1. Facebook nimmt “Compact” vom Netz (tagesschau.de, Sebastian Pittelkow & Katja Riedel)
Die in rechten Kreisen gern gelesene Verschwörungspostille “Compact” warb nicht nur im Heft, sondern auch in den Sozialen Medien für die Anti-Coronapolitik-Demo in Berlin. Nun habe Facebook den Facebook- sowie den Instagram-Account des Magazins ohne Ankündigung gelöscht. Die Begründung: “Compact” habe gegen das interne Regelwerk verstoßen. Ein schwerer Schlag für das Magazin, das bereits im März vom Verfassungsschutz als sogenannter Verdachtsfall eingestuft worden war und über seine Social-Media-Seiten auch Verkäufe generierte.
Weiterer Lesehinweis: “Fragen gelten als scharfe Waffe der Aufklärung. Aber Verschwörungserzähler, Rechtspopulisten und Twitter-Wichtigtuer beweisen: Manche dummen Fragen sind sogar gefährlich” – Das wird man ja wohl noch fragen dürfen!?, ein Essay von Maja Beckers (zeit.de).
2. Faktencheck zur Teilnehmerzahl (spiegel.de, Holger Dambeck)
Anlässlich der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen vom Wochenende gibt es erneut Streit um die Teilnehmerzahl. Die Veranstalter würden von Hunderttausenden oder gar von mehr als einer Million Teilnehmenden sprechen, laut Polizei seien knapp 40.000 Demonstrierende zugegen gewesen. Holger Dambeck ist dem Zahlenrätsel auf den Grund gegangen und hat nachgerechnet.
3. ARD-Kamerateam vorübergehend in Minsk festgenommen (faz.net)
Die Berichterstattung aus Belarus gestaltet sich zunehmend schwieriger. So wurde ein Kamerateam der ARD in der Hauptstadt Minsk vorübergehend festgesetzt, anschließend erfolgte der Entzug der Akkreditierung. Korrespondenten und Korrespondentinnen ausländischer Nachrichtenagenturen ging es ähnlich. Außenminister Heiko Maas, WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn und Deutsche-Welle-Chefredakteurin Manuela Kasper-Claridge verurteilten den Angriff auf die Pressefreiheit.
4. “Es wird noch härter” (sueddeutsche.de, Alexander Mühlauer)
In der britischen Printmedien-Landschaft droht ein gewaltiger Kahlschlag. Ein britisches Branchenmagazin führe Buch über die Stellenabbaupläne der Verlagshäuser: Beim linksliberalen “Guardian” würden demnächst 180 Jobs wegfallen, die Gratiszeitung “Evening Standard” wolle 69 redaktionelle Stellen streichen, und bei der größten britischen Zeitungsgruppe Reach (unter anderem “Daily Mirror” und “Daily Express”) sollen 550 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Haus verlassen.
5. Nichtlineare Radiozukunft (taz.de, René Martens)
Im Podcast “Corona Virus Update” (NDR) kommt zukünftig neben Christian Drosten eine weitere Stimme zu Wort: Sandra Ciesek ist Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt und wird sich mit Drosten wöchentlich abwechseln. Die “taz” hat sich mit der NDR-Hörfunkdirektorin Katja Marx nicht nur über diese Personalie unterhalten, sondern auch über Einsparmaßnahmen und den in wenigen Tagen stattfindenden Deutschen Radiopreis.
6. “Tagesthemen mittendrin”: Expedition ins Unbekannte (dwdl.de, Peer Schader)
Die “Tagesthemen” (ARD) sind ab heute fünf Minuten länger. In der neuen Regional-Rubrik “mittendrin” wolle man “die gesamte Republik” porträtieren und “Geschichten aufbereiten, die wir alle voneinander wissen sollten, um uns besser kennenzulernen”. Peer Schader hält dies für eine im Kern gute Idee, hat aber angesichts der bislang schon gelaufenen Testbeiträge Sorgen, was die Umsetzung betrifft: “Bei manchen Geschichten hab ich das Gefühl, sie werden nur deshalb erzählt, damit der Reporter im sächsischen Örtchen Amerika, wo die zu selten genutzte ÖPNV-Verbindung in die nächste Stadt gestrichen wird, den zurechtgelegten Satz sagen kann: ‘Heute Nachmittag fuhr der allerletzte Bus nach Amerika.'”
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben es nicht leicht in diesen Tagen. Laien behaupten, es besser zu wissen, oder kokettieren sogar damit, keine Ahnung zu haben, und lassen sich als Querköpfe feiern. Und dann schaltet sich, wenn’s ganz schlecht läuft, auch noch die “Bild”-Redaktion ein.
Der “Faktencheck” der beiden “Bild”-Redakteure Timo Lokoschat und Filipp Piatov ist bereits rund zwei Wochen alt. Aber ein genauerer Blick lohnt sich noch immer, denn der Beitrag zeigt, mit welch unsauberen Methoden die “Bild”-Medien arbeiten, wenn sie eine Person, in diesem Fall Karl Lauterbach, abschießen wollen: Sie zitieren falsch, sie reißen Studien aus dem Zusammenhang, sie überbetonen bestimmte Aspekte, lassen andere komplett weg.
Ein Check zum “Faktencheck”.
1. “Lockdown”
“Die Zahlen sind runtergegangen, weil der Lockdown kam”, behauptete Lauterbach im Talk bei Markus Lanz am Dienstag. Die Forscher der ETH Zürich widersprechen: In einer viel beachteten Studie schreiben sie, dass Ausgangssperren zu den “am wenigsten effektiven Maßnahmen” gehören. Auch den Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) zufolge sanken die Infektionszahlen bereits VOR dem Lockdown.
… schreibt “Bild”. Bereits in einem früheren Artikel (der auch aus anderen Gründen Unfug war) hat sich die Redaktion auf die Schweizer Studie berufen und sie, wie auch hier, falsch angewendet. In der Untersuchung der ETH Zürich (PDF) haben die Forscherinnen und Forscher genau definiert, was sie mit “Lockdown” meinen — nämlich nicht das, was in den meisten deutschen Bundesländern bis vor Kurzem galt. Die Definition der ETH:
Lockdown: Prohibition of movement without valid reason (e.g., restricting mobility except to/from work, local supermarkets, and pharmacies)
Nach dieser Definition gab es in Deutschland keinen flächendeckenden “Lockdown”. Klar, Karl Lauterbach nutzte den eigentlich unpassenden Begriff selbst, Lokoschat und Piatov griffen ihn letztlich nur auf. Aber die zwei “Bild”-Redakteure sind es, die ihn in den falschen Zusammenhang mit der Schweizer Studie bringen. Das, was dort unter “Lockdown” verstanden wird, die strikte Mobilitätseinschränkung, traf nur auf eine Handvoll Bundesländer zu, und das nicht mal die ganze Zeit. Die Maßnahmen, die hingegen tatsächlich bundesweit galten, unter anderem das Versammlungsverbot, Grenzschließungen, die Schließung von Kinos, Theatern und Konzertsälen sowie die Schließung von nicht systemrelevanten Betrieben, zählt die Studie zu den “effektivsten Maßnahmen”. Diese Maßnahmen dürfte Lauterbach auch mit “Lockdown” gemeint haben.
