1. Dank Soraya: Niemand kann so gut schlecht in die Zukunft sehen wie “Echo der Frau” (uebermedien.de, Mats Schönauer)
Die Funke Mediengruppe hat für ihre Klatschblätter seit zwei Jahrzehnten eine “Hellseherin” am Start, die mit “durchwachsener Erfolgsbilanz” (Zitat eines Funke-Sprechers) zu beiderseitigem Vorteil in die Glaskugel schaut: Die Funke-Blätter bekommen Sensationsmeldungen, die “Hellseherin” möglichen Kundenzulauf. Mats Schönauer hat dem Verlag eine Reihe von Fragen geschickt und sich wegen einer Funke-Schlagzeile an den Deutschen Presserat gewandt. Die Reaktion des Funke-Imperiums fiel erstaunlich aus.
2. Gegen transfeindliche Medienberichte (tagesspiegel.de, Joachim Huber)
Mehrere Organisationen haben eine Petition gegen transfeindliche Medienberichterstattung gestartet: “Zunehmend werden Medienbeiträge veröffentlicht, in denen von ‘Trans* als Trend’, von angeblich unsicheren Frauenschutzräumen, von einer sogenannten ‘Trans*-Ideologie’ oder von ‘Mädchen, die keine Mädchen sein wollen’ die Rede ist. Diese Berichterstattungen gehen soweit, die Existenz von trans* Personen zur Debatte oder sogar in Frage zu stellen. Sie schüren Ängste und Hass gegenüber trans* Personen, ihrer rechtlichen Anerkennung und gesellschaftlichen Gleichstellung, indem diese als ‘gefährlich’ für die Mehrheitsbevölkerung dargestellt werden.”
3. Warum Julian Assange nur wenig Unterstützung erhält (infosperber.ch, Rainer Stadler)
Im Fall von Julian Assange seien die Reaktionen aus der Medienwelt auffällig “lau”, die Solidarität sei äußerst schwach ausgefallen, findet Rainer Stadler. In seiner Analyse stellt er Überlegungen an, woran das liegen könnte.
4. Pinar Atalay in der Hörbar Rust (radioeins.de, Bettina Rust, Audio: 1:18:53 Stunden)
Die Journalistin Pinar Atalay moderierte viele Jahre die “Tagesthemen” im Ersten, bis sie im vergangenen Sommer zu RTL wechselte. Dort steht sie unter anderem für “RTL aktuell” und das neue Nachrichtenjournal “RTL Direkt” vor der Kamera. In der “Hörbar Rust” erzählt Atalay von ihrer Herkunft, den Umgang mit Interviewgästen und den aktuellen täglichen Herausforderungen in ihrem Job.
5. Wie Medien besser über Traumatisierendes berichten (deutschlandfunk.de, Stephan Beuting, Audio: 34:15 Minuten)
“Wie können Medien über Missstände bei sensiblen Themen berichten, notwendige Informationen vermitteln und dennoch die Bedürfnisse von traumatisierten Menschen berücksichtigen?” Über diese Fragen diskutieren eine Deutschlandfunk-Hörerin, die Psychologie-Professorin Rita Rosner, Journalismus-Trainerin Fee Rojas und Stephan Beuting aus der Dlf-Medienredaktion.
6. Sie sind so frei (sueddeutsche.de, Clara Meyer)
Im Doku-Podcast “Hype & Hustle – Die OnlyFans Revolution” (exklusiv bei Spotify) geht es um den Aufstieg der Monetarisierungsplattform OnlyFans, die vielen Sexarbeiterinnen und -arbeitern ein neues Geschäftsmodell bietet. Clara Meyer hat sich die sechs Folgen angehört. Ihr Fazit: “Hype & Hustle bietet das nötige Hintergrundwissen zu der Plattform, unterhaltsam und unaufgeregt aufbereitet.”
1. Österreichs freie Presse in Gefahr (taz.de, Ralf Leonhard)
In der neuen Pressefreiheits-Rangliste von “Reporter ohne Grenzen” stürzt Österreich von Platz 17 auf Platz 31 ab. Innerhalb der EU stünden nur Slowenien (54), Italien (58) und Ungarn (85) noch schlechter da. Ralf Leonhard fasst die Gründe für die unheilvolle Entwicklung in Österreich zusammen.
2. Die Wahrheit über das sensationelle “exklusive Foto” vom abgefangenen “Russen-Flieger” (uebermedien.de, Frederik von Castell)
“Deutsche Eurofighter – bewaffnet mit Luft-Luft-Raketen – drängen einen Russen-Flieger ab. BILD liegt jetzt exklusiv ein Foto dieser Abfang-Aktion vor – aufgenommen aus einem der Eurofighter” krakeelte “Bild” im Netz und präsentierte stolz das dazugehörige Bild. Frederik von Castell ist der vermeintlichen Sensation für “Übermedien” nachgegangen.
3. “Unabhängige Berichterstattung steht nicht im Dienste einer Kriegspartei” (fr.de, Katja Thorwarth)
“Machen die deutschen Medien derzeit bezüglich des Ukraine-Kriegs einen guten Job?” In der “Frankfurter Rundschau” spricht Katja Thorwarth mit dpa-Nachrichtenchef Froben Homburger über neutrale Kriegsberichterstattung, Framing und Propaganda in den Medien.
4. “GNTM” ist erfolgreicher denn je – dank einer überlegten Strategie (tagesspiegel.de, Joachim Huber)
Heidi Klums Castingshow “Germany’s Next Topmodel” erfreut sich auch in der 17. Staffel großer Beliebtheit. Das liege auch daran, dass in der Unterhaltungsshow zusätzlich zur eh schon bestehenden Diversität Frauen um die 20 mit Frauen über 60 um den Titel konkurrieren, kommentiert Joachim Huber: “Die Werbebuchungen schauen sich gigantisch an, zuweilen ist es schwer, die Show zwischen den Spots zu finden. Bei ‘GNTM’ funktionieren die Aufmerksamkeits- wie die Eitelkeitsökonomie gleichermaßen. In der Perspektive professionellen, kommerziellen Fernsehens geht es kaum besser.”
5. Bundestagsabgeordnete fordern fraktionsübergreifend Assanges Freilassung (spiegel.de)
Eine Gruppe von 37 Bundestagsabgeordneten von FDP, SPD, Grünen und der Linken fordert, die Auslieferung des WikiLeaks-Gründers Julian Assange von Großbritannien an die USA zu stoppen und hat sich mit einem offenen Brief an 24 Mitglieder des britischen Parlaments gewandt.
