Seit Bradley Manning im Mai 2010 verhaftet wurde, ist er im Brennpunkt des Interesses. Ist der US-Soldat die Quelle der auf Wikileaks veröffentlichten Geheim-Dokumente der US Army? Wikileaks-Gründer Julian Assange bestreitet, Manning zu kennen, der Inhaftierte selbst kann den Medien keine Auskunft geben und die US-Regierung gibt sich sehr zugeknöpft.
Wir wissen nicht genau, was jetzt.de am Freitag bewogen hat, einen Artikel mit “20 Fakten” über Bradley Manning zu veröffentlichen — vielleicht war das als Replik auf die “25 Fakten über Julian Assange” gedacht, die die Berliner “B.Z.” Ende November veröffentlicht hatte. Ein überreicher Vorrat an Fakten kann jetzt.de jedenfalls nicht angetrieben haben.
Schon bei simplen Fakten fängt es an: Wie lange sitzt Manning in Haft?
Acht Monate oder ein Jahr? Die richtige Antwort gibt jetzt.de an anderer Stelle:
Kommen wir zum Substantiellen. Was hat Manning denn genau getan?
Knapp daneben: Glaubt man den bei wired.com veröffentlichten Chat-Protokollen zwischen Manning und dem Hacker Adrian Lamo, war kein USB-Stick im Spiel. Der Soldat löschte demnach die Musik von der mitgebrachten CD und bespielte sie stattdessen mit Geheimmaterial.
Aber so richtig scheint jetzt.de der Geschichte mit Lamo auch nicht zu trauen:
Kurzum: Was in der Überschrift als Teil von “20 Fakten” angepriesen wird, ist weiter unten nur noch Gerücht und Behauptung.
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2. “Das ist Freiheitsberaubung” (derwesten.de, Angelika Wölke)
Bei einer Aufzeichnung der ZDF-Quizsendung “Rette die Million” müssen (zwölf Euro für den Eintritt bezahlende) Zuschauer während sieben Stunden ausharren.
3. “Demokratie auch für Rechte” (fr-online.de, Jagoda Marinic) Jagoda Marinic zur Integrationsdebatte: “Die Wirklichkeit dieses Landes, die durch die Medien geformt wird, scheint eine jämmerliche. Weit jämmerlicher, als es im Alltag nachvollziehbar ist. Die Profiteure dieser hysterischen Kultur der Öffentlichkeit sind bekannt. Ohne Rücksicht werden Thesen skandalisiert und wird genbelastetes Schwadronieren auf Bestsellerlisten gehievt.”
4. Interview mit Florian Meimberg (welt.de, Céline Lauer)
Twitterer Florian Meimberg (@tiny_tales) gibt ein Interview in 140 Zeichen. “Eine Tiny Tale fühlt sich an wie eine lange Geschichte. Sie löst ein Kopfkino aus. Und das kann durchaus episch sein.”
5. “From Spoof to Star” (tabloid-watch.blogspot.com, MacGuffin, englisch)
Der “Daily Star” titelt: “Chile Mine To Open As Theme Park”. Und steht mit dieser Information alleine da. Ähnliches meldet nur eine Website namens “The Spoof” (“Always there with the funniest spoof headlines”).
Böse Zungen haben es schon lange kommen sehen: Die Online-Enzyklopädie Wikipedia schrumpft. Das Projekt, das vor nicht einmal zehn Jahren als Hort des Weltwissens gestartet war, hat nun endgültig den Rückwärtsgang eingelegt und vernichtet das sauer erarbeitete Wissen wieder. So zumindest berichtete es die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” am Donnerstag:
In der englischsprachigen Wikipedia, der weltweit größten Gemeinschaft mit über drei Millionen verfassten Beiträgen, ist von einem ernsthaften Autorenschwund die Rede. Zum ersten Mal in der Geschichte der freien Enzyklopädie werden mehr Beiträge gelöscht als erstellt, berichtet das amerikanische Nachrichtenmagazin “Newsweek” und beruft sich auf Aussagen eines Sprechers der “Wikimedia Foundation”.