Die Behauptung von Lokoschat und Piatov, die Infektionszahlen seien laut RKI schon vor dem “Lockdown” gesunken, ist rein statistisch durchaus zutreffend. Aber erstens ist das kein Beweis dafür, dass die Maßnahmen nichts gebracht hätten. Und zweitens verkennen die “Bild”-Autoren einen wichtigen Punkt: Mit “Lockdown” müssten sie die am 22. März beschlossenen bundesweiten Kontaktbeschränkungen meinen, die am 23. März in Kraft traten. In den Zahlen des RKI erkennt man tatsächlich nach einem Höhepunkt am 16. März einen Rückgang der Erkrankungsfälle (allerdings nur einen leichten auf hohem Niveau), also eine Woche vor der Einführung der Kontaktbeschränkungen. Bloß: Auch schon vor dem 23. März gab es Maßnahmen, die später zum “Lockdown” gezählt wurden — etwa die Absage von Großveranstaltungen (9. März) oder das Schließen der meisten Schulen und Kitas (16. März). Auch die Mobilität der Menschen verringerte sich bereits vor den Kontaktbeschränkungen erheblich. All das hatte schon vor dem 23. März eine Wirkung, wie Ranga Yogeshwar in einem Video anschaulich erklärt.
2. Italienische Zustände
“80% unseres Erfolgs waren die Horrorbilder aus Italien!”, lobt Lauterbach die Vollalarm-Stimmung, die Deutschland im März in den Stillstand versetzte. Damit ist er nicht allein: Auch RKI-Chef Lothar Wieler (59) mahnte mehrmals, dass Deutschland “einfach nur 1–2 Wochen vor Italien” sei. Doch von italienischen Zuständen war in Deutschland glücklicherweise zu keinem Zeitpunkt etwas zu sehen.
… schreibt “Bild”. Erstmal: Lokoschat und Piatov zitieren hier unsauber. Lauterbach sprach nicht von “Horrorbildern”, sondern von “bestürzenden Bildern”. Und er lobte damit auch nicht die “Vollalarm-Stimmung” in Deutschland, sondern versuchte, mit diesem Beispiel zu erklären, warum es aus seiner Sicht hier nicht so schlimm gekommen ist wie in anderen Ländern:
Wir haben diese Hotspots in Deutschland nicht gesehen. Haben wir ja nicht gesehen. Wir hatten Gangelt. Und wir hatten also Webasto in München. Aber wir haben zum Beispiel diese Hotspots in den Restaurants (…) nicht gesehen, haben bei uns keine Rolle gespielt. (…) Und zwar deshalb, weil wir zu dem Zeitpunkt, wo wir noch nicht viele Infektionen hatten, die Bilder aus Italien hatten. 80 Prozent unseres Erfolgs sind die Bilder, die bestürzenden Bilder aus Italien gewesen. Und dann haben wir sozusagen schon alles dicht gemacht, bevor viele infiziert waren.
Karl Lauterbach nennt als Grund dafür, dass die Situation in Deutschland nicht so dramatisch wurde wie in anderen Ländern, etwa in Italien, dass “wir” als Warnung “die Bilder aus Italien hatten.” Lokoschat und Piatov machen daraus: Was redet der Lauterbach denn von “Horrorbildern aus Italien”? Das war hier doch alles gar nicht so schlimm wie in Italien! Eigentlich stützen sie damit unfreiwillig Karl Lauterbachs These — sie liefern ein Beispiel für das Präventionsparadoxon: Greifen Maßnahmen und bleiben dadurch schlimme Folgen aus, entwickelt sich schnell eine Stimmung: Waren diese Maßnahmen, dieser “Vollalarm”, dieser “Stillstand” jetzt wirklich nötig? War doch alles gar nicht so schlimm!
Lauterbach beschreibt etwas später in der Lanz-Sendung genau das, was “Bild” mit seinem Zitat anstellt (inklusive dem oben bereits zitierten “Lockdown”-Zitat):
Das höre ich oft und das sage ich jetzt, weil Sie es gesagt haben, das höre ich aber auch bei anderen oft: “Das, was ihr gesagt habt, ist doch alles nicht eingetreten.” Die Epidemiologen, die Wissenschaftler werden da so ein bisschen diffamiert, so nach dem Motto: “Ihr hattet Unrecht, es ist doch gar nicht so dick gekommen.” (…) Wir haben nie gesagt, dass die Katastrophe kommt, wenn wir den Lockdown machen. Wir haben gesagt, die Katastrophe kommt nicht, wenn wir den Lockdown machen. Genau das ist passiert. Wir haben sozusagen das erreicht, was wir wollten. Die Zahlen sind runtergegangen, weil der Lockdown kam. (…)
Daher darf nicht der Eindruck entstehen, dass die Wissenschaftler etwas hier in Deutschland vorhergesagt hätten, was dann nicht gekommen ist. Es diffamiert die Arbeit, die wir gemacht haben. Das ist der Erfolg unserer Arbeit, dass das nicht gekommen ist. Es gibt diesen Spruch: Die Epidemiologie hat keine Helden. Weil ich den vermiedenen Tod nachher gratis nehme und nicht sehe, was sonst passiert wäre.
3. Schweden
“Völlig verantwortungslos”, urteilt Lauterbach über Schweden und wähnt sich damit in der Gesellschaft “aller Epidemiologen”. Hintergrund: Das Königreich verzichtete auf Ausgangsbeschränkungen, setzte auf Vernunft und Freiwilligkeit seiner Bürger. Ein Krankenhaus-Kollaps blieb in Schweden aus. Über die Bewertung der schwedischen Zahlen sind sich keineswegs “alle Epidemiologen” einig. Weltweit und mit unterschiedlichen Ergebnissen wird der Sonderweg des Landes auch von der Fachwelt debattiert.
… schreibt “Bild”. Und lässt hier mehrere Aspekte weg. Allen voran die hohen Todeszahlen in Schweden. So berichtete der “Tagesspiegel” am selben Tag, an dem auch der “Bild”-Artikel erschien:
Das Land [Schweden] verzeichnet pro eine Million Einwohner mit fast 289 Todesfällen deutlich mehr als beispielsweise die Nachbarländer Norwegen, Dänemark oder Finnland. Auch im Vergleich mit Deutschland (87,7) liegt die Sterberate mehr als dreimal so hoch.
Inzwischen liegt dieser Wert für Schweden bei über 360 Toten pro eine Million Einwohner (in Belgien, Spanien, Italien, Großbritannien und Frankreich ist er noch höher – für Deutschland liegt er aktuell bei ungefähr 96). Würde man den schwedischen Wert auf Deutschlands Einwohnerzahl übertragen, hätten wir hier nicht, wie aktuell, etwa 8000 Tote, sondern fast 30.000.
Dass in Schweden die Zahl der Verstorbenen pro eine Million Einwohner um ein Vielfaches höher ist als in Deutschland, argumentiert auch Karl Lauterbach bei Markus Lanz, wenn er von “völlig verantwortungslos” spricht. Timo Lokoschat und Filipp Piatov lassen das aber einfach unter den Tisch fallen.
Auch das Scheitern des schwedischen Vorhabens, die Alten zu schützen, bleibt bei “Bild” unerwähnt: In Schweden starben besonders viele Menschen in Alten- und Pflegeheimen, wie die “Süddeutsche Zeitung” vergangene Woche konstatierte.
Die Schweden-Affinität der “Bild”-Redaktion in der Corona-Krise ist auch drüben bei “Übermedien” Thema.
4. Aerosole
Teil von Lauterbachs bedrohlichen Szenarien in der Lanz-Sendung sind “Aerosole” — Corona-Wölkchen, die bis zu sieben Stunden in der Luft schweben und Infektionen auslösen würden, wie der SPD-Politiker erläutert. Das steht zumindest im Widerspruch zu dem, was das Robert-Koch-Institut schreibt: Eine Übertragung über Aerosole sei im normalen gesellschaftlichen Umgang “nicht wahrscheinlich”, urteilen die RKI-Experten Ende April mit Verweis auf bisherige wissenschaftliche Untersuchungen.
… schreibt “Bild”. So sicher, wie Lokoschat und Piatov hier tun, war sich das Robert-Koch-Institut zu dem Zeitpunkt aber gar nicht:
Auch wenn eine abschließende Bewertung zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich erscheint, weisen die bisherigen Untersuchungen insgesamt darauf hin, dass eine Übertragung von SARS-CoV-2 über Aerosole im normalen gesellschaftlichen Umgang nicht wahrscheinlich ist.