6. Ob Dr. Who oder Dr. Dre – Hauptsache Arzt! (youtube.com, Walulis Story – SWR3, Video: 9:04 Minuten)
In der “Walulis Story” geht es aktuell um die angeblichen Qualitätssiegel für “Top-Mediziner” und andere Institutionen, die vom “Focus” vergeben werden – wobei man besser sagen müsste: verkauft werden.
1. Wie Döpfner den Fall Reichelt kaschieren wollte (sueddeutsche.de, Laura Hertreiter)
Die “Financial Times” hat eine Recherche über den Umgang des Springer-Konzerns mit dem Fall Reichelt veröffentlicht, die den Verlag und dessen Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner schwer belastet. Laura Hertreiter fasst die wichtigsten Recherergebnisse zusammen.
Unbedingt hörenswert dazu das Deutschlandfunk-Interview mit Olaf Storbeck, einem der Autoren des “FT”-Artikels: “Es gab den Plan, zum Gegenangriff überzugehen” (deutschlandfunk.de, Bettina Schmieding, Audio: 8:14 Minuten).
2. DW Moskau berichtet, was man in russischen Medien kaum noch erfährt (uebermedien.de, Gemma Pörzgen)
Der russische Staatssender RT darf in Deutschland nicht senden – es liegt keine entsprechende, nötige Lizenz vor. Das hat zu einer Art Retourkutsche geführt: Russland hat dem deutschen Auslandssender Deutsche Welle vorige Woche ein Sendeverbot erteilt. Osteuropa-Kennerin Gemma Pörzgen macht sich Sorgen: “Sollte der Sender in Russland zum ‘ausländischen Agenten’ erklärt werden, könnte das auch bittere Konsequenzen für die rund 80 russischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Bonner Senderzentrale haben, die bisher ohne Schwierigkeiten zwischen beiden Ländern hin- und herreisen und in Russland Familie und Freunde haben.”
3. Teils hochproblematisch (taz.de, Peter Weissenburger)
Und noch einmal die Deutsche Welle: Wie gestern in den “6 vor 9” berichtet, trennt sich der Sender nach einem Bericht einer Untersuchungskommission von fünf Mitarbeitern seiner Arabisch-Redaktion. Um derlei Situationen in der Zukunft gar nicht erst entstehen zu lassen, wolle die Deutsche Welle mit einem Zehn-Punkte-Plan reagieren. “taz”-Redakteur Peter Weissenburger sieht vor allem den Intendanten Peter Limbourg in der Pflicht: “Nun ist Limbourg auf Bewährung – muss die versprochene Transparenz umsetzen. Darf den Sender nicht zurückfallen lassen in einen Modus des Abwiegelns und Beschweigens. Der Vertrauensvorschuss, den ein deutsches öffentlich-rechtliches Medium im Gegensatz zum russischen Regierungssender RT genießt, gilt nicht ewig.”
4. “So geht es einfach nicht mehr weiter” – Ein Arthouse-Verleih in der Pandemie (out-takes.de, Björn Koll)
In einem offenen Brief hat sich der Geschäftsführer eines Filmverleihs die Verzweiflung über die Unsinnigkeiten des Fördersystems von der Seele geschrieben: “Niemand hatte und hat wirklich Lust, sich mit den Auswertungsproblemen des deutschen Films zu beschäftigen. Filmverleih war nie sexy und wird es nie sein. Und niemand analysiert wirklich die Folgen der Pandemie. In dilettantischer Flickschusterei wird ein bestimmtes Verleiher-Produzenten-Klientel bei Laune gehalten, deren Produktionen und Releases Unsummen an Steuermitteln verschlingen und die dann mit den teuer erkauften Besucherzahlen pseudo-erfolgreich sind. Und anstatt dass sich da jetzt jemand schützend vor die Kultur stellt und überhaupt mal eine Definition versucht, was Filmkultur überhaupt ist oder sein könnte … Pustekuchen.” Lesenswert, auch weil konkrete Zahlen genannt werden.
5. Exklusiv: Pläne für verschärfte Social-Media-Regeln beim WDR [Update] (netzpolitik.org, Leonhard Dobusch)
Beim WDR gibt es Pläne für eine neue “Social Media Dienstanweisung”, die wegen einer möglichen Einschränkung der Meinungsfreiheit zu Bedenken bei Personalrat und Redakteurvertretung führen. Leonhard Dobusch kommentiert die in der Kritik stehenden Passagen und merkt an, was dem Regelwerk fehlt. Dem Beitrag ist ein Hinweis auf eine Stellungnahme des WDR angefügt.
6. Neil Young rät Spotify-Beschäftigten zur Kündigung: “Haut von diesem Ort ab, bevor er eure Seele auffrisst” (rnd.de)
In Reaktion auf die Corona-Falschbehauptungen des hochbezahlten Spotify-Podcasters Joe Rogan, hatte der Musiker Neil Young seine Songs vom Streamingdienst abgezogen. Nun legt Young in einer Stellungnahme nach und rät den Spotify-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern zur Kündigung: “Haut von diesem Ort ab, bevor er eure Seele auffrisst”.
Hurra, endlich Wochenende – und damit mehr Zeit zum Hören und Sehen! In unserer Samstagsausgabe präsentieren wir Euch eine Auswahl empfehlenswerter Filme und Podcasts mit Medienbezug. Viel Spaß bei Erkenntnisgewinn und Unterhaltung!
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1. Radikal komisch – Die Macht der Satire (ardmediathek.de, Alexander C. Stentzel & Lukas Mayer, Video, drei Folgen je 30 Minuten)
Welche Bedeutung hat politische Satire heute? Dieser Frage geht der Hessische Rundfunk in der dreiteiligen Serie “Radikal komisch” nach. In Folge 1 geht es um die Lust am Tabubruch, in Folge 2 heißt es: Alles ist Satire, und Folge 3 handelt von der Macht der Satire. Unterhaltend und informativ umgesetzt, mit vielen Szenegrößen und Satire-Promis.
2. Interview mit Kulturzeit zu Joe Rogan und Spotify (youtube.com, Michael Seemann, Video: 7:12 Minuten)
In der 3sat-Sendung “Kulturzeit” kommentiert Michael Seemann die Kontroverse um den US-amerikanischen Podcaster Joe Rogan und Spotify. Rogan hatte über seinen Spotify-Podcast Falschinformationen zum Coronavirus und zu Impfungen verbreitet. Das ist von besonderer Relevanz, denn Rogan ist nicht irgendein Podcaster, sondern wird millionenfach gehört und wurde von Spotify exklusiv für stolze 100 Millionen Dollar verpflichtet.
