitschaft von Journalistinnen und Journalisten, sich untereinander zu kritisieren:

Journalisten sind deutlich weniger zur öffentlichen Kritik am beruflichen Fehlverhalten ihrer Kollegen bereit als Wissenschaftler und Techniker. Deshalb berichten sie — wie quantitative Analysen belegen — seltener über bekannte Missstände im eigenen Beruf als über bekannte Missstände in anderen Berufen

… schreibt Kepplinger. Und das ist eigentlich besonders paradox, denn während Journalistinnen und Journalisten bei Fehlern in anderen Berufen ihre Aufgabe darin sehen, Transparenz herzustellen, Missstände ans Licht zu bringen und offenzulegen, wenn Kollegen sich decken, ist gegenseitige Kritik unter Journalistinnen und Journalisten als “Kollegenschelte” verpönt. Wer sich widersetzt, gilt schnell als “Nestbeschmutzer”.

Inzwischen kann das nicht mehr verhindern, dass die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten öffentlich kritisiert wird. Diese Aufgabe übernimmt einfach das Publikum. Doch die Kollegenorientierung bleibt ein Problem.

Gegen bestimmte Herdentendenzen können Journalistinnen und Journalisten selbst etwas tun: Damit Kritik in Gruppen nicht einfach unerwähnt bleibt, weil niemand die Person sein möchte, der alles schlechtredet, kann jemand aus der Gruppe die Aufgabe zugewiesen bekommen, die Rolle des Advocatus Diaboli einzunehmen, der die gegnerischen Positionen vertritt und Zweifel äußert. Eine andere Möglichkeit, das Gruppendenken aufzubrechen, ist die Prä-mortem-Methode. Dabei besteht die Aufgabe darin anzunehmen, dass der schlimmste Fall bereits eingetreten ist, und im Rückblick die Frage zu beantworten: Wie konnte diese Katastrophe passieren?

Um nicht den Fehler zu machen, sich an anderen zu orientieren, obwohl die es selbst vielleicht auch gar nicht besser wissen, hilft dagegen oft schon ein sehr einfaches Mittel: nachfragen.

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Teil 1 unserer Serie “Kleine Wissenschaft des Fehlers” gibt es hier, Teil 2 hier und Teil 3 hier. Oder alle Teile auf einmal hier.

Der Bestätigungsfehler: Die Erwartung macht das Ergebnis

Im zurückliegenden Jahr haben wir hier im BILDblog wieder viel über Fehler geschrieben. Aber was genau sind das eigentlich: Fehler? Wie häufig passieren sie? Wie entstehen sie? Und was können Redaktionen gegen sie tun? Unser Autor Ralf Heimann hat sich in einer achtteiligen Serie mit all dem Falschen beschäftigt. Heute Teil 3: der Bestätigungsfehler.

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Der Arzt und Naturwissenschaftler Samuel Morton vermaß Mitte des 19. Jahrhunderts mehrere Tausend Schädel und zog daraus Rückschlüsse auf die Intelligenz von Menschen. Er behauptete, Belege für die Überlegenheit der “weißen Rasse” gefunden zu haben. 140 Jahre später untersuchte der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould die Ergebnisse und urteilte, sie seien ein “Mischmasch aus Pfusch und Mogelei”.

Ulrich und Johannes Frey schildern das Beispiel in ihrem Buch “Fallstricke – die häufigsten Denkfehler in Alltag und Wissenschaft”. Interessant ist es vor allem wegen der Pointe: Gould selbst fand in den Daten keinerlei Beweise für die These, dass Menschen verschiedener “Rassen” unterschiedlich intelligent sein könnten. Mortons Fehler erklärte er nicht durch Vorsatz oder Unaufmerksamkeit, sondern durch “durchgängige, einseitige Verzerrungen”. Später stellte sich allerdings heraus: Fehlerfinder Gould war genau der gleiche Fehler unterlaufen. Auch er hatte sich durchgängig verrechnet. Er selbst führte das auf seine Erwartungshaltung zurück. In einer späteren Auflage seines Buchs schrieb er, der Fehler “veranschaulicht auf meine Kosten das Kardinalprinzip des Buches”.

Und es gibt noch eine Pointe, um die wir den Text nach der Veröffentlichung ergänzt haben (hier in kursiver Schrift – Danke an Marc U. für den Hinweis), denn möglicherweise ist die Tatsache, dass dieses Beispiel sich verbreitet hat, Ergebnis des gleichen Denkfehlers.

Für eine Studie aus dem Jahr 2011, die im Buch von Ulrich und Johannes Frey (3. Auflage, 2011) noch nicht erwähnt ist, haben Wissenschaftler die Schädelsammlung von Samuel Morton neu vermessen und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass seine Daten korrekt waren. Sie stellen zwar in Frage, dass seine Erwartungen die Messungen verzerrt haben. Doch in einem Beitrag für das Magazin “New Scientist”, der im gleichen Jahr erschien, schreiben David DeGusta and Jason E. Lewis, zwei der Wissenschaftler, die an der Untersuchung beteiligt waren: “Goulds Studie und seine Ansicht, dass die Wissenschaft unweigerlich voreingenommen ist, wurde zur Konsensversion in der Wissenschaftsforschung. Goulds Behauptungen wurden selten oder nie in Frage gestellt.”

Das zeigt, wie tückisch dieses Phänomen ist: Wenn etwas gut ins Bild passt, werden wir schnell unkritisch. So schwer wäre es nicht gewesen, die Studie aus dem Jahr 2011 zu finden. Sie ist verlinkt in Samuel Mortons Wikipedia-Eintrag.

Das zugrundeliegende Prinzip nennt sich Bestätigungsfehler (Confirmation bias). Menschen bevorzugen Informationen, die zu ihren Überzeugungen passen. In einem “Geo”-Essay beschreibt Jürgen Schaefer eine Untersuchung des Neurowissenschaftlers Kevin Dunbar, der diese Verzerrung in Gehirnscans sichtbar gemacht hat: Informationen, die zu den eigenen Überzeugung passen, dürfen den frontalen Kortex passieren, alle übrigen werden abgewiesen.