“Eine abschließende Bewertung” erscheine “zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich”. So eine Nuancierung ins Ungewisse mag unerheblich wirken, gerade in diesem Fall stellt sie sich im Nachhinein aber als relevant heraus. Denn das RKI änderte seine Einschätzung inzwischen gewissermaßen ins Gegenteil, auch wenn “eine abschließende Bewertung zum jetzigen Zeitpunkt” immer noch “schwierig” sei. Mittlerweile heißt es:
Auch wenn eine abschließende Bewertung zum jetzigen Zeitpunkt schwierig ist, weisen die bisherigen Untersuchungen insgesamt darauf hin, dass SARS-CoV-2-Viren über Aerosole auch im gesellschaftlichen Umgang in besonderen Situationen (s. o.) übertragen werden können.
Diese Neubewertung veröffentlichte das RKI am 7. Mai. Also genau an dem Tag, an dem der “Bild”-Artikel über Karl Lauterbach erschien (bei Bild.de wurde er am Abend vorher veröffentlicht). Lokoschat und Piatov konnten beim Schreiben ihres Textes davon freilich nichts wissen. Aber schon da war das RKI beim Thema Aerosole nur eine unter mehreren Quellen: Der Virologe Christian Drosten nahm in seinem Podcast bei NDR Info bereits am 6. April Bezug auf eine Studie, auf die sich unter anderem auch die erste Einschätzung des RKI stützte. Drosten war hier eher unschlüssig (PDF):
Genau. Wir wissen nicht, wie das speziell bei diesem Virus ist. Also es gibt eine Studie zum Beispiel im “New England Journal”, die ist vor ungefähr drei Wochen schon erschienen. Die sagt, im Aerosol ist dieses SARS-2-Virus ungefähr drei Stunden lang noch infektiös. Dazu muss man aber dann auch sagen, dass die Autoren, die das publiziert haben, ein künstliches Virusaerosol mit einer ganz hohen infektiösen Viruskonzentration hergestellt haben. Da kann sich niemand sicher sein, ob das wirklich dem entspricht, was ein infizierter Patient wirklich von sich gibt.
Karl Lauterbach erwähnt bei Markus Lanz eine weitere Studie, nach der in einem Restaurant im chinesischen Guangzhou eine Person Menschen angesteckt habe, die gar nicht mit ihr an einem Tisch saßen. Das sei durch die Luftverteilung durch eine Klimaanlage begünstigt worden. Beide Studien werden in dem “Bild”-Artikel nicht erwähnt. Auch ein Beitrag der “Washington Post” von Ende April thematisierte die unsichere Faktenlage in Bezug auf Aerosole. Es ist also nicht so, als hätten Timo Lokoschat und Filipp Piatov beim Schreiben ihres Artikels nicht genügend Informationen für eine differenziertere Darstellung der Sachlage zur Verfügung gehabt.
Virologe Drosten ist in seiner Einschätzung zur Bedeutung von Aerosolen im Übrigen mittlerweile deutlicher, auch weil es einen neuen Report der US-amerikanischen Akademie der Wissenschaften zum Thema gibt. In der Podcast-Folge vom 12. Mai sagte er, dass er die Ansicht Lauterbachs, was die Aerosol-Infektionen angeht, teile (PDF):
Und die Infektiosität kann tatsächlich für mehrere Stunden bleiben. Da hat also Herr Lauterbach vollkommen Recht.
Auch das ist natürlich nicht in Stein gemeißelt — neue Studien können neue Erkenntnisse bringen.
5. Restaurants
Für Lauterbach ist in der Sendung von Markus Lanz klar: Restaurants wären “Brandbeschleuniger der Pandemie”, würden die Ausbreitung des Corona-Virus stark vorantreiben. Zweifel an den eigenen Aussagen? Keine.
Dabei hatte Hendrik Streeck (42), Professor für Virologie und Direktor des Instituts für Virologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn, vor vier Wochen bei Lanz erklärt: “Wir sehen, wie die Infektionen stattgefunden haben. Das war nicht im Supermarkt oder im Restaurant oder beim Fleischer. Das war auf den Partys beim Aprés (sic) Ski in Ischgl, im Berliner Club ‘Trompete’, beim Karneval in Gangelt und bei den ausgelassenen Fußballspielen in Bergamo.”
… schreibt “Bild”. Während Timo Lokoschaft und Filipp Piatov es so wirken lassen, als wäre Lauterbach generell gegen die Öffnung von Restaurants (was auch wunderbar zu ihrem Einleitungssatz passt: “Wenn es nach Karl Lauterbach (57, SPD) geht, haben alle Fragen eine einzige Antwort: Lockdown.”), sagt dieser in der Sendung von Markus Lanz, dass er es bei Beachtung von Hygieneregeln “schon für denkbar” halte, “dass die Gastronomie wieder öffnen kann.” Das verschweigen die “Bild”-Autoren allerdings.
Genauso wie sie in ihrem Artikel übrigens kein einziges Mal erwähnen, dass Karl Lauterbach Epidemiologe ist, dazu noch einer, der in Harvard studiert hat. Dieses Detail würde aber auch nicht so gut in ihre irreführende, als “Faktencheck” gelabelte Meinungsmache passen.
1. Die 15 häufigsten Gerüchte und Theorien zum Coronavirus im Faktencheck (correctiv.org, Alice Echtermann)
Vor allem in den Sozialen Medien kursieren rund um das Coronavirus die unterschiedlichsten Gerüchte und Theorien zur Entstehung und Ausbreitung des Erregers. Das reicht von schlichten Falschaussagen bis hin zu abenteuerlichen Behauptungen, die kunstvoll zu Verschwörungstheorien verwoben werden. “Correctiv” hat sich “die 15 häufigsten Gerüchte” vorgeknöpft und sie auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht.
2. EU-Kommissions-Chefin Ursula von der Leyen: Immer Ärger um ihre Berater (aargauerzeitung.ch, Remo Hess)
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lässt sich in Sachen Social Media von der umstrittenen PR-Agentur “Storymachine” beraten. Die Tätigkeit sei jedoch nirgendwo offiziell festgehalten, sondern basiere auf einem Vertrag, den von der Leyen “in privater Kapazität” abgeschlossen habe. Zu den Kosten wolle sie sich nicht äußern, außer dass sie “nicht nennenswert” seien. Lobbywächter und Transparenz-Verfechter halten die Vorgehensweise der Kommissionspräsidentin für problematisch.
3. Kriegsherren, Erklärbären, Sunnyboys: Männer für die Krise (uebermedien.de, Annika Joeres & Susanne Götze)
In Krisenzeiten werde oft nach dem “starken Mann” gerufen. Das mache sich auch in vielen Medien bemerkbar. Annika Joeres und Susanne Götze sprechen in diesem Zusammenhang von der “Reproduktionsschleife der Ungleichheit”: “Zwar tut es allen leid, aber am Ende reproduziert sich das männlich dominierte System so immer wieder selbst: Männer empfehlen Männer, die dann auffallen und von Männern aufgegriffen werden. Die Medien sind dabei Helfershelfer der Ungleichheit.”
4. Staatshilfen für private Medien? (deutschlandfunk.de, Sören Brinkmann, Audio: 5:10 Minuten)
Derzeit kämpfen viele Verlage und Medienhäuser mit den Auswirkungen der Corona-Krise. Nun haben einige Bundesländer direkte Hilfen angekündigt, was auf der Empfängerseite recht unterschiedlich aufgenommen wird: Private Rundfunkanbieter würden die Unterstützung befürworten, Verlage seien aus Sorge vor einer möglichen Einflussnahme oft zurückhaltend.