Dazu auch ein Lesetipp: Warum sich Spotify aus der Affäre ziehen will (netzpolitik.org, Olaf Pallaske).
3. Ferngespräche: Kasachstan (radioeins.de, Holger Klein, 53:05 Minuten)
Beim Korrespondenteninterview von radioeins ist Oliver Soos zu Gast, der eigentlich Reporter für Brandenburger Landespolitik beim rbb-Hörfunk und bei rbb24 ist, aber zufällig in Kasachstan zu Gast war, als dort die Unruhen im Januar 2022 stattfanden. Holger Klein hat Soos kurz vor dessen Rückkehr zu den Erlebnissen vor Ort und zur Situation im Land befragt.
4. Stammgast Sven Schmidt: “Streaming-Startup von Axel Springer ist zum Scheitern verurteilt” (omr.com, Philipp Westermeyer & Sven Schmidt, Audio: 31:12 Minuten)
Lange ist gerätselt worden, was Christian Seifert nach seinem Abschied als Chef der Deutschen Fußball Liga macht. Nun ist klar: Er plant mit Axel Springer einen Streamingdienst für Sportarten wie Handball, Eishockey oder Basketball – aber ohne Fußball. Philipp Westermeyer und Sven Schmidt analysieren die Pläne und deren Erfolgsaussichten. Außerdem sprechen sie darüber, warum der Sport-Streamingdienst DAZN seine Preise verdoppelt.
5. Radio als Volkspädagoge: Versucht der Deutschlandfunk seine Hörer zu erziehen? (deutschlandfunk.de, Brigitte Baetz, Audio: 34:31 Minuten)
Deutschlandfunk-Hörer Manfred Schreiber hat sich beim Sender gemeldet. Er habe häufiger den Eindruck, dass ihm Medien, und vor allem der Deutschlandfunk (DLF), vorschreiben möchten, was er zu denken habe. Darauf hat ihn der Sender zum Gespräch eingeladen. In der Diskussionsrunde außerdem dabei: Karin Fischer, Leiterin Aktuelle Kultur im Deutschlandfunk, der Kommunikationswissenschaftler Martin Emmer von der FU Berlin und Brigitte Baetz aus der DLF-Medienredaktion.
6. Margret Albers: Initiative “Der besondere Kinderfilm” (wiesoweshalbwarum.podigee.io, Thomas Hartmann, Audio: 1:20:05 Stunden)
Kindermedien-Podcaster Thomas Hartmann unterhält sich mit Margret Albers, der Projektleiterin der Initiative “Der besondere Kinderfilm”, einem Förderprogramm für originäre Kinderfilmstoffe. Im Gespräch geht es nicht nur um die komplexen Strukturen der Initiative, sondern auch um die Merkmale eines besonderen Kinderfilms, um kindliche Heldenreisen und um die Gemeinsamkeiten von Horror- und Kinderfilmen.
1. Was tun mit Querdenkern am Weihnachtstisch? (deutschlandfunkkultur.de, Frank Meyer, Audio: 6:16 Minuten)
Was tun, wenn man “Querdenker”, Coronaleugnerinnen oder andere Verschwörungsgläubige in der Bekanntschaft oder Verwandtschaft hat und mit ihnen womöglich das Weihnachtsfest verbringt? Die Autorin Ingrid Brodnig ist Expertin für Verschwörungsmythen und zeigt Strategien auf, wie man mit der Situation am besten umgeht. Weiterer Hinweis: Bei Twitter hat Brodnig ihre fünf wichtigsten Tipps zusammengefasst, in Grafiken umgesetzt von Deutschlandfunk Kultur.
2. Nur nicht hetzen (sueddeutsche.de, Georg Mascolo & Ronen Steinke)
Vom 1. Februar 2022 an gelten für Soziale Netzwerke neue Spielregeln: Dann müssen sie ihnen bekannte Morddrohungen und andere Delikte nicht nur löschen, sondern sie auch dem Bundeskriminalamt anzeigen. Ob es dazu kommt, sei jedoch unklar: Facebook und Google haben Anträge auf einstweilige Anordnung gegen die ihnen auferlegten Pflichten eingereicht. Währenddessen sollen etwa 200 Beamtinnen und Beamte der neu gegründeten Zentralen Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet darauf warten, dass sie mit der Arbeit beginnen können.
3. Wie sagt der Staat Stopp? (zeit.de, Ann-Kathrin Nezik & Götz Hamann)
Telegram ist eigentlich ein Messengerdienst. Die Software besitzt jedoch Eigenschaften, die sie von Konkurrenten wie WhatsApp absetzt: So können dort Chatgruppen eingerichtet werden, die teilweise eine sechsstellige Anzahl von Personen erreichen. Auf diese Weise hat sich bei Telegram eine digitale Parallelwelt für Corona-Leugnerinnen, radikale Impfgegner und Extremisten gebildet. Der Staat schaut dem Treiben bislang relativ ohnmächtig zu, doch das soll sich ändern, unter anderem durch die Installation eines “digitalen Ermittlers”.
4. Eutelsat stellt Verbreitung von RT DE via Satellit ein (meedia.de)
Der Zwist um die Ausstrahlung des russischen Staatssenders RT beziehungsweise dessen deutschsprachigen Programms geht in eine weitere Runde. Die Medienanstalt Berlin-Brandenburg habe mitgeteilt, dass der Satellitenbetreiber Eutelsat das Satellitensignal von RT DE nicht verbreite, da keine gültige Sendelizenz vorliege. Der Sender ist damit, wie zu erwarten, nicht einverstanden: “Wir vertreten den Standpunkt, dass diese Vorgehensweise eine rechtswidrige Druckausübung darstellt, und sind zuversichtlich, dass zuständige Gerichte gegen diese Aktion vorgehen werden.”
5. Die Schwierigkeit, über Unwahrheiten zu berichten, wenn auch die Wahrheit niemanden etwas angeht (uebermedien.de, Boris Rosenkranz)
Die Boulevardjournalistin Tanja May hat viele Jahre für die “Bunte” im Privatleben von Promis und unbeteiligten Dritten herumgestochert und tut dies nun seit einigen Wochen für “Bild”. Boris Rosenkranz kommentiert: “Bei ‘Bild’ läuft es jetzt wie bei ‘Bunte’, wo May zuvor 20 Jahre lang schmutzige Wäsche in die Auslagen räumte: Erst mal wird veröffentlicht, und wenn sich dann jemand beschwert, tja, wird halt gelöscht oder geschwärzt. Klicks und Auflage hat es bis dahin in der Regel schon gebracht.”