Das führt dazu, dass Menschen immer neue Belege dafür finden, was sie eh schon denken — und sich dieses Wissen verfestigt. Das Phänomen ist unter Journalistinnen und Journalisten bekannt, und genau das ist Teil des Problems. Menschen, die den Bestätigungsfehler kennen, denken, sie wären vor ihm sicher (Bias blind spot). Doch das ist nicht der Fall. Er wirkt auch dann, wenn man ihn kennt. Samuel Morton ist also nicht allein mit dieser Schwäche.

Der Bestätigungsfehler ist allgegenwärtig. In den USA haben Untersuchungen zu verzerrten Darstellungen im Journalismus (Media bias) gezeigt, dass liberale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Medien tendenziell eher ein Übergewicht von konservativen Positionen ausmachen, während konservative Forscherinnen und Forscher eine Verzerrung hin zu liberalen Ansichten erkennen können.

Der deutliche Effekt der Erwartungshaltung zeigt den großen Einfluss vorgefasster Meinungen auf neutrale Daten

… schreiben Ulrich und Johannes Frey. Die Erwartung beeinflusst das Ergebnis. So funktioniert auch der Placebo-Effekt.

Menschen scheinen zudem eine Präferenz für Vertrautes zu haben. Das beschreibt der Besitztumseffekt (Endowment-Effekt). Wir schätzen den Wert von Gegenständen höher ein, wenn wir sie besitzen. Es deutet einiges darauf hin, dass das bei Informationen ähnlich ist.

Wir bevorzugen vertraute Informationen. Eine vertraute Information wird von uns als “wahre Information” behandelt

… schreiben Frey und Frey. Wenn wir eine neue Information erhalten und diese einer schon vorhandenen widerspricht, legen wir an die neue Information einen höheren Maßstab an als an die uns bekannte. Wir erinnern uns auch länger an all das, was unsere Meinungen stützt. Tests zeigen, “dass jeder Mensch bestätigende Daten bis zu drei Mal häufiger im Gedächtnis behält als falsifizierende”, so Frey und Frey.

Das begünstigt die Tendenz, bei einer Meinung zu bleiben, obwohl längst einiges gegen sie spricht. Im Journalismus verstärkt es die Neigung, an Thesen festzuhalten, wenn schon vieles darauf hindeutet, dass sie so nicht zutreffen können.

Studien zeigen, dass es nicht einmal hilft, Menschen darauf hinzuweisen, dass eine Information falsch ist (Conservatism bias). Unbewusst halten sie trotzdem an ihr fest. Die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai-Thi Nguyen-Kim beschreibt in einem Video ein Experiment, in dem Probandinnen und Probanden Abschiedsbriefe vorgelegt werden. Sie sollen einschätzen, ob die Briefe echt oder gefälscht sind. Unabhängig davon, ob sie wirklich richtig liegen, bekommen einige von ihnen die Rückmeldung, dass sie ein sehr gutes Gespür haben, während man anderen signalisiert, dass sie so gut wie immer falsch lagen. Im Anschluss klären die Versuchsleiter die Teilnehmerinnen und Teilnehmer darüber auf, dass alles nur inszeniert war, und bitten sie, einzuschätzen, wie gut sie wirklich waren. Das Ergebnis ist: Die Probandinnen und Probanden mit den positiven Rückmeldungen halten ihre wirkliche Leistung für überdurchschnittlich gut, die übrigen glauben, sie hätten eher unterdurchschnittlich abgeschnitten.

Das lässt Rückschlüsse auf die journalistische Arbeit zu. Es ist zum Beispiel ein Hinweis darauf, dass falsche Informationen nicht vollkommen dadurch aus der Welt geschafft werden können, dass man sie richtigstellt. Menschen korrigieren ihr Denken nur sehr langsam.

Der Bestätigungsfehler wirkt im Journalismus an vielen Stellen. Es fängt schon mit der Google-Recherche an. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen erzählt in seinem Buch “Die große Gereiztheit – Wege aus der kollektiven Erregung” von einer Untersuchung mit dem sperrigen Namen “Personal Web Search in the Age of Semantic Capitalism – Diagnosing the Mechanisms of Personalisation”. Forscher wollten herausfinden, wie der Google-Algorithmus die Recherche-Ergebnisse beeinflusst. Dazu legten sie Profile der Philosophen Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche und Michel Foucault an und trainierten Google jeweils mit Begriffen aus deren Büchern. Das Ergebnis:

Google personalisiert schon nach kurzer Zeit ziemlich radikal, vor allem jedoch im Feld der ersten zehn Suchergebnisse, die einem Nutzer angezeigt und aller Wahrscheinlichkeit nach geklickt werden. Im Durchschnitt waren 64 Prozent der Suchergebnisse spezifisch (…).

Personalisierte Suchergebnisse sind allerdings noch nicht einmal nötig, um Menschen zu den Ergebnissen zu führen, die sie suchen. Wer schon mal versucht hat, mithilfe von Google eine bestimmte Krankheit zu diagnostizieren, weiß: Mit so gut wie jedem Symptom lässt sich so gut wie jede Krankheit nachweisen. Und ungefähr so ist es bei der Recherche auch.

Das zeigt sich mitunter auch im Ergebnis. Die Medienwissenschafter Hans Mathias Kepplinger und Richard Lemke haben untersucht, wie Medien die Reaktorkatastrophe von Fukushima dargestellt haben (PDF). Eines ihrer Ergebnisse ist:

Je negativer sich Journalisten in den Meinungsformen äußerten, (…) desto eher kamen dort Politiker und Experten zu Wort, die die Kernenergie ablehnten und einen Ausstieg aus der Kernenergie verlangten.

Der Bestätigungsfehler wirkt natürlich auch beim Publikum, und das verstärkt den Effekt. Menschen sind zugänglicher für Nachrichten, die ihren Erwartungen entsprechen. Der Fehler ist eine Erklärung für den Erfolg von “Fake News”, Falschmeldungen oder falsch verstandenen Meldungen.

Das war zum Beispiel im April dieses Jahres zu beobachten, als die Nachricht “Die meisten Messerangreifer heißen Michael” aufgrund eines Missverständnisses die Runde machte. Die AfD hatte im saarländischen Landtag eine Anfrage gestellt, um zu erfahren, ob es auffällige Häufungen von bestimmten Vornamen bei Verdächtigen im Zusammenhang mit Messerattacken gibt. Es sah so aus, als hätte die Partei sich bei dem Versuch, ein rassistisches Vorurteil zu belegen, selbst entlarvt: Auf Platz 1 der Liste stand kein arabischer Name, sondern “Michael”. Viele teilten die Nachricht, weil sie wiederum AfD-Gegnern sehr gut ins Bild passte.