Mehr Beiträge gelöscht als neu erstellt? Die schlimmsten Befürchtungen der Wikipedia-Fans werden wahr. Allerdings: Laut Wikipedia-Statistik wächst der Artikelbestand alleine in der englischsprachigen Ausgabe jeden Tag um mehr als 1000 Artikel, die deutschsprachige Wikipedia um immerhin knapp 400 neue Beiträge. Artikellöschungen sind in der Statistik schon berücksichtigt. Wieso behauptet der Sprecher der Wikimedia Foundation also etwas anderes?
Eine Auflösung bietet ein Blick in den Artikel der Newsweek, auf den sich die “FAZ” beruft:
Tausende der Freiwilligen Autoren, die Wikipedia-Artikel schreiben, überprüfen und auf den neusten Stand bringen, haben sich abgemeldet – viele davon für immer. Zum ersten Mal scheinen sich mehr Mitarbeiter von Wikipedia zu verabschieden als neu anzumelden. Die Aktivität auf der Seite stagniere, wie ein Sprecher der Wikimedia Foundation bestätigt. Dies sei ein “wirklich ernsthaftes Problem”.
(Übersetzung von uns)
Das ist zwar auch nicht ganz korrekt; die Meldungen von einem scheinbaren Autorenschwund gibt es seit mindestens zehn Monaten. Von Artikel-Löschungen ist bei “Newsweek” hingegen gar keine Rede.
Vielleicht sollte sich die “Frankfurter Allgemeine” um die verlorenen Wikipedia-Autoren bemühen. Ein paar Fact-Checker haben noch niemandem geschadet.
Nachtrag, 25. August: Inzwischen hat die FAZ den Rückwärtsgang eingelegt und den Beitrag korrigiert:
Richtigstellung vom 23.08.2010: „Newsweek“ berichtete nicht, wie am 19.08.2010 an dieser Stelle veröffentlicht, dass mehr Beiträge gelöscht als neue erstellt werden.
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1. “Wie wahr sind Fakten?” (sueddeutsche.de, Camilo Jiménez und Katja Riedel)
Ein Besuch bei den Faktenprüfern des Wochenmagazins “New Yorker”: “Wir verifizieren alles, sogar die Fiktion.”
2. “Ein paar Wünsche an Sportcast” (sportmedienblog.de)
Das Sportmedienblog wünscht sich von der Firma Sportcast, die “exklusiv das Bildsignal der 1. und 2. Fußball-Bundesliga” produziert, zum Beispiel eine Verbesserung der “Kamerapositionen, die in vielen Stadien der Liga viel zu tief gewählt sind”. “Wenn durch diese Fehlentscheidung bei der Konzeption ständig nur ein Achtel des Spielfelds zu sehen ist, hat man natürlich auch als armchair coach keinerlei Chance, Spiel, Aufbau und Taktik zu analysieren, weil sich das Spielerlebnis qua Bildregie nur auf Zweikämpfe und Torschancen reduziert.”
3. “Gordon Brown. GORDON BROWN!” (medienpiraten.tv, Peer Schader)
Ein Lob für die im TV-Senders ITV zu sehende 94-minütige Debatte zwischen den Spitzenkandidaten der Unterhauswahlen: “Das lag im Wesentlich daran, dass im Studio nicht vier Journalisten von vier Sendern darum kämpften, sich mit ihren Fragen zu profilieren, sondern mit Alastair Stewart lediglich ein Moderator stand, der den drei Parteiführern abwechselnd das Wort erteilte und entschied, wann die nächste Frage gestellt werden sollte. Er ließ ihnen genügend Zeit, um ihre Argument vorzubringen, unterbrach aber sofort bei Wiederholungen.”
4. “Es ist ZEIT zu widersprechen” (freischreiber.de)
Der Berufsverband “Freischreiber” dokumentiert eine vom Zeitverlag an Autoren und Autorinnen verschickte “Rahmenvereinbarung zur Übertragung von Rechten”. “Der Autorenvertrag, den die ZEIT im Moment ihren Autorinnen und Autoren vorlegt mit dem dringenden Wunsch, ihn zügig zu unterschreiben, hat aber nicht nur grammatikalische Mängel – er ist insgesamt inakzeptabel.”