5. G20-Akkreditierungen rechtswidrig entzogen (mmm.verdi.de)
Im Rahmen des G20-Gipfels 2017 in Hamburg wurden einigen Journalistinnen und Journalisten die Presseakkreditierungen entzogen. Dies war im Fall von sechs Betroffenen, die dagegen geklagt haben, rechtswidrig. Das Verwaltungsgericht Berlin habe ihnen daraufhin sogenannte Anerkenntnisurteile zugestellt. Zwei weiteren Journalisten habe man dies schon im November 2019 bestätigt.
6. Bloß nicht zu ernst (sueddeutsche.de, Theresa Hein)
Theresa Hein hat sich im Kinderfernsehen umgeschaut und geguckt, wie dort thematisch mit dem Coronavirus umgegangen wird. Es geht vor allem um die Frage: “Wie bleibt man gleichzeitig unterhaltsam, macht aber auf den Ernst der Lage aufmerksam — und dabei auch keine Angst?”
1. Streeck, Laschet, StoryMachine: Schnelle Daten, pünktlich geliefert (riffreporter.de, Christian Schwägerl & Joachim Budde)
Die “Riffreporter” haben in einem längeren Lesestück die Vorgänge um das sogenannte “Heinsberg Protokoll” rekonstruiert. Eine lesenswerte Chronologie und Analyse mit erschreckenden Erkenntnissen: “Es ist Laschet, Streeck und StoryMachine gelungen, in der politischen Themen- und Prioritätensetzung neue Fakten zu schaffen und Aufmerksamkeit vom Lockdown auf den Exit umzulenken. Doch das PR-Bündnis hat einen Preis: Die Kritik an der Seriosität des Vorgehens.”
2. Traue keiner Statistik, …? (spiegel.de, Marcel Pauly & Patrick Stotz)
Die Berichterstattung über das Coronavirus basiert häufig auf Zahlen. Doch welche Datenquellen und welche Messgrößen werden verwendet? Der “Spiegel” erklärt, woher die Daten kommen, wie aussagekräftig die Infiziertenzahlen sind, welche Kennzahlen für die Ländertabelle verwendet werden, und beantwortet weitere Fragen zum Umgang mit den Covid-19-Zahlen.
3. Was machen all diese Politiker in einem Aufzug? (hessenschau.de)
Im ganzen Land heißt es Abstand halten, aber ausgerechnet die, die es besser wissen müssten, quetschen sich in einen proppenvollen Aufzug. Mit dabei: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, Kanzleramtsminister Helge Braun, Ministerpräsident Volker Bouffier, Regierungssprecher Michael Bußer (alle CDU) und Hessens Gesundheitsminister Kai Klose (Grüne), dazu noch mindestens sechs weitere Personen. Das Foto der irren Szene sorgte in den Sozialen Medien für allerlei Gesprächsstoff: von kritischen Anmerkungen bis hin zu spöttischen und lakonischen Bemerkungen.
4. Susanne Gaschke fragt sich, ob Corona der neue Hitler ist (uebermedien.de, Jürn Kruse)
Gefallen sich die Deutschen tatsächlich “in 150-prozentigem Corona-Gehorsam”, wie von Susanne Gaschke in der “NZZ” behauptet? Jürn Kruse hat sich den Artikel absatzweise vorgenommen und die darin enthaltenen Vorwürfe und Unterstellungen (“Totalitarismus”, “Ermächtigungsgesetz”, “Unterwerfung”) seziert.
5. Forum Recht, Ausgabe “Don’t @ me” (1/2020) (forum-recht-online.de)
“Forum Recht” ist ein rechtspolitisches Magazin, das vom Bundesarbeitskreis kritischer Juragruppen sowie einem Trägerverein herausgegeben und vor allem von Studierenden, Referendarinnen und Referendaren gefüllt wird. Die aktuelle Ausgabe widmet sich dem Thema Social Media: Wie agieren Menschen und staatliche Akteure in den Sozialen Medien? Und wie kann das Recht darauf reagieren? Das Heft steht jetzt zur freien Online-Lektüre bereit.
6. Sonja Zietlow irritiert mit Facebook-Posts zum Coronavirus (rnd.de, Matthias Schwarzer)
In den vergangenen Tagen postete die prominente RTL-Moderatorin Sonja Zietlow (“Dschungelcamp”) allerlei Seltsamkeiten auf ihrem verifizierten Facebook-Kanal und lockte damit Verschwörungstheoretiker der unterschiedlichsten Couleur an. Am Ostersonntag veröffentlichte sie eine Liste mit Personen aus Medizin und Forschung, die ihrer Auffassung nach in der Gesellschaft als “Verschwörungstheoretiker” gelten würden. Das Problem: Viele davon hatten tatsächlich fragwürdige oder gänzlich widerlegte Aussagen über das Coronavirus verbreitet. “Wer nicht als Verschwörungstheoretiker gilt”, so Zietlow weiter in ihrem Post: “Prof. Dorsten (!), Lothar Wieler RKI, Bill Gates, Spahn.” Der Spuk scheint jedoch beendet, zumindest vorerst: Zietlows Facebookseite ist seit gestern Abend nicht mehr erreichbar.
Kaum ein Politikjournalist ist gerade in den Medien so präsent wie der stellvertretende Chefredakteur Politik der “Welt” Robin Alexander. Vor allem in Talkshows gibt er den Politik-Erklärer. Bei “Übermedien” hat Arno Frank den “Politischen Journalisten des Jahres” 2017 nach dessen Selbstverständnis und dessen Haltung befragt. Gleich mehrmals behauptet Alexander, dass seine persönliche Haltung keine Rolle spiele. Hier etwa:
Persönlich hältst du also Äquidistanz? Keine politischen Vorlieben?
Ich entscheide danach, welche Geschichte stimmt.
Oder ein paar Fragen später:
Also gar keine Versuchung, sozusagen selbst in dieses Rad zu greifen oder den Dingen eine andere Richtung zu geben?
Ich wüsste gar nicht, welche.
Nochmal:
Sagen, was ist?
So ist es.
Es muss aber doch auch eine Haltung geben, die hat doch jeder!
Der Journalismus liefert Informationen für die offene Gesellschaft. Haltungen gibt es auch anderswo.
An anderer Stelle im Interview beschreibt Alexander, wie er sich frei macht vom “Spin” im politischen Journalismus, also von den Versuchen der politischen Akteure, ein Thema in eine bestimmte Richtung zu drehen:
Du bekommst also eine SMS, wo der Fakt einen Spin hat. Dann fragst du ein paar andere Teilnehmer: “Wie haben Sie es gehört?” Zwei sagen so, drei sagen so. Und dann schreibst du: Die einen haben dies gehört, die anderen jenes.
Ich behaupte, dass Robin Alexander in diesem Interview unwidersprochen ziemlich viel Unsinn erzählt. Zumindest in bestimmten Politikgebieten offenbart er nicht nur eine eindeutige Haltung; er betreibt auch selbst ziemlich abgebrühtes Spinning. Er manipuliert, dreht sich Zitate, Zeitabläufe und Fakten so zurecht, dass diese seine Haltung unterstützen. Ich kann nicht beurteilen, wie symptomatisch das ist, ob er das generell so macht, also ob er bei seiner Arbeit notorisch manipuliert. Aber zumindest bei einem Thema kann ich das sehr gut beurteilen, weil ich Teil einer seiner Geschichten um dieses Thema bin. Und da es nicht irgendein Thema ist, sondern eines, das offensichtlich symptomatisch für seine Sicht auf den Hauptstadtjournalismus ist, möchte ich seinen Spin hier etwas geraderücken.