Später wies Stefan Niggemeier bei “Übermedien” darauf hin, dass es in der Liste nur um die Namen der deutschen Verdächtigen ging. Das stand zwar mitunter in den Meldungen. Aber viele hatten nur die Überschrift gelesen oder die Information ignoriert. Der Wunsch, die eigene Überzeugung bestätigt zu sehen, war stärker als der Zweifel.

Die Frage ist: Was kann man gegen den Bestätigungsfehler machen?

Zuallererst: sich bewusst machen, dass man ihm ausgeliefert ist. Sich zwingen, Dinge zu überprüfen, auch wenn sie offensichtlich erscheinen. Zweifeln. Der Philosoph und Publizist Daniel-Pascal Zorn schlägt vor:

Um der “Confirmation Bias” zu entgehen, muss man darauf achten, die eigene Vorannahme als Annahme und nicht schon als Tatsache zugrunde zu legen. Eine Annahme kann sich immer noch als falsch erweisen — eine Tatsache nicht mehr.

Für Journalistinnen und Journalisten bedeutet das: Sie sollten sich auch während ihrer Recherche immer wieder die Frage stellen: Stimmt meine These überhaupt? Kann es nicht auch anders sein? Und sie sollten bewusst auch nach Argumenten suchen, die gegen die Vermutung sprechen.

Immer wieder das eigene Handeln zu hinterfragen, schaltet den Bestätigungsfehler zwar nicht vollkommen aus, aber in vielen Fällen kann es Fehlschlüsse verhindern. Und für den Fall, dass der Bestätigungsfehler sich trotzdem durchsetzt, können Journalistinnen und Journalisten noch etwas anderes machen: offenlegen, was zu einer Verzerrung führen könnte. Kritische Verbindungen verraten. Dafür sorgen, dass Transparenz besteht.

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Teil 1 unserer “Kleinen Wissenschaft des Fehlers” gibt es hier. Und Teil 2 hier.

Heuristiken: Riskante Schleichwege fürs Denken

Im zurückliegenden Jahr haben wir hier im BILDblog wieder viel über Fehler geschrieben. Aber was genau sind das eigentlich: Fehler? Wie häufig passieren sie? Wie entstehen sie? Und was können Redaktionen gegen sie tun? Unser Autor Ralf Heimann hat sich in einer achtteiligen Serie mit all dem Falschen beschäftigt. Heute Teil 2: Heuristiken.

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Als Anfang des Jahres private Daten von Prominenten auf einer Internetseite auftauchten, war “Bild”-Chef Julian Reichelt sich sehr schnell sicher, wie alles gewesen sein musste. In Gabor Steingarts Podcast sagte er damals:

Ich glaube, was relativ klar ist: Das waren nicht ein oder zwei Jungs, die bei Pizza und Cola light im Keller gesessen haben, bisschen Computerspiele, bisschen Youtube und dann bisschen was gehackt haben und das dann aufbereitet haben. Das muss eine größere Struktur gewesen sein.

Am Ende stellte sich heraus: Reichelt hatte recht. Es waren tatsächlich nicht zwei Jungs gewesen, die ein bisschen was gehackt und dann aufbereitet hatten, es war nur einer.

Julian Reichelt ist dabei ein Fehlschluss unterlaufen, der Menschen immer wieder passiert — Journalistinnen und Journalisten sehr häufig, weil sie oft in Situationen geraten, in denen sie wenig wissen, aber trotzdem irgendetwas sagen müssen.

Wenn wichtige Informationen fehlen, um zu einer guten Einschätzung kommen zu können, müssen Menschen sich an etwas orientieren. Die verschiedenen Techniken, mit denen sie versuchen, im Nebel Halt zu finden, nennt man Heuristiken.

Menschen versuchen, sich in so einer Situation mit einer Handvoll Puzzleteilen ein vollständiges Bild zu machen. In sehr vielen Fällen gelingt das auch. Wenn man auf einem Puzzleteil eine Nase erkennen kann, ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass auf den übrigen Mund und Augen zu sehen sein werden.

Wahrnehmungspsychologen nennen diese Methode Repräsentativitätsheuristik, weil Menschen dabei von einer einzelnen repräsentativen Information auf die Gesamtheit schließen. Im Falle des Puzzlestücks kann das Gesamtbild natürlich auch aus eintausend Nasen bestehen. Aber um das herauszufinden, müsste man das gesamte Bild erst zusammenzusetzen. Die Heuristik macht es möglich, sich schnell zu entscheiden.

Menschen, die “Fake News” verbreiten möchten, machen sich dieses Prinzip zunutze. Sie entwerfen Websites, die auf den ersten oberflächlichen Blick aussehen wie Nachrichtenseiten. Sie spekulieren darauf, dass die Menschen sich auf ihren ersten Eindruck und ihre Intuition verlassen und nicht ganz so genau hinschauen. Darauf fallen auch Journalistinnen und Journalisten ganz gern herein.

Als der heutige “Titanic”-Chefredakteur Moritz Hürtgen im Juni 2018 bei Twitter meldete, Horst Seehofer wolle die Fraktionsgemeinschaft zwischen CDU und CSU auflösen, hätten wenige Klicks genügt, um herauszufinden, dass der Twitter-Account @hrtgn nichts mit dem Hessischen Rundfunk zu tun hat. Aber Hürtgen hatte die Journalistinnen und Journalisten schon richtig eingeschätzt: Er hatte lediglich sein Profilbild geändert und in den Tagen zuvor ein paar Meldungen vom Hessischen Rundfunk gepostet. Die Nachrichtenagentur Reuters verließ sich darauf, dass der Account den Anschein einer seriösen Quelle hatte. Danach machte die satirische Falschmeldung die Runde.

Das Problem ist: Heuristiken liefern in der Tendenz gute Ergebnisse, sind aber recht anfällig für Fehler — vor allem dann, wenn Menschen nicht ahnen, dass ihr Urteil durch eine Heuristik zustande kommt.