5. “Jetzt SPON-App für’s iphone!” (stigma-videospiele.de)
Eine Erklärung, warum das Foto auf Seite 132 der Ausgabe 15/2010 des “Spiegel” als Symbolbild gekennzeichnet sein müsste. “Auch wenn ich von Apples genausowenig Ahnung wie von iphones habe, würde ich mal aus dem Bauch raus die Vermutung aufstellen, dass auf diesem Foto ein Junge vorgibt zu spielen indem er gebannt den Desktop eines Macs anstarrt, bei dem der Screenshot eines Shooters als Hintergrundbild eingerichtet wurde.”
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1. “Faktenchecker auf Fehlersuche” (ndr.de, Mareike Fuchs, Video, 6:59 Minuten)
Zu Besuch in der Dokumentation des “Spiegel” und bei Günther Garde, dem Faktenprüfer des “Stern”. Obwohl die Glaubwürdigkeit der Medien von korrekten Fakten abhängt, ist der Beruf des Faktenprüfers bedroht.
2. “Der ORF und die Neonazis” (brodnig.org, Ingrid Brodnig und Martin Gantner)
Wie viel Geld wurde von der ORF-Sendung “Schauplatz” an zwei junge Neonazis bezahlt? Während die ORF-Führung von je 100 Euro spricht, behaupten die beiden, es sei mehr Geld geflossen. “Philipp sagt, es seien 100 Euro pro Drehtag gewesen. Wie Falter-Recherchen im ORF ergaben, dürften die jungen Männer jedenfalls mehr Geld als 200 Euro erhalten haben. 50 Euro bekam zum Beispiel Philipp – bevor er vor laufender Kamera einen rechtsradikalen Shop betrat. Von dem Geld kaufte sich der Skinhead eine Fahne und zwei T-Shirts.”
3. “Bild Dir Deine Meinung” (spiegel.de, Ingeborg Wiensowski)
“Mit Pressefotos von Mord und Totschlag, Demonstrationen und Explosionen will der Hamburger Kunstverein 60 Jahre Stadtgeschichte zeigen. Es entsteht ein schrilles und vor allem einseitiges Bild: Alle Fotos stammen aus der ‘Bild’-Zeitung.”
4. “Zwischen Märchenstunde und Motzki-Pöbelei” (carta.info, Steffen Rutter)
Steffen Rutter, Mitarbeiter der FDP-Bundestagsfraktion, kritisiert den Beitrag “Wie die FDP die Profiteure der Finanzkrise schützen will” (Video, 6:37 Minuten) der Sendung “Monitor”. Es gehe im Beitrag “nicht um einen dunklen Plan der FDP, sondern vielmehr um Werbung für eine Idee der Redaktion”.
5. Interview mit Helmut Schmidt (zeit.de, Giovanni di Lorenzo) Helmut Schmidt glaubt, dass Journalisten “insgesamt mindestens genauso empfindlich” sind wie die Politiker “und mindestens genauso geneigt, etwas übel zu nehmen”. “Wenn man ganz genau hinschaut, dann sieht man, dass die politischen Journalisten eigentlich mehr zur politischen Klasse gehören und weniger zum Journalismus.”
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1. Interview mit Tom Rosenstiel (focus.de, Leif Kramp und Stephan Weichert)
Zumindest in den USA hätten Journalisten erkannt, “dass das Internet ein spektakuläres Werkzeug ist, um Inhalt zu erzeugen”, stellt Tom Rosenstiel fest. In Zukunft sieht er Journalisten aufgeteilt: “Wir werden deshalb eine Kombination aus angestellten Journalisten erleben, die nicht so gut bezahlt sein werden wie in der Vergangenheit, und sehr prominenten Journalisten, die für verschiedene Medien arbeiten und praktisch als eigene Marke auftreten: die ‘Super Freelancers’.”
2. Interview mit Jörg Künkel (fachmedien.net, Roland Karle)
Zeitschriftenentwickler Jörg Künkel empfiehlt einen kleinen Test, um herauszufinden, “welcher Titel ein klares inhaltliches Profil hat und welcher nicht”: “Legen Sie Ihren Lesern Beiträge aus dem eigenen Heft und aus Konkurrenzmedien vor – nicht gestaltet, sondern nur als Text – und fragen Sie sie, aus welcher Zeitschrift der Beitrag stammen könnte.”