Alexander nutzt im Interview die Schilderung der medialen Berichterstattung um den Karnevalswitz von Annegret Kramp-Karrenbauer Anfang März dieses Jahres dazu, um eine grundsätzliche Aussage über das Funktionieren medialer Berichterstattung zu treffen:
Es sind darüber Artikel erschienen, die ihren Auftritt super fanden. Und zweieinhalb Tage später steht im Nollendorfblog ein Text von einem Autor, den ich gar nicht kenne, gegen den ich auch nichts habe, aber der erkennbar sauer auf Kramp-Karrenbauer ist.
Wegen des Witzes?
Eher, weil sie mal gegen die Ehe für alle war. Als fast alle in der CDU noch dagegen waren, by the way. Und dieser Autor schreibt sinngemäß, die Aussage von AKK sei das Schlimmste, was in Deutschland seit 1945 gesagt wurde. Was ich für eine sehr gewagte These halte. Ich habe nichts dagegen, dass das in irgendeinem Blog steht! Ich habe auch nichts dagegen, dass es in der “taz” steht. Was ich aber problematisch finde: Angesicht dieser Empörung vom Rand fallen in der Mitte nun alle, alle um und beginnen mit zweitägiger Verspätung, sich ebenfalls zu empören! Es ändert also der gesamte Betrieb wegen eines einzigen Empörten seine Meinung. Und das kann nicht sein.
Es mag kleinlich wirken, hier all die Dinge aufzuzählen, die an dieser Schilderung nicht stimmen. Aber die Sache, über die wir hier reden, ist keine Kleinigkeit. Einer der “wichtigsten Politik-Erklärer” (“Übermedien” über Robin Alexander bei Facebook) erklärt hier die Hintergründe einer Mediengeschichte, die laut seiner eigenen Einschätzung dazu geführt hat, dass eine der wichtigsten Politikerinnen und Politiker Deutschlands in der öffentlichen Wahrnehmung plötzlich völlig anders beurteilt wird. Und er erklärt sie eben falsch.
All das, was Theaterautor, Blogger und Marketingexperte Johannes Kram schon so gemacht hat, würde nicht in diese Box passen. Deswegen hier unvollständig und im Schnelldurchlauf: Nicht nur, aber auch wegen seiner Medien-Kampagne ist Guildo Horn zum “Eurovision Song Contest” gekommen. In seinem neuen Buch “Ich hab ja nichts gegen Schwule, aber” prangert er die “schrecklich nette Homophobie” auch in den Medien an. Für seinen “Nollendorfblog” bekam er eine Nominierung für den “Grimme Online Award”, er selbst erhielt 2018 den Tolerantia Award. Und mit “Seite Eins — Theaterstück für einen Mann und ein Smartphone” hat er Boulevard-Kritik auf die Bühne gebracht. Dafür ein herzliches Dankeschön vom BILDblog.
Also:
Es stimmt nicht, dass der von Alexander erwähnte Blogbeitrag mit dem von ihm erwähnten “1945”-Zitat die “Empörung” verursachte, sondern ein Facebook-Post von mir. Als der Blogbeitrag einen Tag nach diesem Facebook-Post erschien, war der Witz schon längst Thema in den aktuellen Medien. In vielen Berichten und Agenturmeldungen ist auch zu lesen, dass es eben nicht mein Blog war, sondern mein Facebook-Beitrag, der die Berichterstattung ins Rollen brachte. In diesem Posting spielt das von Alexander angeführte Zitat, das angeblich die Empörung verursachte, überhaupt keine Rolle — es kommt darin nicht vor.
Es stimmt nicht, was Alexander über das Zitat im Blog behauptet. Seine Aussage “dieser Autor schreibt sinngemäß, die Aussage von AKK sei das Schlimmste, was in Deutschland seit 1945 gesagt wurde” ist zumindest grob irreführend, auf jeden Fall aber manipulativ. Wie “Übermedien” nachträglich kenntlich machte, habe ich tatsächlich geschrieben: “Hat es das nach 1945 schon einmal gegeben, dass ein aussichtsreicher Bewerber, eine aussichtsreiche Bewerberin um das Kanzleramt so hemmungslos diese niederen Instinkte bedient?”
In meinem (wie gesagt: nach der “Empörung” geschriebenen) Blogbeitrag ging es also nicht um ganz Deutschland, sondern um potenzielle Kanzlerkandidatinnen und Kandidaten. Und es ging nicht um “das Schlimmste, was (…) gesagt wurde”, sondern um das Bedienen niederer Instinkte. Ich vertrete in dem Beitrag die These, dass selbst einem Franz Josef Strauß so etwas — also eine solche Äußerung wie die von Kramp-Karrenbauer — nicht passiert wäre, “dass dieser ein Niveau hatte, um eine Grenze wusste, die man nicht übertritt: Sich genau auf Kosten einer der Minderheiten zu profilieren, die aufgrund der Mißstände in dieser Gesellschaft besonders verletzlich ist. Und diese dann auch noch genau da zu bespotten, wo sie am verletzlichsten ist.”
Nun kann man diese These natürlich für Blödsinn halten, sie ablehnen und kritisieren. Aber mir einfach eine andere These zu unterstellen, zu behaupten, da stünde sinngemäß, “die Aussage von AKK sei das Schlimmste, was in Deutschland seit 1945 gesagt wurde”, ist so ziemlich das Gegenteil von “sagen, was ist”, also dem Leitsatz, dem sich Alexander nach eigener Aussage verpflichtet fühlt.
In einem Beitrag für die “Welt” hatte er sich vorher schon einmal an meinem Zitat abgearbeitet und damals sogar versucht, mir dieses aufgrund der Formulierung “seit 1945” als “Nazi-Vergleich” in Bezug auf Kramp-Karrenbauer unterzujubeln. Dass er zumindest diesen Punkt im Interview mit “Übermedien” nicht wiederholt, mag damit zu tun haben, dass ich ihn darauf hingewiesen hatte, wie er selbst die “seit 1945”-Formulierung benutzt. Etwa in einem Artikel für die “Welt” über den damaligen Unions-Fraktionschef Volker Kauder und das Thema Werbeverbot für Abtreibungen:
Kauder tat nicht, was jeder Vorsitzende jeder Fraktion seit 1945 in so einer Situation getan hätte: Auf den Koalitionsvertrag verweisen
(Hervorhebung durch den Autor.)
Es stimmt nicht, was Robin Alexander über meine Kritik an Kramp-Karrenbauers Position zur Ehe für alle behauptet. Seine Aussage im “Übermedien”-Interview, mit der er meine Motivation, mich über den Karnevalswitz aufzuregen, zu erklären versucht, ist ebenfalls eine ziemlich dreiste Verdrehung: Ich sei ein Autor, der “erkennbar sauer” auf die CDU-Parteivorsitzende sei, “eher, weil sie mal gegen die Ehe für alle war.” Ich habe sehr erkennbar Annegret Kramp-Karrenbauer nie dafür kritisiert, dass sie gegen die Eheöffnung war, sondern immer dafür, wie sie diese Haltung begründet hat. Und ich habe deutlich gemacht, dass die Position selbst in der CDU eine extreme gewesen ist.
Es stimmt deshalb auch nicht, wenn Robin Alexander behauptet, dass “sie mal gegen die Ehe für alle war. Als fast alle in der CDU noch dagegen waren, by the way“, auch weil Kramp-Karrenbauer ihre grundsätzliche Position zur Ehe für alle nie revidiert hat. Sogar im September noch, auf mehrmalige Nachfrage, ob sie “ihren Frieden” mit der Eheöffnung gemacht habe, wollte sie dieses nicht bejahen und gab lediglich zu Protokoll, die gesetzlichen Bestimmungen hierzu durchsetzen zu wollen.