In Gabor Steingarts Podcast erklärt “Bild”-Chef Reichelt seine Einschätzung so:

Ich glaube nach allem, was wir an Hacks in den letzten Jahren gesehen und erlebt haben, ist das Wahrscheinlichste immer noch, dass es zumindest staatliche Unterstützung, von welcher Seite auch immer, für diesen Hack gab.

Reichelt schaut, wie gut die Situation in ein Muster passt — wie repräsentativ sie also für eine bestimmte Situation ist. Danach bemisst er die Wahrscheinlichkeit.

In solchen Situationen machen Menschen auch oft einen anderen Fehler: Sie schätzen Wahrscheinlichkeiten falsch ein, wenn sie sich von logischen Zusammenhängen blenden lassen. Die Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky nennen das Phänomen das Linda-Problem. Herausgefunden haben sie es mit einem Experiment, in dem sie Probandinnen und Probanden eine Frau beschrieben und ihnen dann Fragen stellten. Sie charakterisierten die Frau zunächst mit Merkmalen, die zu einer Feministin passen, und fragten anschließend: Was ist wahrscheinlicher:

  • Die Frau ist Bankangestellte?

Oder:

  • Die Frau ist eine feministische Bankangestellte?

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer entschieden sich mehrheitlich für die zweite Antwort, weil es logisch erscheint, dass eine feministische Frau auch eine feministische Bankangestellte ist. Allerdings ist jede feministische Bankangestellte auch einfach nur eine Bankangestellte. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Frau zu dieser viel größeren Gruppe gehört, ist also deutlich höher.

Diese falsche Einschätzung nennt sich Basisratenfehler: Wenn etwas offensichtlich erscheint, neigen Menschen dazu, nicht auf die tatsächlichen statistischen Wahrscheinlichkeiten zu schauen.

Julian Reichelt muss die Wahrscheinlichkeit recht hoch vorgekommen sein, dass irgendein Geheimdienst bei der Veröffentlichung der Prominenten-Daten seine Finger im Spiel gehabt haben könnte. Und nun gäbe es zwei Möglichkeiten: Entweder ist ein recht unwahrscheinliches Ereignis eingetreten — oder Reichelt hat die Wahrscheinlichkeiten falsch eingeschätzt.

In beiden Fällen ist ihm möglicherweise noch ein anderer Denkfehler unterlaufen, den Kahneman mit der sogenannten WYSIATI-Regel (What you see is all there is) beschreibt: Wenn Menschen eine Situation einschätzen, schauen sie auf die Informationen, die vor ihnen liegen. Sie bewerten das Sichtbare und unterschätzen den Einfluss des Unsichtbaren — sogar dann, wenn sie wissen, dass unbekannte Faktoren eine wichtige Rolle spielen.

Das kann dazu führen, dass Menschen Zusammenhänge konstruieren, wo keine sind — dass sie zum Beispiel davon ausgehen, dass ein außergewöhnlicher Fußballtorwart auch ein zuverlässiger Ratgeber in Finanzfragen sein muss, oder ein sympathischer Moderator auch ein guter Bundeskanzler wäre (Halo-Effekt). Dieses Prinzip nutzt die Werbung sehr gerne.

Umgekehrt kann es auch zur Folge haben, dass bekannte negative Eigenschaften einen Verdacht auf Menschen lenken, die im konkreten Fall nichts damit zu tun haben (Teufelshörner-Effekt). Mit diesem Effekt arbeiten auch Krimi-Autoren: Wenn eine Figur in einer Szene zu sehen ist, in der sie unfreundlich zu anderen Menschen ist, lenkt das auch den Verdacht im Mordfall auf sie (wobei es am Ende doch immer die Figur war, die zu Beginn von allen am sympathischsten erschien).

Es gibt noch eine Reihe weiterer Denkabkürzungen, mit denen Menschen sich behelfen, wenn sie schnell Entscheidungen treffen müssen. Zum Beispiel die Verfügbarkeitsheuristik: Wenn Menschen nicht alle relevanten Faktoren kennen, um zu einer guten Entscheidung zu kommen, überlassen sie die Bewertung ihrer Erinnerung. Das führt dazu, dass sie besonders präsente Informationen bevorzugen — also all das, was ihnen sofort in den Sinn kommt.

Im Fall der geleakten Prominenten-Daten hätten die Täter natürlich Aktivisten von irgendwoher sein können. Weil Julian Reichelt und sein “Bild”-Team die Russen aber ohnehin hinter so gut wie allem vermuten, lag wohl auch hier die Annahme nahe, dass der russische Geheimdienst etwas mit der Sache zu tun haben muss.

Die Verfügbarkeitsheuristik spielt im Journalismus an verschiedenen Stellen eine Rolle. Wenn Journalistinnen und Journalisten einen Experten suchen, der etwas zu einem Thema sagen kann, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie nicht den anrufen, der sich am besten auskennt, sondern den, der ihnen als Erstes einfällt.

Außerdem beeinflussen Medien sich bei der Auswahl von Themen gegenseitig. Berichten mehrere Redaktionen über etwas, kommt schnell die Frage auf: Warum haben wir das nicht? So gewinnt die Verbreitung an Dynamik. Und je präsenter ein Thema ist, zum Beispiel bei Twitter, desto schneller fällt es Redakteurinnen und Redakteuren in den Themenkonferenzen ein. Das führt zu einer Verzerrung, deren Ergebnis sein kann: Über ein wichtiges Thema wird nicht berichtet, weil über ein wichtiges Thema nicht gesprochen wird.

Die Verfügbarkeitsheuristik verzerrt auch die Wahrnehmung des Publikums. Wenn Meinungsforschungsinstitute Menschen fragen, wovor sie am meisten Angst haben, ist kurz nach Terroranschlägen eine häufige Antwort: vor Terroranschlägen — obwohl die Wahrscheinlichkeit, an einem Herzinfarkt, an Krebs oder bei einem Autounfall zu sterben, sehr viel größer ist.

Berichten Journalistinnen und Journalisten über diese Umfragen, führt das wiederum dazu, dass der Effekt sich verstärkt, weil beim Publikum der Eindruck entsteht: Wenn andere das auch so sehen, ist die Sorge ja offenbar nicht ganz unbegründet.