4. Interview mit Roger Köppel (a-z.ch, Max Dohner)
Roger Köppel, Chef der “Weltwoche”, gibt Auskunft über seine Vorstellung von Journalismus: “Wenn es eine gefährliche Berufskrankheit gibt, nicht nur unter Journalisten, dann ist es die, sich zu fragen, was die anderen denken, wenn ich das oder das tue.” Lesenswert ist auch das Mitte März im “Spiegel” erschienene Porträt von Marc Hujer.
5. “Entschleunigte Fakten” (notes.computernotizen.de, Torsten Kleinz)
Torsten Kleinz denkt nach über den von “Netzwerk Recherche” geforderten “Fakten-TÜV”: “Statt eine illusorische ‘systematische Überprüfung aller Medieninhalte’ anzugehen, kontrolliert die Stiftung Faktentest stichprobenartig die Verlässlichkeit der Medien. Die klügsten Köpfe des Journalismus werden auf die Richterbank des Bundesverfaktungsgerichts gerufen.”
6. “Ein Schreiben vom Chefredakteur” (off-the-record.de, Spießer Alfons)
Ein Brief von Chefredakteur Peter Pustekuchen an die “Mode-, Kosmetik-, Food- und Pharma-Branche”: “Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass in Zukunft für diese PR-Beiträge ein Zeilenhonorar fällig wird, das Sie pro Zeile an den Verlag zu entrichten haben.”
Nirgendwo auf der Welt weiß man mit größerer Gewissheit zu verkünden, dass der Iran an einer Atombombe arbeitet, als im Axel-Springer-Haus zu Berlin. Insbesondere Julian Reichelt, Chefreporter der “Bild”-Zeitung, scheint über ganz besondere Quellen zu verfügen — anders sind die steilen Thesen in seinem “Bild”-Kommentar vergangene Woche nicht zu erklären. In diesem Beitrag fordert Reichelt nämlich:
Zunächst schreibt Reichelt da:
Sogar die Internationale Atomenergiebehörde geht jetzt davon aus, dass der Iran an einem Sprengkopf baut.
Was selbst dem aufmerksamen “Bild”-Leser nicht sofort unbedingt auffällt: Das wichtigste Wort in diesem Satz ist das kleine “sogar”. In den letzten Wochen sind in Sachen Iran nämlich exakt zwei Neuigkeiten zu vermelden gewesen: Der Iran hat den Anteil des Isotopes U235 seines Urans [Nachtrag d. Verf.] auf 20 Prozent angereichert (wobei es 80 prozentigem Urans für eine Atomwaffe bedarf). Und es wurde bekannt, dass bereits vor 2003 mit Hilfe eines russischen Ingenieurs Träger für Raketen gebaut worden waren, auf denen möglicherweise auch Atomsprengköpfe angebracht werden können.
Und so ist man bei der IAEA ob der Vorgänge im Iran zwar auch äußerst besorgt, aber doch deutlich weniger panisch als Julian Reichelt. Die IAEA schreibt in einem aktuellen Dokument zum Iran unter Punkt 41 auf den Seiten 8 und 9 nämlich lediglich, dass die aktuelle Informationslage Fragen zu einer möglichen Entwicklung von Atomsprengköpfen im Iran aufwerfe.
Es wird im IAEA-Report sogar ausführlich erwähnt, dass diese Entwicklung von Atomsprengköpfen nicht unbedingt aktuell sein müsse, sondern auch in der Vergangenheit habe stattfinden können — im Übrigen ein Umstand, der in sämtlichen Medien und auch in der “Bild”-Zeitung selbst vor einigen Tagen bereits vermeldet worden war (Bildblog berichtete).
Während Reichelt suggeriert, der IAEA-Bericht enthalte neue, schockierende Erkenntnisse, verhält es sich eher so, dass die Pressemeldungen der vergangenen Wochen nun auch von offizieller Seite bestätigt werden.
Von dieser konstruierten Neuigkeit kommt Julian Reichelt alsbald zu einer ähnlich fadenscheinigen Schlussfolgerung:
Lieber 8000 amerikanische Bomben als eine einzige iranische.