6. Exklusiv: Die total reale Wahrheit über Walulis (youtube.com, Walulis Story SWR, Video: 15:51 Minuten)
Die “Walulis”-Redaktion gewährt einen (satirischen) Blick hinter die Kulissen: “Zum Weihnachtsfest gibt es in dieser Folge exklusive Interviews, nie veröffentlichtes Footage und Promi-Gastauftritte. Alles echt, 100% authentisch und mit viel Gefühl – ein Spaß für die ganze Familie!”
1. Haben Medien Mitschuld an der Impfquote? (deutschlandfunk.de, Bettina Schmieding, Audio: 35:37 Minuten)
Welche Rolle nehmen Medien in der gesellschaftlichen Diskussion über das Thema Impfen ein? Was hätte besser laufen können in der Berichterstattung über die Corona-Impfungen? Darüber diskutieren im Deutschlandfunk der eine Impfung ablehnende Handwerker Karsten Heinsohn, die Wissenschaftsjournalistin Nicola Kuhrt, der Immunologe Carsten Watzl und Bettina Schmieding aus der Medienredaktion des Deutschlandfunks.
2. Warten auf den Tod von Zhang Zhan (faz.net, Liao Yiwu)
Die chinesische Videobloggerin Zhang Zhan berichtete aus Wuhan, als dort das Coronavirus ausgebrochen war. Sie wurde zu vier Jahren Haft verurteilt – eine Strafe, die einem Todesurteil gleichkommt, wenn man sich den erschütternden Gastbeitrag des Schriftstellers und Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels Liao Yiwu durchliest: “Millionen Chinesen verfolgen das Schicksal von Zhang Zhan. Sie alle wissen, dass der Totengott erscheinen wird, sei es in der Gefängniszelle oder sei es wie beim chinesischen Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, der 2017 offiziell zwar ‘zur medizinischen Behandlung begnadigt’ worden war, aber dennoch in Gefangenschaft gestorben ist.”
3. Traust du dich eh nicht! (zeit.de, Lisa Hegemann)
Auf der vermeintlich so harmlosen Videoplattform TikTok zirkulieren immer mal wieder virale Mutproben, sogenannte Challenges, die keineswegs harmlos sind, sondern lebensgefährlich sein können. Nun hat TikTok Jugendliche, Eltern, Erzieherinnen und Erzieher zum Thema befragen lassen und will an einigen Stellen nachbessern. Doch reicht das? Skepsis bleibe angebracht, schreibt Lisa Hegemann, zumal TikTok unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern keine Zahlen zur Verfügung stelle.
4. Die 20 spektakulärsten Gründe, übers Fernsehen zu schreiben (dwdl.de, Peer Schader)
Das Medienportal “DWDL” wird 20 Jahre alt (an dieser Stelle: herzlichen Glückwunsch!), für Kolumnist Peer Schader ein willkommener Anlass, auf das Startjahr 2001 zurückzublicken. Thematisch passend baut er seinen Beitrag in Form einer Rankingshow auf: “Die 20 spektakulärsten Gründe, übers Fernsehen zu schreiben – im Jahr 2001 und heute”.
5. Sonderhefte verabschieden die Kanzlerin: nicht alle werden der Ära Merkel gerecht (rnd.de, Imre Grimm)
Zum Ende der 16-jährigen Amtszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel liegen zahlreiche Merkel-Sonderhefte am Kiosk – vom “Focus” bis zu “Spiegel”, “Zeit” und “My Illu”. Imre Grimm hat sich die Magazine angeschaut und sie mit einer bis fünf “Merkels” bewertet.
6. Wem steht’s besser? (sueddeutsche.de, Laura Hertreiter)
Zwei miteinander konkurrierende Frauenzeitschriften haben in ihren Dezemberausgaben ausgerechnet mit demselben Coverfoto aufgemacht. Wie konnte es dazu kommen? Laura Hertreiter ist der Sache nachgegangen. Herausgekommen ist “eine kleine Geschichte von Tüll, Exklusivität und unfreiwilligen Partnerlooks.”
“Wir setzen uns für eine freie und soziale Marktwirtschaft ein”, lautet einer der fünf “Grundsätze und Werte” des Axel-Springer-Konzerns. Und auch die “Bild”-Redaktion vertritt in ihrer Berichterstattung überwiegend die Ansicht: Soll der Markt es regeln. Aber wenn es ums Autofahren geht oder genauer: um die Spritpreise, ja, dann …
Keine Frage: Die Preise für Benzin und Diesel sind in letzter Zeit stark gestiegen. Das stellt viele Menschen, die aufs Autofahren angewiesen sind, vor größere finanzielle Herausforderungen. Aber dass die Spritpreise in Deutschland die höchsten in Europa sind, ist schlicht falsch.
Bei Bild.de steht dazu:
Die Preise an deutschen Tankstellen ziehen weiter an: Diesel und Super E10 erreichen 9-Jahre-Hochs, teilte der ADAC am Mittwoch mit. Und damit gewinnt Deutschland das, was Hansis Jungs zuletzt 1996 packten: Wir sind (Spritpreis-)Europameister! (…)
BILD macht den Check, wie es im europäischen Vergleich an den Zapfsäulen anderer Länder preislich derzeit aussieht.
Die erschütternde Bilanz vorab: Deutschland ist Spitzenreiter! Bei teuerstem Super UND Diesel. Dicht gefolgt von Norwegen.
Die “Bild”-Redaktion präsentiert in ihrem Artikel eine Tabelle mit den Super- und Dieselpreisen aus 15 verschiedenen Ländern: Deutschland, Norwegen, Italien, Dänemark, die Niederlande, Frankreich, Griechenland, Spanien, die Schweiz, Tschechien, Kroatien, Österreich, Polen, die Türkei und Bulgarien. Deutschland steht mit den höchsten Preisen ganz oben. Bild.de beruft sich dabei auf die Seite benzinpreis.de. Die schreibt über sich selbst:
benzinpreis.de ist ein Projekt, in dem Benzin- und Dieselpreise weltweit von Benutzern der Seite eingegeben und vom System statistisch aufbereitet werden.