Ein weiterer Denkfehler, der in der Arbeit von Journalistinnen und Journalisten eine Rolle spielt, ist der fundamentale Attributionsfehler. Menschen neigen dazu, den Einfluss von Personen auf Ereignisse zu über- und den der Umstände zu unterschätzen. Dieser Fehler kommt zum Beispiel in der Sport- oder Wirtschaftsberichterstattung häufig vor, wenn Journalistinnen und Journalisten Erfolge der Taktik des Trainers oder der unkonventionellen Art des Vorstandsvorsitzenden zuschreiben. So ergibt sich eine stimmige Geschichte. Es kann allerdings sein, dass die unkonventionelle Art des Firmenchefs bei Rekordverlusten zwei Jahre später auch eine gute Erklärung für seinen Misserfolg ist. Tatsächlich hat der Zufall sehr großen Einfluss. Das ist allerdings eine Erklärung, von der man in der Berichterstattung nur sehr selten liest.

Gleichzeitig spielt dabei die Ergebnisverzerrung (Outcome-Bias) eine Rolle. Um die Qualität von Entscheidungen zu bewerten, schauen Menschen auf das Ergebnis. Hat eine Mannschaft gewonnen, hat der Trainer dem Anschein nach alles richtig gemacht. Es kann aber eben auch sein, dass eine Mannschaft gewonnen hat, obwohl der Trainer ihr mit seinen Entscheidungen alle erdenklichen Steine in den Weg gelegt hat.

Was aber lässt sich gegen diese Verzerrungen machen?

Das Herrschaftswissen der Verhaltensökonomie und Sozialpsychologie über Shortcuts und Fehler bei der Entscheidungsfindung (…) ist vielen Kommunikationsmanagern und -strategen, die die Medien für ihre Zwecke instrumentalisieren, inzwischen wohlvertraut. Dagegen kennen all das bisher viel zu wenige Journalisten

… schreibt der Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl in seinem Buch “Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde”. Daher ist der erste Schritt: sich unbewusste Denkprozesse bewusst machen. Dann fällt man vielleicht immer noch auf sie herein, kann das aber in einem zweiten Schritt überdenken und korrigieren.

Janina Kalle hat einen interessanten Beitrag über Techniken geschrieben, mit deren Hilfe sich diese Verzerrungen entschärfen lassen. Um das Outcome-Bias auszuschalten, kann es zum Beispiel sinnvoll sein, eine andere Perspektive einzunehmen, sich zu fragen: Wäre unter den gleichen Umständen ein anderer Ausgang der Geschichte möglich gewesen?

Generell gilt: Wer sich die Wahrnehmungsverzerrungen bewusst macht, hat immerhin die Chance, sie zu erkennen. Auch Zeit ist immer von Vorteil, denn wenn das Gehirn schnelle Entscheidungen trifft, ist die Fehlerwahrscheinlichkeit hoch. Und je weniger Journalistinnen und Journalisten sich auf ihre Erinnerung und vor allem auf bloße Eindrücke verlassen, desto geringer ist die Gefahr, vom eigenen Gehirn überlistet zu werden.

Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen zitiert in seinem Buch “Die große Gereiztheit” ein geflügeltes Wort us-amerikanischer Journalistinnen und Journalisten: “Wenn deine Mutter dir sagt, sie liebt dich, überprüfe es.” Für Julian Reichelt könnte man den Satz etwas abwandeln: “Wenn dein Gefühl dir sagt, es waren die Russen, recherchiere es.”

***

Teil 1 unserer “Kleinen Wissenschaft des Fehlers” gibt es hier.

Why so incorrect?

Der Joker ist zurück im Kino — und eine Falschmeldung zurück in deutschen Medien.

“Zeit Online” schreibt:

Aufgeheizt wurde die Debatte [um den neuen Joker-Film], als bekannt wurde, dass die US-Armee ihre Mitglieder vor Attentaten möglicher Incels anlässlich der Joker-Premiere in amerikanischen Kinos gewarnt hatte. Als Incels (involuntary celibates — unfreiwillig zölibatär) bezeichnen sich Männer, die sich von Frauen — und oft von der Gesellschaft als solcher — zurückgewiesen fühlen. In Foren stacheln sie sich zu Hass und zum Teil auch zu Gewalt an.

Als einer der Vorbilder der Szene gilt ausgerechnet der Attentäter James Holmes, der während der Premiere des letzten großen Joker-Epos The Dark Knight Rises im Juli 2012 zwölf Menschen in einem Kinosaal in Aurora erschossen hatte. Der Polizei gegenüber behauptete er damals, er sei Joker.

(Link im Original.)

In “The Dark Knight Rises”, dem “letzten großen Joker-Epos”, hat der Joker gar nicht mitgespielt. Aber das nur am Rande.

Der eigentliche Punkt ist der, dass der Attentäter von Aurora gegenüber der Polizei behauptet hätte, er sei der Joker. So steht es auch im von “Zeit Online” verlinkten “Gizmodo”-Artikel:

It’s often been repeated that Holmes was inspired by the Joker, a claim that primarily rests on statements the killer reportedly made to police after the fact in which he said he “was the Joker.”

Allerdings mit einem interessanten Twist:

Speaking with the Hollywood Reporter, Daniel Oates, Aurora’s chief of police at the time, said that “there is no evidence” the shooter ever said that.

Erst vor einer Woche veröffentlichte “Vanity Fair” einen ausführlichen Artikel zu der Joker-Falschmeldung:

The rumor began in the hours after James Holmes killed 12 people and injured 70 more during a 2012 screening of The Dark Knight Rises. Speaking at a press conference in Manhattan, then-New York police commissioner Ray Kelly said that Holmes had actually referred to himself as the Joker. “He had his hair painted red, he said he was ‘the Joker,’ obviously the ‘enemy’ of Batman,” Kelly said.

Doch:

“It never happened,” said George Brauchler, the Colorado district attorney who prosecuted Holmes, citing Kelly as the source of the rumor. Brauchler and other Colorado officials have attempted to clarify for years that Holmes never referred to himself as the Joker. The story has persisted, Brauchler said, because it fits the narrative so cleanly. “Of course the crazy-hair-colored guy who shot up the Batman premiere thought he was the Joker, of course!” Brauchler added. “And yet it has no connection to reality.”

Zitiert wird auch der Psychiater, der den Attentäter für den Prozess mehrere Stunden lang befragt hatte. Demnach war Holmes nicht selbst auf diese Jokersache gekommen, sondern hörte erst im Gefängnis zum ersten Mal davon:

“He said that the first he heard of the Joker idea was [from] somebody in another cell,” he said. “He heard calling back and forth, ‘Hey, you’re the Joker,’ or something like that.”