Der hier suggerierte Gegensatz beruht, nun ja, im besten Falle auf Unwissen. Tatsächlich steht die Welt nämlich in keiner Weise vor der Wahl zwischen US-amerikanischen und iranischen Atomwaffen. Einer gerade vom US-amerikanischen Think Tank “Carnegie Endowment” veröffentlichten Weltkarte der Atomsprengköpfe hätte der Bild-Reporter zum Beispiel entnehmen können, dass insgesamt acht Staaten weltweit über Atomwaffen verfügen.
Neben Russland (14.000 Atomsprengköpfe) und China (mehr als 125 Atomsprengköpfe) verfügen beispielsweise auch Israel (80 Sprengköpfe), das beunruhigend instabile Pakistan (60 Sprengköpfe) und Indien (50 Sprengköpfe) über Atomwaffen — allesamt Staaten in der Nachbarschaft des Irans.
Überhaupt: Über die für den Iran besonders wichtige Regionalpolitik zwischen den notorischen instabilen Ländern Irak, Afghanistan und Pakistan verliert Reichelt in der “Bild” eben kein Wort. Ebenso wenig Erwähnung findet auch die Tatsache, dass die in Israel und den USA, aber auch in “Bild” lauter werdende Forderung, den Iran anzugreifen, die Kriegsgefahr tendenziell eher steigert denn senkt.
Aber nicht allein Reichelts Faktenwissen ist ungenügend. Auch sein Wutausbruch gegen die von ihm “Abrüstungs-Groupies” genannten Gegner atomarer Aufrüstung ist allein schon deshalb irritierend, weil Reichelt wie ein neorealistischer Don Quijote Positionen bekämpft, die überhaupt niemand vertritt. Gleich zu Beginn seines Kommentars entwirft er ein reichlich abwegiges Schreckensbild:
Es gibt nur ein Szenario, das furchterregender ist als eine Welt, in der es 25 000 Atomsprengköpfe gibt. Eine Welt, in der es nur noch eine Bombe gibt. Eine Bombe, auf der steht: “Mit Grüßen aus Teheran.”
Dass niemand ernsthaft fordert, allein die USA oder gar alle acht Atommächte mit einsamer Ausnahme des Iran mögen ihre Atomwaffen abschaffen (was im Falle Nordkoreas eine besonders abstruse Vorstellung ist), stört Reichelt wenig. Er keilt weiter gegen seine selbst ausgedachten Kontrahenten:
Gern jammern Abrüstungs-Groupies, man könne die Welt mehrere Hundert Male mit den vorhandenen Atomwaffen zerstören. Absurde Mathematik: Denn nach dem ersten Mal wäre es eh egal.
Und als wäre das des Unsinns nicht genug, löst Reichelt auch einen zentralen Widerspruch seines Kommentar nicht auf: Wenn Atomwaffen, wie Reichelt unterstellt, denn nun Frieden schaffen – was ist dann eigentlich das Problem mit dem vermuteten Atomwaffenprogramm des Irans?
“Ha!”, könnte “Bild”-Kolumnist Hugo Müller-Vogg gerufen haben, als er vor zwei Wochen die ARD-Sendung “Hart aber fair” sah. Oskar Lafontaine, Parteivorsitzender der Linken und einer der Lieblingsgegner Müller-Voggs, ließ sich auch durch gutes Zureden von Moderator Frank Plasberg nicht dazu bringen, einen Fehler zuzugeben. Lafontaine hatte am 1. Juni 2008 in der Talkshow “Anne Will” behauptet, Bundeskanzlerin Angela Merkel habe in Moskau studiert. Tatsächlich hat sie zwar offenbar an einem Jugendaustausch mit Physikstudenten dort teilgenommen, aber nicht regulär studiert. Lafontaine beharrte aber darauf, bei Anne Will die Wahrheit gesagt zu haben.