Die Verlässlichkeit der Zahlen von benzinpreis.de hängt also davon ab, wie oft und wie genau die Nutzer dort Preise eintragen. Und das findet nicht so irre häufig statt: Der aktuellste Eintrag für Norwegen beispielsweise stammt sowohl bei Super als auch bei Diesel vom 20. April 2020. Aus den Niederlanden kam die letzte Super-Meldung am 3. August 2020 rein. Für Italien stammt der neueste Eintrag immerhin vom 15. September 2021 – ist damit aber auch schon einen Monat alt. Die Preise aus Kroatien stammen vom 22. Juni 2020. Die aus der Türkei vom 20. April 2020. Und so weiter. Die Preise für Deutschland stammen laut benzinpreis.de hingegen von der Markttransparenzstelle für Kraftstoffe des Bundeskartellamts.
Die “Bild”-Redaktion vergleicht also aktuelle Zahlen aus Deutschland mit veralteten aus dem Ausland, teilweise von vor eineinhalb Jahren.
Schaut man sich hingegen aktuellere Zahlen an, beispielsweise auf der Seite GlobalPetrolPrices.com, die bei der Preisermittlung laut eigener Angabe auf mehrere voneinander unabhängige Quellen zurückgreift (PDF), sieht man, dass Deutschland bei weitem nicht “Spritpreis-Europameister” ist: Beim Superbenzin lagen am 11. Oktober die Niederlande, Norwegen, Dänemark, Griechenland und Italien mit höheren Preisen vor Deutschland. Nimmt man noch weitere europäische Staaten in den Vergleich mit auf, die, warum auch immer, in der “Bild”-Liste nicht auftauchen, liegen auch noch Schweden, Finnland, Island, Portugal und Monaco vor Deutschland. Beim Diesel waren die Preise in Schweden, Norwegen, Großbritannien, Island, Dänemark, Belgien, Monaco, Finnland, Kroatien, Italien, Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz höher als in Deutschland.
Mit Dank an Marian und Theo für die Hinweise!
Nachtrag, 17. Oktober: Noch ein nachgereichter Gedanke: Was in dem (falschen) “Bild”-Ranking überhaupt keine Rolle spielt, ist die unterschiedliche Kaufkraft in den verschiedenen europäischen Ländern.
Die zwei Twitter-User reagieren damit jeweils aufAnfragen der “Bild”-Redaktion. Die möchte in ihrer Berichterstattung nämlich Videos verwenden, die @Zigoooo1 beziehungsweise @MarwKiel zuvor bei Twitter hochgeladen haben. Die Aufnahmen zeigen, wie gestern ein Tornado durch Kiel zieht.
Anderen Medien, darunter CNN, CBS News, die dpa, die European Broadcasting Union, Weather.com, erlauben @Zigoooo1 und @MarwKiel auf Nachfrage, das Videomaterial zu verwenden. Dass auch “Bild” es verwendet, wollen sie offenbar nicht.
Die “Bild”-Redaktion benutzt die Videos aber einfach trotzdem.* Gestern Abend veröffentlichte sie bei Bild.de einen Artikel zum Kieler Tornado:
Darin zu sehen: ein etwas mehr als eine Minute langer Videozusammenschnitt. Auch die Aufnahmen, die die zwei Twitter-User hochgeladen haben, sind dabei. Beim Video von @MarwKiel steht eine Quelle am rechten Bildrand:
Beim Video, das @Zigoooo1 online gestellt hat, nicht mal das:
Inzwischen ist bei Bild.de ein längeres Video zum Tornado in Kiel erschienen, nun gut zwei Minuten lang. Die Aufnahmen, die @Zigoooo1 und @MarwKiel bei Twitter gepostet haben, sind darin weiterhin zu sehen.
*Nachtrag, 14:39 Uhr: Die “Bild”-Redaktion hat offenbar einen Umweg genommen, um an die Videos zu kommen: Sie hat sich die Aufnahmen bei einer Agentur besorgt. Zumindest bei einem der zwei Videos konnten wir eine vorherige Zustimmung des Urhebers der entsprechenden Agentur gegenüber finden. Über die Agentur ist das Video dann bei Bild.de gelandet, auch wenn die “Bild”-Redaktion wusste, dass der Urheber das nicht möchte.
Und bitte nicht wundern, dass manch ein Link in diesem Beitrag ins Nichts führt – der Twitter-User @Zigoooo1 hat seinen Account inzwischen gelöscht.
1. Maaßen fordert Gesinnungstest für “Tagesschau”-Personal (spiegel.de)
In einem Interview bei TV Berlin hat der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsschutzes und aktuelle CDU-Bundestagskandidat Hans-Georg Maaßen gefordert, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der “Tagesschau” einem Gesinnungstest zu unterziehen. Angeblich gäbe es Verbindungen zwischen Teilen der “Tagesschau”-Redaktion und der linken und linksextremen Szene. Angesichts dieser verstörenden und hanebüchenen Aussagen kommentiert der ehemalige CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz auf Twitter: “Ich würde meiner Partei zu einem Ausschlussverfahren raten. Ja, auch im Wahlkampf. Gerade jetzt.” SPD, Grüne und Linke würden laut “Spiegel” ein Machtwort Armin Laschets fordern.
2. Jede Wette (sueddeutsche.de, Lisa Priller-Gebhardt)
Die ARD-“Sportschau” hat sich den Wettanbieter Tipico als Werbepartner mit ins Boot geholt. Glücksspiel scheint in Deutschland ein enormes Wachstums-Potential zu haben. So habe sich zwischen 2013 und 2019 laut Deutschem Sportwettenverband der Umsatz der Branche von knapp vier auf fast acht Milliarden Euro verdoppelt. Bei Süddeutsche.de erklärt Lisa Priller-Gebhardt, warum die Kooperation von “Sportschau” und Wettanbieter aus ihrer Sicht gefährlich ist: “Für Suchtgefährdete heißt das, sie müssen nun auch mit Werbung für geschäftsmäßiges Tippen in den Öffentlich-Rechtlichen leben.”
3. Nein, liebe Grüne, das ist keine Schmutzkampagne, das ist normale Medienarbeit (meedia.de, Stefan Winterbauer)
In Zusammenhang mit den Vorwürfen bezüglich der Buchveröffentlichung von Annalena Baerbock sprechen einige von “Rufmord” und einer medialen Schmutzkampagne. Stefan Winterbauer hält derlei Vorwürfe für Unsinn: “Die Vorgänge, die da kritisiert werden, sind ja alle wahr. Die Nebeneinkünfte wurden verspätet gemeldet, der Lebenslauf war aufgehübscht, im Buch finden sich abgeschriebene Passagen. Dass all dies grell ausgeleuchtet wird, das ist keine ‘Schmutzkampagne’. Das ist normale Medienarbeit.”