Ein anderer vermeintlicher Beleg, der seit Jahren angeführt wird, ist die Tatsache, dass sich der Amokläufer die Haare rot gefärbt hatte. Bild.de etwa schrieb vor wenigen Tagen:

In Aurora hatte am 20. Juli 2012 ein Angreifer bei einer Premiere des Films “Batman — The Dark Knight Rises” wahllos ins Kinopublikum gefeuert, 12 Menschen starben. Vor Gericht erschien der Täter später mit orangerot gefärbten Haaren wie der “Joker”.

Der Joker hat grüne Haare.

Mit Dank an @JoachimKlarmann für den Hinweis!

Nachtrag, 11. Oktober: “Zeit Online” hat die Passage überarbeitet und am Ende des Artikels eine ausführliche Anmerkung veröffentlicht. Bei Bild.de steht es immer noch falsch.

Ost-Aufwiegler, “Bild Politik” am Ende, Gute Nacht Österreich

1. Vollgas, Schnitzel!
(zeit.de, Christian Bangel)
Laut einer “Zeit”-Umfrage glauben 41 Prozent der Ostdeutschen, dass es um die Meinungsfreiheit heute in der Bundesrepublik nicht besser bestellt sei als zu DDR-Zeiten. Christian Bangel hält für diese Entwicklung auch Leute verantwortlich wie den FDP-Chef Christian Lindner, Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen, “Welt”-Chefredakteur Ulf Poschardt und den Publizisten Roland Tichy. In seinem Kommentar bei “Zeit Online” fragt sich Bangel: “Ahnen sie, dass sie damit den Unterschied zwischen der Bundesrepublik und der DDR verwischen? Ist ihnen klar, dass ihre Worte im Osten viel stärker und ganz anders wirken als im Westen? Finden sie es vielleicht einfach ein bisschen geil? Ist da auch eine narzisstische Lust, mit der Macht der eigenen Erzählung zu spielen, wie Boris Johnson es tut?”
Weiterer Lese- und Gucktipp: Verblühte Presselandschaften in Ostdeutschland (ndr.de, Sebastian Friedrich, Video: 8:00 Minuten).

2. Wegen Restrukturierungsmaßnahmen: Axel Springer mottet das Printprojekt “Bild Politik” endgültig ein
(meedia.de, Gregory Lipinski)
Anfang des Jahres hatte “Bild” einen neuen Ableger an die Kioske gebracht: Die von “Bild”-Vize-Chef Nikolaus Blome und Selma Stern (jetzt: “Business Insider”) geleitete “Bild Politik”. Nach einer längeren Pause stellt der Axel-Springer-Verlag das Printprojekt endgültig ein. Als Grund werden die Restrukturierungsmaßnahmen der “Bild”-Gruppe angegeben. Klingt ja auch besser als Erfolglosigkeit.

3. Gerichte können Facebook zu weltweiten Löschungen zwingen
(golem.de, Friedhelm Greis/dpa)
Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass Facebook Löschanordungen europäischer Gerichte Folge leisten und die monierten Inhalte weltweit aus dem Netz nehmen muss. Die Entscheidung geht auf den Fall der ehemaligen österreichischen Grünen-Politikerin Eva Glawischnig-Piesczek zurück. Facebook ist mit der Entscheidung naturgemäß und wenig überraschend nicht zufrieden: “Dieses Urteil wirft kritische Fragen rund um das Thema Meinungsfreiheit auf”.

4. Die Zeit danach
(sueddutsche.de)
Als Reaktion auf den Fälschungsskandal um Claas Relotius baut der “Spiegel” sein umstrittenes Gesellschaftsressort um und verpasst ihm den neuen Namen “Reporter”. Die Leitung übernimmt Özlem Gezer, die nach vielen Hinweisen durch Juan Moreno das entscheidende Gespräch mit Relotius führte, in dem dieser erstmals einige seiner Fälschungen eingestand.

5. Akut bedrohte Journalisten gerettet
(reporter-ohne-grenzen.de)
Reporter ohne Grenzen (ROG) ist es gelungen, zwölf besonders gefährdete syrische Journalistinnen und Journalisten und deren Familien nach Deutschland zu holen. Sie saßen in einer Region Syriens fest, bei der die Übernahme durch die Assad-Regierungstruppen drohte. Die Folgen wären womöglich Verhaftung, Folter und Tod gewesen. ROG-Leiter Christian Mihr wünscht sich in diesem Zusammenhang eine beschleunigte Bearbeitung durch die deutsche Bürokratie: “Wenn sich Journalistinnen und Journalisten aufgrund ihrer Arbeit in akuter Lebensgefahr befinden, sollten die deutschen Behörden aus humanitären Gründen auf langwierige Einzelfallentscheidungen verzichten. Mit unbürokratischen Nothilfe-Visa könnten Betroffene schnell in Sicherheit gebracht werden.”

6. Gute Nacht Österreich
(tvthek.orf.at, Video: 29:29 Minuten)
Der österreichische Comedy-Autor, Kabarettist, Philosoph und Fernsehmoderator Peter Klien ist seit Kurzem Host der Late-Night-Show “Gute Nacht Österreich”. In der aktuellen Sendung kümmert er sich hingebungsvoll um die österreichische Politik und ihre Verbindungen zu alpenländischen Medienmachern (ab Minute 14:45). Und er klärt auf, wie es seinem Team gelungen ist, eine Falschmeldung “Skorpion-Alarm auf Kinderspielplatz” in die Boulevardmedien “Kronen Zeitung”, “Österreich” und “Heute” zu bekommen.

(Kein) Türknauf des Todes, Tim K.s Konto, Zu Besuch beim Hetzer

1. Falschmeldung der Polizei auf Twitter: Der Türknauf des Todes kommt vor Gericht
(netzpolitik.org, Markus Reuter)
Die Berliner Polizei behauptete auf Twitter fälschlicherweise, bei der Räumung eines Stadtteilladens habe man gerade noch rechtzeitig festgestellt, dass ein Türknauf unter Strom gesetzt worden sei. Wider besseren Wissens war die Korrektur dieser Falschmeldung erst am nächsten Tag erfolgt und habe dadurch nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit bekommen: “Der Spin der Polizei funktionierte: Der Protest gegen die Räumung des Hauses erschien in einem für die Demonstrierenden negativen und gewalttätigen Licht.”