“Ha! Schon wieder!”, könnte Hugo Müller-Vogg also gerufen und sich auf die Schenkel gehauen haben, denn den Fehler hatte er ihm damals schon in seiner “Bild”-Kolumne vorgeworfen. Und so verfasste er einen neuen Text mit der Überschrift “Lafontaine wiederholt die Mär von Merkels Moskau-Studium” und schrieb:
Das war dumm, um nicht zu sagen: falsch. Vielleicht hatte sich Müller-Vogg ein bisschen zu triumphierend auf die Schenkel gehauen, aber genau das hatte Lafontaine nicht gesagt. Im Gegenteil: Trotz allen Beharrens hatte Lafontaine seine Aussage über Merkel relativiert und ausdrücklich betont, Merkel habe als Austauschstudentin kein “reguläres Semester” in Moskau absolviert. Das kann man sich sogar im Original auf der Internetseite zur Sendung ansehen.
Anstelle einer Berichtigung veröffentlichte “Bild” am vergangenen Dienstag eine Gegendarstellung Lafontaines:
Bei dem Hugo Müller-Vogg, der Lafontaine (möglicherweise nicht zu unrecht) vorwarf, dass ihm Fakten egal seien und er keine Fehler eingestehen könne, handelt es sich nach unseren Recherchen übrigens um denselben Hugo Müller-Vogg, der seinen Text mitsamt dem groben Fehler bis heute uneingestanden und unkorrigiert auf seiner Homepage verbreitet.
Nachtrag, 26. September, 13:00 Uhr. Der Artikel ist von Hugo Müller-Voggs Homepage verschwunden.
Nachtrag, 26. September, 15:50 Uhr. Hugo Müller-Voggs Internetseite gibt es in den drei Geschmacksrichtungen “classic”, “bold” und “modern”, was ihm die Möglichkeit zu einem differenzierten Umgang mit seinen Fehlern gibt. Anders gesagt: In der Variante “modern” hält er noch an seiner falschen Darstellung fest.
Am 21. Juli kam es auf einem Dorffest in Dußlingen zu einem folgenschweren Unfall: Nach einer technischen Panne verletzte ein Böllerschuss den 43-jährigen Klaus K. schwer am Kopf.
Und als er eine Woche später an den Folgen der Explosion starb, berichtete auch “Bild” — überregional, in großer Aufmachung (siehe Ausriss) und online:
Er wollte gucken, warum es nicht knallt
Schützen-Chef schießt sich mit Kanone in den Kopf
Er guckte ins Kanonenrohr, wo der Böller bleibt …
(…) Die Dußlinger Bürger versammeln sich. Dann zieht er die Schnur für das erste Geschoss. Rrrums! Ein Knall. Die Gemeinde klatscht. Dann zieht der Schützenchef die zweite Schnur. Aber sie reißt! Nichts passiert! Sekunden später betritt er die Absperrzone, geht auf die Böllerkanone zu: Das mit Schwarzpulver gefüllte Metallrohr ist noch immer mit dem Korken verschlossen. Er beugt sich darüber. (…) Quelle: “Bild” vom 1.8.2007
Das “Schwäbische Tagblatt” berichtet heute jedoch, der “unwürdige” Artikel habe bei Angehörigen und Bekannten “Ärger und Wut” ausgelöst, denn:
Fast alle Fakten in dem Artikel waren falsch (…).
So bezogen sich alle Angaben zu Familienstand, Kinderzahl und Arbeitgeber in “Bild” nicht auf den vermeintlichen “Schützen-Chef” bzw. “Chef des Schützenvereins” Klaus K., sondern ganz offensichtlich auf den am Unfall völlig unbeteiligten, tatsächlichen “Schützen-Chef” Karl-Werner R. (Unfallopfer K. war dessen Stellvertreter).*
Bei derart mangelhafter Recherche (das unscharfe Opferfoto hatte “Bild” zudem offenbar ohne Genehmigung von der Internetseite des Schützenvereins kopiert) ist es dann doch erstaunlich, dass “Bild” über den Unfallhergang besser Bescheid zu wissen scheint (siehe Kasten) als Augenzeugen und Polizei. Letztere kann nur ein Fremdverschulden ausschließen, darüber, wie genau es zu dem Unglück kam, gibt es widersprüchliche Aussagen.