4. EU-Ratspräsident torpediert Medienfreiheit (reporter-ohne-grenzen.de)
Eine Untersuchung von Pressefreiheits- und Journalistenorganisationen unter Beteiligung von Reporter ohne Grenzen kommt zu dem Schluss, dass der seit Kurzem amtierende EU-Ratspräsident die Medienfreiheit in seinem Land torpediert: “Die slowenische Regierung hat es in nur 15 Monaten geschafft, die Lage der Pressefreiheit im Land ungarischen oder polnischen Verhältnissen anzunähern. Für Ministerpräsident Janša sind unabhängige Medien kein Bestandteil eines funktionierenden demokratischen Systems, sondern Oppositionskräfte, die bekämpft werden müssen. Diese Haltung darf auf keinen Fall zum Leitgedanken von Sloweniens Ratspräsidentschaft werden.”
5. Wer reguliert die Regulierer? (zeit.de, Felix Stalder)
Felix Stalder arbeitet als Professor für Digitale Kultur an der Zürcher Hochschule der Künste. Für “Zeit Online” hat er Michael Seemanns neues Buch über “Die Macht der Plattformen” rezensiert: “Es ist eine der großen Stärken von Seemanns’ Buch, zwischen der strukturellen und politischen Analyse des Phänomens Plattform zu unterscheiden und damit die Frage der Regulierbarkeit sehr viel präziser stellen zu können, als dass dies in der Diskussion um ‘Geistiges Eigentum’ oder ‘Fake News’ zumeist geschieht.” Eine Schwäche des Buch sei der Begriffsapparat, der für die breite Öffentlichkeit zu überbordend und für die wissenschaftliche nicht präzise genug sei. Dennoch sei das Buch sehr lesenswert.
6. Christonormatives Radio (taz.de, Mohamed Amjahid)
Mohamed Amjahid sind beim morgendlichen Hören der Morgenandacht des Deutschlandfunks zwei Fragen in den Sinn gekommen: “Was sagt es über die deutsche Medienlandschaft aus, dass die evangelische und die katholische Kirche exklusive Sendefenster in gemeinschaftlich finanzierten Programmen bekommen? Und was sagt es über die deutsche Medienlandschaft aus, dass andere (religiöse) Minderheiten dies nicht bekommen?”
Der folgende Text sollte eigentlich in unserem Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste” erscheinen, hat aus Platzgründen aber einfach nicht mehr reingepasst. Darum freuen wir uns, ihn nun exklusiv hier zu veröffentlichen.
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Unser Buch ist überall erhältlich, zum Beispiel bei euren lokalen Buchhändlern, bei GeniaLokal, bei Amazon, bei Thalia, bei Hugendubel, bei buch7, bei Osiander oder bei Apple Books. Es ist auch als eBook und Hörbuch erschienen.
Das Drei-Millionen-Dollar-Märchen
Um ihre spektakulären Schlagzeilen zu konstruieren, braucht die “Bild”-Zeitung nicht viel. Manchmal genügt ein kleines Stück altes Papier.
„Es ist nur ein kleines Stück altes Papier, doch es kann ihr Leben verändern!“, schreibt die Dresdner “Bild”-Regionalausgabe im Herbst 2012.1 Auf einem Flohmarkt hätten Rentner Herbert und Lebensgefährtin Astrid (Namen geändert) einen Schwung alter Briefmarken gekauft. „Als ich diese auf dem Küchentisch ausbreitete, stockte mir der Atem!“, sagt Opa Herbert. Denn vor ihm liegt allem Anschein nach eine absolute Rarität: eine blaue One-Cent-Briefmarke mit dem Konterfei von Benjamin Franklin und einem eingepressten Muster, dem sogenannten „Z Grill“. Sie ist eine der seltensten Briefmarken der Welt, bisher sind lediglich zwei Exemplare bekannt (zum Vergleich: von der „Blauen Mauritius“ existieren noch zwölf2). Darum beträgt der Katalogwert der „Z Grill“ auch stolze drei Millionen Dollar.3
Ob Opa Herbert auf seinem Küchentisch genau diese Marke liegen hat, muss aber erst noch geprüft werden. „Das Echtheitszertifikat kann in diesem Fall jedoch nur die ‚Philatelic Foundation‘ in New York ausstellen“, zitiert “Bild” einen Briefmarkenexperten. Doch da gibt es einen Haken. Opa Herbert: „Ich habe nur 600 Euro Rente. Damit kann ich mir die Reise und die Prüfgebühr nicht leisten.” Verzweifelt suche er jetzt einen Sponsor, schreibt “Bild”, und damit endet der Artikel.
Dann passiert ein paar Tage lang gar nichts. Doch als plötzlich die britische “Daily Mail” über den Fall berichtet4, erkennt “Bild” offenbar das Potenzial der Story und hebt sie groß in die Bundesausgabe: „SAMMLERGLÜCK! Rentner findet 2,5-Mio.-Briefmarke auf dem FLOHMARKT“.5 Nun springen auch andere nationale und internationale Medien auf und berichten über die „Sammlersensation vom Flohmarkt“.6 Ob es sich bei der Briefmarke wirklich um das seltene Stück handelt, stehe aber immer noch nicht fest, schreibt “Bild”: „Offiziell muss die Echtheit der One-Cent-Marke noch von der ‚Philatelic Foundation‘ in New York bestätigt werden. Ohne ein Zertifikat dieser Stiftung kann die Marke nicht in einem Auktionshaus verkauft werden.“
Und dank der bundesweiten Aufmerksamkeit gibt es für die „Briefmarken-Millionäre“, wie “Bild” sie schon nennt, eine gute Nachricht: Ein Verlag für Briefmarkenzubehör bietet an, die Reisekosten nach New York zu übernehmen. Opa Herbert beantragt sofort einen neuen Reisepass: „Mein alter ist fast abgelaufen, genügt für den Flug nach New York nicht mehr.“7
Drei Wochen später ist es dann so weit: Endlich treten Opa Herbert und der “Bild”-Reporter die langersehnte Reise an. Endlich kann die Briefmarke auf Echtheit geprüft werden. Endlich geht es mit dem Flugzeug nach: London. „Jetzt brachte er seine Marke persönlich nach London – zur Wertermittlung. BILD begleitete ihn!“
Nanu? Statt in die USA fliegen sie auf einmal nach England. Und legen die Marke nicht der „Philatelic Foundation“ in New York, sondern der „Royal Philatelic Society“ in London vor. Eine Erklärung für den plötzlichen Kurswechsel liefert “Bild” nicht.