Es stimmt nicht, wenn Robin Alexander sagt: “Es ändert also der gesamte Betrieb wegen eines einzigen Empörten seine Meinung.” Bevor der “gesamte Betrieb”, also die nicht-queeren Medien über das Thema berichteten, taten das die wichtigsten queeren Medien, als erstes das Online-Portal queer.de, dessen Reichweite in der LGBTI-Community enorm ist und das im Nachrichtensektor als das unbestrittene Leitmedium gilt. Noch am selben Tag meines Facebook-Posts, also bevor “der gesamte Betrieb” losging, hatten sich bereits der queerpolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion Sven Lehmann und Berlins Kultursenator Klaus Lederer kritisch zu Kramp-Karrenbauers Witz geäußert. Es stimmt, dass der Witz vor meinem Facebook-Post untergegangen war. Aber als ich ihn in dem Sozialen Netzwerk dann öffentlich machte, war die Reaktion fast der gesamten Community die gleiche: Dass es sich um eine krasse Grenzüberschreitung auf Kosten von Minderheiten handele und dass man diese einer potenziellen Kanzlerkandidatin nicht durchgehen lassen dürfe.
Problematisch finde ich nicht nur, dass und wie Robin Alexander in dieser Sache die Fakten verdreht. Problematischer noch finde ich, dass hinter all dem eben doch eine Haltung, eine politische Agenda steckt, die er hier versucht, als neutrale Faktenberichterstattung zu camouflieren. Er desinformiert nicht nur, er propagiert eine politische Position und erklärt diejenigen, die diese Position nicht vertreten, zum “Rand”. Denn natürlich kann man der Meinung sein, ein solcher Witz einer möglichen Kanzlerkandidatin sei nicht so schlimm und verdiene nicht diese Aufmerksamkeit. Aber das ist eben eine Haltung. Und so zu tun, als stamme die Aufregung darüber nur von einem Einzelnen, ist nicht nur falsch, sondern Propaganda.
Alexanders Gesamterzählung ist eine Art Täter-Opfer-Umkehr. Er verbindet sie mit der Kritik an Kramp-Karrenbauers Position zur Ehe für alle und erweckt so den Anschein, dass die CDU-Politikerin ohne triftige Gründe angegangen wurde. Deshalb zur Erinnerung: Kramp-Karrenbauer argumentierte nicht wie “fast alle in der CDU”. Sie hat bis heute ihrer Aussage, hinsichtlich der Ehe für alle müsse man im Blick behalten, “dass das Fundament unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts dadurch nicht schleichend erodiert”, nicht widersprochen. Sie suggeriert also, dass die gleichen Rechte für eine Minderheit eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen. Auch das muss man nicht problematisch finden. Aber es ist eben eine Haltung, es nicht problematisch zu finden. Und die, die es problematisch finden, zum gesellschaftlichen “Rand” zu erklären, ist es ebenfalls.
Falsch ist auch Alexanders Behauptung: “Angesicht dieser Empörung vom Rand fallen in der Mitte nun alle, alle um und beginnen mit zweitägiger Verspätung, sich ebenfalls zu empören!” Denn natürlich war es nicht so, dass “alle” “umgefallen” sind. Ja, es gab eine breite Berichterstattung, aber dieKommentierungwarhöchstunterschiedlich. Hinter der Formulierung, alle seien umgefallen, steckt die Unterstellung, Medien seien hier vor homosexueller Meinungsmacht eingeknickt. Dabei hat sich ein beachtlicher Teil der veröffentlichten Meinung eben nicht über Kramp-Karrenbauer empört, sondern über dieihrerMeinungnachungerechtfertigteEmpörung.
Alexander spinnt sich hier eine Geschichte zurecht, die zwar vorgeblich nur einen Homosexuellen, tatsächlich aber einen Großteil der queeren Community an den “Rand” stellt. Dabei lässt er so ziemlich alle journalistischen Grundsätze sausen, die er an gleicher Stelle für sich proklamiert. Er prangert eine angeblich maßlose Empörung an, aber in Wahrheit ist er es, der maßlos an den Fakten herumbastelt, so, dass man sich möglichst gut über sie empören kann. Wenn Robin Alexander wirklich einer der wichtigsten deutschen Politik-Erklärer ist, dann sollte man sich um die Politik-Erklärerei in Deutschland wirklich Sorgen machen.
Wir sind selbstbewusst genug zu glauben, dass es genug Menschen gibt, die lieber das schauen, was »Bild« zeigt, als etwas anderes.
Auf die Frage von “Spiegel”-Redakteurin Isabell Hülsen, was “Bild” als TV-Sender denn könne, was andere nicht längst können und machen, sagt er:
Reichelt: Exklusive News zeigen und emotionale Geschichten erzählen. Man kann natürlich sagen, das bieten andere auch schon. Die Wahrheit ist: Die meisten Fernsehsender machen das, was wir uns vorstellen, eben nicht. Aus dem brennenden Amazonasgebiet, so wie wir zuletzt, sendet nicht jeder.
SPIEGEL: Vielleicht nicht mit acht Reportern wie »Bild«, aber etliche Sender haben durchaus direkt vor Ort berichtet.
Reichelt: Ja, aus dem Hotelzimmer. Aber nicht mit mehreren Teams, die im brennenden Regenwald stehen und mit Menschen reden, um die herum alles gerodet wird. Ich habe nicht das Gefühl, dass es diese menschliche Geschichte im Nachrichtenangebot gab.
Nun, blöderweise hat er da falsch gefühlt. Die ARD zum Beispiel stand auch im brennenden Regenwald und redete mit Menschen:
Genauso RTL:
Auch das ZDF war vor Ort:
Und Stern-TV schickte gar Ex-DSDS-Jurorin Fernanda Brandão los, um mit Amazonas-Bewohnern über ihre Gefühle zu reden:
Wenn das nicht der Gipfel des menschlichen Fernsehens ist, dann wissen wir auch nicht.
Aber das alles passt natürlich nicht in Reichelts Erzählung.
Die Fernsehsender, so der “Bild”-Chef, vor allem die Öffentlich-Rechtlichen, würden über einige wichtige Dinge gar nicht berichten. Die Medien und die Politik hätten “das Gefühl für den Alltag der großen Masse von Menschen in diesem Land verloren. Die Leute haben das Gefühl, sie werden nicht gehört.”
Ich frage mich: Wo findet die Realität, die wir auf der Seite 2 von »Bild« abbilden, im Fernsehen statt? Etwa, dass Menschen, die 40 Jahre gearbeitet haben, jetzt Flaschen sammeln müssen.
Julian Reichelt aber tut so, als gäbe es so etwas im Fernsehen nicht, als klaffe dort eine Lücke, die nur “Bild” füllen kann. Er sehe da “großes Potenzial”.
Wir wollen das Land, die Welt, die Politik und den Alltag der Menschen so zeigen, wie es die Leute erleben, und nicht so steril und weichgespült wie teilweise bei den Öffentlich-Rechtlichen.
Das Argument kommt schon seit Jahren, vor allem aus der rechten Ecke. Als sich Herbert Grönemeyer 2015 gegen die “verbale Brandstiftung” in der Flüchtlingskrise ausgesprochen hatte, giftete “Bild” auf der Titelseite über den “arroganten Auftritt” des Sängers:
Er gab sich die Rolle als Allwissender in puncto Flüchtlingskrise — aus der bequemen Perspektive des in London lebenden Millionärs.
Als sich Grönemeyer im Sommer dieses Jahres unter dem Motto “Kein Millimeter nach Rechts” für eine “solidarische, bunte Gesellschaft ohne Hass und Hetze” aussprach, twitterte AfD-Politiker Björn Höcke:
So geht das seit Jahren immer wieder: Was mischt der sich eigentlich ein, der wohnt ja nicht mal in Deutschland, der zahlt hier nicht mal Steuern!