*) Nachdem sich Angehörige von Klaus K. bei “Bild” beschwert hatten, erschien in der örtlichen “Bild”-Regionalausgabe ein weiterer, kleiner Artikel, in dem (anlässlich der Beerdigung K.s) die falschen Angaben teilweise richtiggestellt wurden — allerdings ohne Hinweis auf die früheren Fehler, dafür aber mit dem Zusatz “BILD berichtete” und unter der Überschrift “Schützenchef beerdigt”.
Dank an Michael H. für den Hinweis und Tobias Z. für die Unterstützung.
Schwer zu sagen, ob das “brutale Grand-Prix-Debakel” (also die Tatsache, dass der deutsche Beitrag beim Eurovision Song Contest in Kiew am vergangenen Samstag auf dem letzten Platz landete) “jetzt” tatsächlich “Konsequenzen” hat, wie es heute in der “Bild”-Zeitung steht, ob es also irgendwie gerechtfertigt ist, wenn “Bild” behauptet:
Tatsache ist, dass der für den Grand Prix zuständige NDR bereits gestern bekannt gab, der bisherige Grand-Prix-Verantwortliche Jürgen Meier-Beer höre “auf eigenen Wunsch” auf.
Tatsache ist auch, dass die Nachrichtenagentur ddp daraufhin schrieb:
“Meier-Beer unterstrich, sein Abgang habe nichts mit dem Grand-Prix-Debakel (…) zu tun (…). Die Gespräche über eine neue Aufgabe für ihn hätten bereits vor einem halben Jahr begonnen.”
Und der NDR legte heute, nach den “ARD feuert Grand-Prix-Chef”-Behauptungen, mit einer zweiten Pressemitteilung nach, in der es heißt:
“Spekulationen in Teilen der Presse, der NDR habe seinen Grand-Prix-Verantwortlichen strafversetzt oder gar gefeuert, entbehren jeder Grundlage (…). Tatsächlich hat Herr Dr. Meier-Beer bereits vor sechs Monaten darum gebeten, nach zehn Jahren mit einer neuen Aufgabe betraut zu werden. Zu diesem Zeitpunkt haben wir gemeinsam begonnen, seinen Wechsel vorzubereiten (…)”
Und wenn sich der NDR nun abermals (und derart ausdrücklich) an die Öffentlichkeit wendet und betont, die Personalie stehe “in keinem Zusammenhang mit dem Abschneiden der Sängerin Gracia beim ‘Eurovision Song Contest'”, dann sollte man sich den “Bild”-Text vielleicht doch noch einmal genauer anschauen. Schließlich findet man dort zwar jede Menge Ausrufezeichen (“Gracia Letzte! Miese Quote! Falsches Konzept!”, “Das brutale Grand-Prix-Debakel in Kiew, jetzt hat es Konsequenzen!”, “Die ARD feuert Grand-Prix-Chef Jürgen Meier-Beer (53)!”, “Null Punkte für den Ex-Unterhaltungs-Chef!”, “Sinkende Einschaltquote!”, “Katastrophales Ergebnis!”, “Hohe Kosten!”, “Falsches Auswahlsystem!”) — aber kein einziges Indiz für die Behauptung, Meier-Beer sei gefeuert worden.
Stattdessen findet man unter dem Stichwort “Traurige Fakten” den Satz:
2000 schauten noch 12 Millionen zu, dieses Jahr nur rund 7 Millionen.
Und das ist in der Tat traurig, weil es nämlich 2000 nicht “12 Millionen”, sondern 10,03 Millionen Zuschauer waren, was hier nur deshalb Erwähnung finden soll, weil “Bild” nicht einmal dort, wo sie ausdrücklich mit “Fakten” aufwartet, mit Fakten aufwartet.
Nachtrag, 18.6.2005:
Bild.de muss eine Gegendarstellung des NDR-Intendanten Jobst Plog u.a. veröffentlichen, in der es heißt, “daß Herr Dr. Meier-Beer bereits vor mehreren Monaten darum gebeten hat, mit einer neuen Aufgabe betraut zu werden und bereits vor Durchführung des ‘Eurovison Song Contest’ feststand, daß Herr Dr. Meier-Beer den Posten des „Grand-Prix-Chefs“ abgeben würde.” Der “Bild”-Artikel selbst ist online nicht mehr verfügbar.