Der Grund ist aber nicht schwer zu erraten. Denn in New York wäre ihnen etwas dazwischengekommen, das der sensationellen Berichterstattung ein schnelles Ende bereitet hätte: die Wahrheit.
Schon einen Tag nachdem “Bild” zum allerersten Mal über den Fall berichtet hatte, also lange bevor die “Bild”-Maschinerie so richtig anlief, hatte die New Yorker „Philatelic Foundation“ bereits öffentlich und sehr eindeutig erklärt, dass die Briefmarke nicht die erhoffte Rarität sei: „Wir haben ihm [Opa Herbert] mitgeteilt, dass es nicht der Z-Grill ist“, sagte David Petruzelli von der Foundation gegenüber der amerikanischen “Huffington Post”, die den Fall in der “Bild”-Zeitung entdeckt und dann bei der Foundation nachgefragt hatte. 8 „Er hat uns einen guten Scan davon zugeschickt. Es ist nicht die Briefmarke“, so das Ergebnis der Experten. Der Mann solle sich nicht damit herumquälen, einen Sponsor zu suchen und nach New York zu fliegen. Das hätten schon viele Sammler getan und seien dann enttäuscht worden. Die Marke von Opa Herbert sei es nicht mal wert, daran zu lecken, jedenfalls nicht im Vergleich zu drei Millionen Dollar. „Ich habe mein Bestes gegeben, ihm zu erklären, dass es nicht die Briefmarke ist. Wir wollten nicht, dass er sich die Mühe macht.” Der Fund sei wahrscheinlich nicht der „Z Grill“, sondern ein „F Grill“. Er schätze den Wert auf unter hundert Dollar.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürften die Leute von “Bild” also gewusst haben, dass an der Geschichte nichts dran ist. Doch statt ihre Leser darüber aufzuklären, geben sie sich erst richtig Mühe, das Märchen von der „Millionen-Marke“ als Wahrheit zu verkaufen. So zitieren sie (eine Woche nachdem der New Yorker Experte erklärt hatte, dass es nicht die besagte Briefmarke sei) unter der Überschrift: „Profis von Millionen-Marke begeistert“ einen deutschen Gutachter mit den Worten: „Sie ist zu 99 Prozent echt, womöglich wertvoller als die Blaue Mauritius. Eine Fälschung ist unwahrscheinlich.“9
Derselbe „Gutachter“ erklärt jedoch wenig später dem “Briefmarken Spiegel”:
„Also erstmal bin ich kein Gutachter. Und zweitens sind die Sätze vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. Ich habe zwar erwähnt, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine echte, also schlichtweg um eine nicht gefälschte Briefmarke handelt, die auch echt gelaufen sein dürfte. Aber ich habe nie behauptet, dass es sich um die besagte Rarität handelt. Dies könnte ich ja auch gar nicht beurteilen.” Dazu in der Lage wäre einzig die Philatelic Foundation.10
Und was die von der Briefmarke hält, wissen wir ja nun. “Bild” aber erwähnt New York einfach überhaupt nicht mehr und reist ohne Erklärung nach London – wo die Marke erst einmal in einem Tresor landet, weil die Prüfung „ein halbes Jahr dauern“ könne, wie “Bild” schreibt.
Am Ende des Tages durfte [Opa Herbert] seine Marke persönlich in den großen Tresorraum der Royal Society legen – wo sie jetzt bleibt. Dann rief er Freundin [Astrid] (71) in Sachsen an: „Es ist geschafft, ich liebe dich!“11
Mit dieser rührenden Szene endet die Serie über das kleine Stück Papier, aus dem “Bild” ein halbes Dutzend Artikel und internationale Aufmerksamkeit generieren konnte. Während die eigentliche Frage, ob es wirklich drei Millionen Dollar wert ist, für die “Bild”-Leser weiter unbeantwortet bleibt.
Im Sauseschritt Ost-West-Konflikt
Die Wahrheit, schreibt Günter Wallraff schon 1977 in „Der Aufmacher“, liege bei “Bild” „oftmals weder in noch zwischen den Zeilen, sie liegt mehr unter den Zeilen, jedenfalls unter den gedruckten“. Gedruckt werde alles, was die Auflage steigert; nicht gedruckt werde, was den Verkauf nicht fördert. „Ein klassisches Prinzip, einfach und gleichzeitig universell anwendbar.“ 12
Dass die Briefmarke von Opa Herbert laut den Experten in New York weniger als hundert Dollar wert ist, wird nicht gedruckt. Und dass auch die Prüfer in London schließlich zu dem Ergebnis kommen, dass es sich mitnichten um die wertvolle Rarität handelt, wird von “Bild” erst Jahre später in einem Nebensatz erwähnt. Aber auch davon lässt sich die Redaktion nicht beirren: Im selben Artikel behauptet sie weiterhin, Opa Herbert habe die „Millionen-Briefmarke“ gefunden, einen „wertvollen Schatz, der sogar die blaue Mauritius in den Schatten stellt“.13
Diese selektive Realitätsverweigerung ist ein wesentlicher Bestandteil in der Berichterstattung der “Bild”-Medien. Ein Mittel, das die Redakteure einsetzen, um Geschichten künstlich aufzubauschen und am Leben zu halten. Nicht nur bei den großen, ernsten Themen wie Ausländerkriminalität oder Corona, auch bei kleineren, leichteren wie eben Briefmarken. Oder dem Sandmännchen.
Über das hat der “Bild”-Reporter, der für die Briefmarken-Story verantwortlich war, ein paar Jahre zuvor auch mal einen Artikel geschrieben, der ebenfalls für großes Aufsehen sorgen sollte. „Sandmann in den Westen verkauft“, lautet die Schlagzeile, die im Februar 2009 ausschließlich in den ostdeutschen Ausgaben von “Bild” zu lesen ist. Im Artikel schreibt der Reporter, dass „der Osten“ ab April „die Lizenz für seinen größten TV-Liebling“ verliere:
Generationen von Kindern brachte Sandmännchen (…) seit 1959 ins Bett. Und bis heute schalten ihn täglich 1,5 Mio. Fans ein. Genauso erfolgreich ist der TV-Knirps als Märchenfigur auf den Bühnen zwischen Rügen und Fichtelberg.