Blöd nur: Grönemeyer lebt seit über zehn Jahren wieder in Deutschland. Auch Steuern zahlt er in Deutschland, und zwar schon sein Leben lang, wie er immerwieder in Interviews erklärt:
Ich zahle auch mein Leben lang Steuern in Deutschland, selbst zu der Zeit als ich in England gewohnt habe, dort habe ich bis 2009 gewohnt.
Mein erster Wohnsitz ist Berlin. Inzwischen sind meine Kinder auch wieder in Deutschland. Und, Achtung, ich zahle meine Steuern in Deutschland. Schon immer.
Wer also sagt, Grönemeyer habe die Klappe zu halten, weil er ja in Deutschland weder lebt noch Steuern zahlt, ist entweder ein Lügner oder zu blöd zum Googeln. Und damit zum Chefredakteur der “Welt”-Gruppe.
Nachdem sich Grönemeyer vor ein paar Tagen bei einem Konzert in einer vielbeachteten Rede erneut gegen Rassismus geäußert hatte, twitterte Ulf Poschardt:
Viele Twitternutzer machten ihn schnell darauf aufmerksam, dass das nicht stimmt. Auch Grönemeyers Anwalt schaltete sich ein.
Nun hätte Poschardt natürlich einfach den Fehler einsehen, um Entschuldigung bitten und die Sache richtigstellen können. Aber: nee.
Und obwohl die lieben Follower*innen mit deutlicher Mehrheit für das Genießen des Rechtsstreits stimmten, zeichnete sich schon wenig später ab, dass Poschardt die lässig-bissige Kampfmasche doch nicht durchziehen würde.
Was wohl so viel heißt wie: Ich hab mich jetzt doch mal schlau gemacht und, uiuiui, das würde vor Gericht ganz schön in die Hose gehen, darum lege ich jetzt möglichst breit grinsend den Rückwärtsgang ein.
Auch hinter den Kulissen lenkte Poschardt ein und gab eine Unterlassungserklärung ab. Am Abend dann seine vorerst letzte Mitteilung in der Sache:
Die tatsächlichen Gründe für den Umzug erklärte Herbert Grönemeyer vor ein paar Jahren übrigens so:
Es gab mehrere Gründe. Wir zogen hin, als meine Frau schon sehr krank war und Angst hatte, dass die deutsche Presse das rauskriegt. Zudem wollten wir, dass unsere Kinder groß werden können ohne die Last des Namens. Für mich selbst war es auch gut. Man vergisst zuweilen, wer man ist. Im Ausland muss man sich ohne jedwede Vorteile behaupten. Das ist für den Charakter ganz gut.
Wenn er also vor etwas geflüchtet ist, dann nicht vor deutschen Steuern, sondern vor deutschen Journalisten. Wer kann es ihm verdenken?
Mit Dank an die Hinweisgeber!
Nachtrag, 2. Oktober: Wie die Kanzlei Schertz Bergmann bei Twitter schreibt, hat nun auch Björn Höcke eine Unterlassungserklärung abgegeben.
Und dann noch eine grundsätzliche Bewertung der Messung von arm und reich in Deutschland: Die oft angeführte Armutsgefährdungsquote (nicht Armutsquote) ist irreführend. Sie ist kein Indikator für Armut, sondern drückt nur die unterschiedliche Einkommensverteilung aus. […] Diese Betrachtungsweise führt auch dazu, dass es auf einen Schlag mehr Armutsgefährdete in Deutschland gäbe, wenn z.B. Jeff Bezos nach Deutschland ziehen würde. Im Vergleich zu ihm und seinem Vermögen gäbe es dann nämlich einige mehr von Armut gefährdetet [sic] Personen (http://www.rwi-essen.de/unstatistik/40/).
So viel schon mal jetzt: Das mit der Auswirkung eines Zuzugs von Amazon-Chef Jeff Bezos auf die Armutsgefährdung ist Unsinn.
Die CDU verlinkt zum Beleg auf einen Text von Statistiker Walter Krämer aus dem Jahr 2015, der dort die damalige “Armutsstudie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes” kritisiert. Krämer schreibt:
Dabei beruft sich der Paritätische Wohlfahrtsverband auf eine angebliche Armutsquote von 15,5 Prozent aller Bundesbürger, definiert als die Menschen, die pro Monat weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben.
Und das ist genauso falsch wie die Aussage von Jasper von Altenbockum, der gestern bei FAZ.net Rezo unter anderem mit dieser Behauptung widersprach:
Was für Rezo zählt, ist der Eindruck, die Armen würden immer ärmer, die Reichen immer reicher. Dass Armut eine Frage der Definition ist und vom Durchschnittseinkommen abhängt — kein Wort darüber.
Doch das ist nicht so: Armut und Armutsgefährdung hängen nicht “vom Durchschnittseinkommen” ab. In seinem aktuellen Armutsbericht schreibt der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband zur eigenen Methodik (PDF, ab Seite 6):
Als einkommensarm wird in diesem Bericht jede Person gezählt, die mit ihrem Haushaltsnettoeinkommen unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. (…) Beim mittleren Einkommen handelt es sich nicht um das geläufige Durchschnittseinkommen, das so ermittelt würde, dass man alle Haushaltseinkommen addiert und die Summe dann durch die Anzahl der Haushalte teilt (arithmetisches Mittel). Es wird stattdessen der sogenannte Median, der mittlere Wert, errechnet
Ganz ähnlich schreiben es auch die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder:
Die Armutsgefährdungsquote ist ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut und wird — entsprechend dem EU-Standard — definiert als der Anteil der Personen, deren Äquivalenzeinkommen weniger als 60 % des Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung (in Privathaushalten) beträgt.
Der Median beziehungsweise das mittlere Einkommen ist also entscheidend.
Zum bedeutsamen Unterschied zwischen arithmetischem Mittel beziehungsweise Durchschnittseinkommen und Median beziehungsweise mittlerem Einkommen haben wir bereits vor zehn und vor sieben Jahren hier im BILDblog was geschrieben. Wir schreiben es aber gern noch mal.
Man erhält das mittlere Einkommen, indem man alle Bürgerinnen und Bürger sortiert nach Einkommen in einer Reihe aufstellt und diejenige Person, die dann genau in der Mitte steht, fragt, was er oder sie verdient. Der Unterschied zum durchschnittlichen Einkommen kann erheblich sein — und zwar genau dann, wenn etwa einzelne Milliardäre wie Jeff Bezos ins Spiel kommen wie im Beispiel der CDU.
Denken wir uns ins Konrad-Adenauer-Haus, in dem sich gerade elf CDU-Mitarbeiter befinden (Schema rechts). Zwei von ihnen verdienen 1000 Euro, fünf 2000 Euro, drei 3000 Euro — und einer hat sagenhafte 10.000 Euro im Monat. Ihr durchschnittliches Einkommen beträgt 2818 Euro (die Summe geteilt durch elf); das mittlere Einkommen ist das, das bei einer Aufreihung der elf Mitarbeiter der sechste hat (*): 2000 Euro. Als armutsgefährdet gelten alle, die weniger als 60 Prozent von 2000 Euro zur Verfügung haben, also: die beiden 1000-Euro-CDUler.
Nun stellen wir uns vor, dass zwei zusätzliche CDU-Mitarbeiter mit jeweils 10.000 Euro Einkommen das Konrad-Adenauer-Haus betreten. Das durchschnittliche Einkommen steigt deutlich. Das mittlere aber bleibt konstant: diesmal müssen wir bei 13 anwesenden Mitarbeitern in der Reihe von arm nach reich den siebten (*) fragen: Auch er hat 2000 Euro.
Läge die Grenze der Armutsgefährdung laut Definition bei 60 Prozent des Durchschnittseinkommens, wären nun auch die 2000-Euro-CDUler armutsgefährdet. Da sie sich aber nach dem mittleren Einkommen richtet, ändert sich — in diesem Beispiel — nichts.