2. Dortmund: Wegen fehlender journalistischer Sorgfalt kassiert die BILD eine einstweilige Verfügung eines Neonazis
(nordstadtblogger.de, Sascha Fijneman & Alexander Völkel)
“Bild” beziehungsweise der Verlag Axel Springer SE ist vor dem Landgericht Dortmund dem Sänger einer Rechtsrockband unterlegen. “Bild” habe behauptet, der Sänger sei Mitglied und Führungskader der als rechtsterroristisch eingestuften Neonazi-Organisation “Combat 18” (“Kampfgruppe Adolf Hitler”): “Da jedoch der Axel-Springer-Verlag seine Behauptungen nicht schlüssig durch Quellen belegen konnte und sogar die jeweiligen Aussagen aus den Quellen noch anders darstellte (also nicht ordentlich bzw. falsch zitiert hat), kritisierte das Gericht die mangelhafte journalistische Sorgfaltspflicht bei der Arbeit der BILD-Zeitung.”

3. Mutmaßlicher Facebook-Hetzer nimmt Stellung zu Gewaltaufrufen
(rbb24.de, C. Huppertz & M. Siepmann, Video: 3:37 Minuten)
Der rbb hat einen mutmaßlichen Facebook-Hetzer zu dessen üblen Gewaltaufrufen befragt. Und das ist auf eine gewisse Weise verstörend: Hier steht kein Neonazi mit Glatze, SS-Tätowierung und schwarzen Klamotten auf der Straße, sondern ein ziemlich normaler Bürger. Der sich ohne echte Einsicht windet zwischen “Hab ich gesagt”, “Hab ich nicht gesagt” und “Hab ich gesagt, aber anders gemeint”. Immerhin will er wohl bei einem seiner Opfer um Entschuldigung bitten, sein Facebook-Profil habe er mittlerweile gelöscht.

4. Lizenz zum Senden
(sueddeutsche.de, Benedikt Frank)
Da der bestehende Rundfunkstaatsvertrag die neuen Mediennutzungen wie Streaming, Sharing, Gaming, Podcasts und andere Netzangebote nicht ausreichend erfasst, soll ein neuer Medienstaatsvertrag folgen. Die Rundfunkkommission hat vor etwa einem Jahr einen Entwurf veröffentlicht und um Bürgerbeteiligung gebeten. Von dieser Möglichkeit haben über 1200 Personen Gebrauch gemacht. Benedikt Frank fasst den derzeitigen Stand zusammen und erklärt, was es mit der ominösen Rundfunklizenz für YouTuber auf sich hat.

5. Wie breitet sich Parkinson im Körper aus? Wie beeinflussen Flugzeug-Kondensstreifen das Klima? Science Media Newsreel1 No. 55
(meta-magazin.org)
Im Wochenrückblick des “Science Media Center” geht es um die Forschungsergebnisse, über die in letzter Zeit besonders häufig in den Medien berichtet wurde. Diesmal: Studien über mögliche Ausbreitungswege von Parkinson sowie die Auswirkungen von Kondensstreifen auf die Strahlungsbilanz der Erde.

6. Rassistische Videos: Sparkasse kündigt Konto von Rocker Tim K.
(nw.de)
Der Chef eines Rocker-Clubs sowie rechtslastige Ex-Polizist, YouTuber und Buchautor Tim K. wollte anscheinend Geld für ein Nachrichtenportal sammeln und hat dazu seine private Kontoverbindung verwendet. Nun hat ihm die Sparkasse eben jenes private Girokonto gekündigt, unter anderem wegen eines zu befürchtenden “erheblichen Reputationsschadens”. K. wolle gegen die Kündigung juristisch vorgehen.

Letztes Geschäft, Drölfzig Studientote, Konsensverschiebung

1. “Letztes Geschäft im Existenzkampf einer Zeitung”
(deutschlandfunk.de, Michael Bürgers)
“Warum berichtet “Bild” über die Speiseplan-Änderung in zwei von 56.000 Kitas in Deutschland?”, fragte der frühere CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz auf Twitter und war mit dieser Frage nicht allein. Auch wir befassten uns hier im BILDblog mit der Thematik. Der “Deutschlandfunk” hat unter anderem mit dem Politikberater und ehemaligen “Bild am Sonntag”-Chef Michael Spreng über den Fall gesprochen. Man könne laut Spreng den “Existenzkampf einer Zeitung, ein letztes Geschäft zu machen”, erleben. Sein ehemaliger Arbeitgeber sei zur “Vorfeldorganisation der AfD” geworden.

2. Nachbeben
(sueddeutsche.de, Adrian Lobe)
Immer mehr Redaktionen bedienen sich automatisierter Schreibprogramme, doch der sogenannte Roboterjournalismus hat seine Tücken. So rutschte der “LA Times” 2017 eine Falschmeldung von einem Erdbeben in Los Angeles durch, das eigentlich 92 Jahre zuvor stattgefunden hatte. Auch im Wirtschaftsjournalismus vertraut man zunehmend den automatisierten Meldungen. Auch hier können Fehler dramatische Folgen haben: “Kaum vorstellbar, was passieren würde, wenn ein Nachrichtenscanner an der Börse die Falschmeldung eines Schreibroboters verarbeiten würde — und infolgedessen der Aktienkurs einbricht. Im Hochfrequenzhandel führen sogenannte Algo-Trader Transaktionen in Mikrosekunden aus. So schnell, wie diese Maschinen operieren, kann keine Meldung korrigiert werden.”

3. Taten und Worte
(zeit.de, Christian Fuchs)
Christian Fuchs schlägt einen historischen Bogen vom Rechtsextremismus der Neunziger bis in die Jetztzeit mit dem Aufstieg der Neuen Rechten. Deren Strategen würden an einer Konsensverschiebung arbeiten und sich dabei eines Medien-Ökosystems aus mehr als 35 Zeitungen, Blogs, Magazinen, YouTube-Kanälen und einem Radiosender bedienen. Fuchs kennt sich in diesem Bereich besonders gut aus und hat mit Paul Middelhoff das Buch “Das Netzwerk der Neuen Rechten” verfasst. Sein Appell: “Gewaltverherrlichende, einschüchternde und abwertende Äußerungen dürfen nirgends unwidersprochen bleiben. Wenn Politiker und Bürger nicht klare Kante gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit zeigen, werden die Schüsse von Wächtersbach und Kassel nicht die letzten gewesen sein.”

4. Worte als Taten
(kontextwochenzeitung.de, Rainer Jedlitschka)
In der Buchreihe “Täter, Helfer, Trittbrettfahrer” geht es um NS-Belastete aus dem heutigen Baden-Württemberg. Ein Kapitel des zuletzt erschienenen Bands widmet sich Giselher Wirsing, dem Star-Journalisten des “Dritten Reichs”. “Kontext” veröffentlicht das gekürzte Kapitel über den Mann, dessen Karriere nach dem Krieg als Chefredakteur von “Christ und Welt” weiterging.

5. Kann eine Ex-AfDlerin uns wirklich etwas über Meinungspluralität beibringen?
(jetzt.de, Berit Dießelkämper)
“Funk” nennt sich das Bündel von öffentlich-rechtlichen Youtube-Kanälen für junge Leute. Seit vier Monaten bespielt dort auch Ex-AfDlerin Franziska Schreiber ihren eigenen Kanal und hat es auf immerhin 15.000 Abonnenten gebracht. Ein Format, das die Journalistin und Politikwissenschaftlerin Berit Dießelkämper für problematisch hält: “Braucht es wirklich eine ehemalige Anti-Demokratin, um uns Pluralismus zu lehren? Und vor allem: Ist das überhaupt Pluralismus?”

6. Drölfzig Menschen sterben jedes Jahr beim Lesen von Studien
(blog.wdr.de, Dennis Horn)
In den Jahren 2011 bis 2017 soll es laut einer indischen Studie 259 “Selfie-Tote” gegeben haben. Eine Meldung, die in den Sozialen Medien vom beömmelungssüchtigen Publikum mit allerlei Spott kommentiert wurde. Dennis Horn hat die Zahl in Relation gesetzt und kommt zu einem anderen Ergebnis: “Fast 0 Prozent aller Selfie-Aufnahmen gehen tödlich aus.”

CDU-Zerstörung, AfD-Medien-Treff im Bundestag, Mein Heft und ich

1. Die Zerstörung der CDU durch einen Youtuber
(indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
“Die Zerstörung der CDU” heißt das 55-minütige Video des Youtubers Rezo, das innerhalb weniger Tage mehr als 2,5 Millionen Mal aufgerufen wurde. Thomas Knüwer kommentiert: “Ich habe das Gefühl, dass hier eine neue Generation von Journalismus entsteht. Er ist genauso emotional, kommentierend und subjektiv wie der aktuelle Journalismus älterer Generationen — und dies kann ich nicht gut finden. Doch haben Youtuber wie Rezo eine Fähigkeit, die den Redaktionen klassischer Medien abhanden gekommen ist: Sie sprechen die Sprache ihrer Zielgruppe. Und deshalb sind sie in der Lage, diese für sich zu gewinnen.”
Weitere Lesetipps: Das Interview mit Rezo, dem Macher des Videos: Wie der Youtuber Rezo in einer Stunde die Logik der CDU zerlegt (jetzt.de, Sophie Aschenbrenner & Nicolas Freund). Sowie Fridtjof Küchemann bei FAZ.net: Kommt damit klar!

2. “Erste Konferenz der freien Medien”: Wie die AfD rechte Blogger und Identitäre in den Bundestag einlud
(correctiv.org, Till Eckert)
Die AfD hat ein größeres Treffen mit Vertretern alternativer, rechter Medien im Bundestag organisiert. “Die größten Netzwerker der rechten Szene tauschten dort mit Abgeordneten Nummern aus”, schreibt Till Eckert, der für “Correctiv” ebenfalls vor Ort war und seine Eindrücke von der “1. Konferenz der freien Medien” schildert.

3. Facebook hat offenbar Mitglieder einer EU-Expertengruppe unter Druck gesetzt, die Desinformation bekämpfen sollten
(buzzfeed.com, Nico Schmidt & Daphné Dupont-Nivet)
Es sind schwerwiegende Vorwürfe, die Mitglieder einer EU-Expertengruppe gegen Facebook erheben: Das Netzwerk habe ihnen bei zu harter Regulierung mit dem Entzug von Fördergeldern für journalistische und akademische Projekte gedroht. Offenbar nutze Facebook die finanziellen Unterstützungen für Journalismus (für die nächsten drei Jahre 300 Millionen Euro) als Druckmittel.

4. Was ist in unseren journalistischen Beiträgen erlaubt, was nicht?
(blog.zeit.de)
Bei “Zeit” und “Zeit Online” hat eine gemeinsame Arbeitsgruppe “Standards und Regeln” formuliert und mit den Redaktionen diskutiert. Anschließend wurden die Regeln im Sinne der Transparenz im sogenannten “Glashaus-Blog” veröffentlicht.

5. Forscher halten Falschmeldungen für überschätztes Problem
(spiegel.de, Patrick Beuth)
Gemäß einer Untersuchung der Beratungsfirma PriceWaterhouseCoopers geht die Mehrheit der Deutschen davon aus, dass auf Facebook und Twitter vor der Europawahl massiv mit Falschmeldungen Stimmung gemacht und so die Wahl beeinflusst wird. Zu einem anderen Ergebnis kommt das Oxford Internet Institute: Derartige Falschmeldungen seien ein überschätztes Problem. Patrick Beuth stellt de Ergebnisse der Oxford-Studie vor.
Weiterer Lesetipp: EU-Wahl: Gehen Facebook, Google und Twitter ausreichend gegen Desinformation vor? (sciencemediacenter.de).

6. Mein Heft und ich
(taz.de)
Personality-Titel sind im Zeitschriftenmarkt gerade schwer angesagt, ob Barbara Schönebergers “Barbara”, Joko Winterscheidts “JWD”, Guido Maria Kretschmers “Guido” oder Eckhard von Hirschhausens “Stern Gesund leben”. Die “taz” hat ein paar Ideen für weitere Personality-Magazine und sogar schon die passenden Cover dafür parat. Mit dabei: Die Magazine “Verena” von Keks-Erbin Verena Bahlsen und das Wutbürger-Magazin “Hans-Georg”.

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