Der Median ist deshalb eine so praktische statistische Größe, weil er gegen Ausreißer sehr robust ist. Oder anders gesagt: Ein Zuzug von Jeff Bezos hätte auf die Armutsgefährdung in Deutschland keinerlei Auswirkungen, auch wenn die CDU anderes behauptet.
Volker Quaschning hat sich den Teil “Die Klimakrise” der CDU-Antwort auf Rezo genauer angeschaut. Sein Fazit: “In diesem Faktencheck wurden keine belastbaren Aussagen der CDU gefunden, welche die Inhalte in Bezug auf Klimaschutz des Videos von Rezo substanziell widerlegen.”
Mit Dank an thorsten und @Helkonie für die Hinweise!
2. Anwalt von Billy Six widerspricht seinem Mandanten (tagesspiegel.de, Madlen Haarbach)
Der Journalist Billy Six schreibt für rechtskonservative Medien wie die “Junge Freiheit” und ist nach Angaben von “Reporter ohne Grenzen” vom radikal rechten Verein “Die Deutschen Konservativen” für eine Reportage nach Venezuela entsandt worden. Dort saß er vier Monate in Haft, wegen angeblicher Rebellion, Spionage und dem Verletzen von Sicherheitszonen. Vor einigen Tagen wurde er überraschend freigelassen und ist wieder zurück in Deutschland. Nun behauptet Six, die deutschen Diplomaten hätten nicht gegen seine Inhaftierung protestiert und ihm nicht geholfen: Man habe ihn dort “verrecken” lassen wollen. Aussagen, denen sogar sein eigener Anwalt widerspricht.
3. Über das Gründegeben (christophkappes.de)
Christoph Kappes nimmt den Abgang des nun ehemaligen “FAZ”-Herausgebers Holger Stelzner zum Anlass, eine persönliche Geschichte zu erzählen: Kappes hatte selbst für die “FAZ” geschrieben und erhielt irgendwann die überraschende Nachricht, der zuständige Redakteur dürfe keine Texte mehr von ihm annehmen. Kappes versuchte, der Zurückweisung auf den Grund zu gehen, was sich als nicht so einfach erwies. Am Ende blieb nur eine Vermutung.
4. Auch das Private ist geschäftlich (tagesschau.de, Frank Bräutigam)
Pamela Reif ist sogenannte Influencerin in Sachen Fitness und Mode und hat über vier Millionen Instagram-Follower. In einer Entscheidung des Landgerichts Karlsruhe wurde Reif verpflichtet, bestimmte Posts als Werbung zu kennzeichnen. Dabei ging es um Beiträge, von denen Reif behauptet hatte, es seien Ausschnitte aus ihrem Privatleben. Die Posts waren jedoch mit Tags zu Markennamen zu ihrer Kleidung versehen, was vom Gericht als Werbung gewertet wurde.
6. “Mario Barth deckt auf” oder: Verantwortungsloses Fernsehen (dwdl.de, Thomas Lückerath)
Kennste-Kennste-Komiker Mario Barth hat in der vergangenen Ausgabe seiner Aufdecker-Sendung (“Mario Barth deckt auf”, RTL) mal wieder alle Populismus-Register gezogen. In einer AfD-verdächtigen Dummifizierung hat er sich der Debatte um die Diesel-Grenzwerte gewidmet. Ein einseitiges und irreführendes Stück Fake News, in dem Barth die Argumentation des längst widerlegten Lungenfacharztes und Zahlen-Konfusius Dieter Köhler ins Spiel brachte.
Wenn es um das Eingestehen von Fehlern geht und das Korrigieren dieser, ist “Bild”-Chef Julian Reichelt 1A-Superspitzenklasse — laut Julian Reichelt:
Es fällt mir grundsätzlich leicht, mich zu entschuldigen, wenn wir Fehler gemacht haben. Es ist aber nicht so, dass ich mich über Entschuldigungen freue, gar nicht. Ich glaube aber, dass sie ein wichtiger Teil der journalistischen Aufrichtigkeit und Ausdruck unserer proaktiven Kommunikation sind.
In “Bild” und bei Bild.de, wo es dem Chef “grundsätzlich leicht” falle, “mich zu entschuldigen, wenn wir Fehler gemacht haben”, ist der eigene Fehler kein Thema. Im Gegenteil:
Kamen in der Flüchtlingskrise massenhaft Kriegsverbrecher nach Deutschland, ohne dass die Sicherheitsbehörden Hinweisen nachgingen?
Nachdem BILD gestern darüber berichtete hatte, verspricht Bundesinnenminister Horst Seehofer (69, CSU, Foto) Antworten: “Wenn es etwas aufzuarbeiten gibt, wird dies geschehen”, sagte er am Rande eines EU-Innenministertreffens in Brüssel.
Seehofer, selbst massiver Kritiker der damaligen Flüchtlingspolitik, der Bundesregierung, weiter: “Ich lege Wert darauf, dass ich schriftlich einen Bericht bekomme, damit die Öffentlichkeit informiert werden kann, was mit diesen Meldungen geschehen ist.”
Die “Bild”-Redaktion und “Bild”-Chefreporter Peter Tiede tun heute so, als hätten sie die Aufklärung zur Verwirrung um die Hinweise auf Kriegsverbrecher angeschoben, dabei waren sie es, die gestern mit ihrer falschen Seite-1-Überschrift überhaupt erst für die Verwirrung gesorgt haben. Das ist die Transparenz unter Julian Reichelt, über die Mathias Döpfner so jubelt: Das Weglassen eines weiteren Seehofer-Zitats, in dem der Innenminister “Bild” und Tiede widerspricht, wenn er sagt, die Hinweise seien “nicht einfach von den Sicherheitsbehörden abgelegt worden, sondern natürlich geprüft worden”.
Peter Tiede wiederholt heute noch einmal seine falsche Behauptung, es handele sich um “5000 Hinweise auf Kriegsverbrecher unter Flüchtlingen”:
BILD hatte unter Berufung auf eine Anfrage der FDP-Innenexpertin Linda Teuteberg (37) berichtet, dass beim Bundeskriminalamt seit 2014 zwar mehr als 5000 Hinweise auf Kriegsverbrecher unter Flüchtlingen eingegangen sind — daraus aber nur 129 konkrete Ermittlungen erfolgten.
Wir wiederholen das auch gern noch einmal: Tatsächlich geht es um 5000 Hinweise auf Kriegsverbrecher von Flüchtlingen, die diese in ihren Asylverfahren gegeben haben. Es sind nicht “5000 Hinweise auf Kriegsverbrecher unter Flüchtlingen”. Es können sich mehrere Hinweise auf dieselbe Person beziehen, genauso kann sich ein Hinweis auf eine Personengruppe beziehen. Manche dieser Hinweise sind sehr konkret, mit Namen eines oder mehrerer Beschuldigten. Manche sind aber auch sehr vage, ohne mögliche Ermittlungsansätze für die zuständigen Behörden. Viele der Personen, die in diesen Hinweisen als Kriegsverbrecher beschuldigt werden, befinden sich im Ausland, etwa in Syrien oder dem Irak, und nicht in Deutschland. Das heißt allerdings nicht, dass keine möglichen Kriegsverbrecher als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind.
Es bleibt dabei, auch wenn “Bild” nichts in Richtung Korrektur unternimmt: Die Seite-1-Überschrift von gestern war Alarmismus und falsch. Lustigerweise fragt die Redaktion heute im Blatt, direkt neben ihrem Kriegsverbrecher-Weiterdreh:
Wo das Problem sitzt, das dazu führt, dass ständig Alarm herrscht, wo eigentlich keiner ist? Unter anderem im Axel-Springer-Hochhaus.