Doch damit ist jetzt Schluss. Ausgerechnet zum 50. Sandmann-Geburtstag hat der RBB die Sandmann-Lizenz in den Westen verkauft. Und zwar an das Kölner Theater Cocomico. (…) Der Vertrag läuft vorerst zwei Jahre. Danach können wir wieder auf unseren Sandmann hoffen!14
Tatsächlich wurden lediglich die Musical-Rechte an das Kölner Theater vergeben, wie uns ein RBB-Sprecher damals auf Nachfrage erklärt. Für das Sandmännchen im Fernsehen bleibe alles wie gehabt – was auch “Bild” bekannt gewesen sein dürfte, denn zwei Tage vorher hatte bereits die “Sächsische Zeitung” berichtet, dass sich an der Ausstrahlung im Fernsehen nichts ändere.
Nach Erscheinen des “Bild”-Artikels ruft ein Sprecher des RBB beim Autor des Textes an und weist ihn darauf hin, dass die Berichterstattung irreführend sei. Doch der lässt sich nicht vom Kurs abbringen und schreibt in der nächsten “Bild”-Ausgabe wieder über das Sandmännchen:
Der schnelle Verkauf unseres Sandmännchens in den Westen – Tausende Kinder zwischen Rügen und Fichtelberg sind traurig. (…) „Die Entscheidung, die Lizenz nach Köln zu geben, ist uns nicht leicht gefallen“, räumt [ein RBB-Sprecher] ein.15
Letzteres sei übrigens, wie uns der RBB-Sprecher damals versichert, ein Satz, den “Bild” „komplett frei erfunden“ habe.16 Er selbst habe das „nie gesagt“ – nicht zuletzt deshalb nicht, weil das Sandmännchen im Westen ohnehin längst so beliebt sei wie „zwischen Rügen und Fichtelberg“ und mehrere Jahrzehnte nach dem Mauerfall eigentlich nicht zum Ost-West-Konflikt tauge.
Eigentlich.
„Ist das die Unterhose von Eva Braun?“
Auch bei anderen Themen wird die Wahrheit häufig tief unter den Zeilen begraben. Gut zu beobachten beispielsweise in der Berichterstattung über einen alten Dauergast der “Bild”-Medien.
„Hitlers geheimer Gold-Zug!“, heißt es im Spätsommer 2015 groß auf der Titelseite der “Bild”-Zeitung, dazu ein Foto von Adolf Hitler, hinter ihm ein mit Kanonen bestückter NS-Zug.17 Im Westen Polens sei „ein verschollener Panzerzug der Wehrmacht entdeckt“ worden, schreibt “Bild”, an Bord sollen sich „von den Nazis geraubte Schätze und Kunstwerke befinden“. Zwei Hobbyforscher seien auf den Sensationsfund gestoßen, weil ihnen ein alter Mann auf dem Sterbebett das Versteck verraten habe. Ein polnischer Minister habe den Fund „zu 99 Prozent“ bestätigt.
In seriösen Medien kommen sofort Zweifel auf. “Spiegel Online” zitiert den polnischen Zentralbankchef, der die Geschichte einen „Hoax“ nennt.18 “Zeit Online” interviewt einen polnischen Geschichtsjournalisten, der sich an die erfundenen Hitler-Tagebücher erinnert fühlt. Auch die angeblichen Beweisfotos seien „dubios“, befindet “Zeit Online” und ahnt: Der Sensationsfund „könnte zur Ente verpuffen“.19
“Bild” hingegen lässt so gut wie keinen Zweifel an der Sache und ist ganz vorne mit dabei: „BILD vor Ort – Was passiert mit Hitlers Gold-Zug?“, „BILD traf den Mann, der das Geheimnis lüften kann“, „Historikerin brachte BILD-Reporter auf die Spur“. Tagelang folgt ein Artikel auf den nächsten: „Nazi-Zug versetzt Experten in Goldrausch“, „Juwelen, Gold, Bernsteinzimmer? Das Geheimnis um den Nazi-Zug von Polen“, „Zeigen Satelliten-Bilder, wo der Nazi-Zug steckt?“, „Geteilte Böschung mit auffälligem Bewuchs: Führt diese Furche zu Hitlers Gold-Zug?“20
Währenddessen machen sich, wie der Korrespondent von “Zeit Online” berichtet, „tausende Schaulustige und Abenteurer“ auf den Weg nach Niederschlesien, „um sich in den teils einsturzgefährdeten und womöglich verminten Stollen auf Schatzsuche zu begeben – und dabei in Lebensgefahr“.21 Sechs Tage später stürzt ein 39-jähriger Mann auf der Suche nach dem Zug in eine Vertiefung und stirbt.22
Als auch in den Wochen danach keiner der zahllosen Schatzsucher fündig wird, verschwindet der vermeintliche Hitler-Schatz nach und nach wieder aus der Berichterstattung der “Bild”-Medien. Als die Suche einige Monate später offiziell abgebrochen wird23, ist ihnen das nicht mal mehr eine kleine Meldung wert.
Die “Bild”-Artikel zum angeblichen Nazi-Gold-Zug sind auch heute noch online abrufbar. Viele davon sind mit großen Fotos von Adolf Hitler bebildert, einige nur gegen Bezahlung lesbar. Hitler verkauft sich. Was selbst “Bild”-Kolumnist Franz Josef Wagner sauer aufstößt:
Was mich anwidert, ist, dass Hitler eine Art Marke geworden ist. (…) Was mich nervt, ist seine unverminderte Gegenwart. Hitler-Filme, Zeichnungen von ihm werden in Auktionshäusern feilgeboten, Filme, „Der Untergang“, Bücher, „Er ist wieder da“.
Seine Ur-Enkel sind wieder da, sie werfen Brandbomben auf Flüchtlingsheime.
Mit dem Gold-Zug ist Hitler wieder da. Das Finstere, das Abscheuliche.
Die Schatzsuche nach dem Nazi-Gold ist für mich wie in Scheiße suchen.24
In der wühlt Wagners Heimblatt aber immer wieder gerne. Die Münchner Regionalausgabe von “Bild” zum Beispiel macht ein paar Monate vor dem Nazigoldrausch in Polen eine andere vermeintliche Hitler-Entdeckung, diesmal im Keller einer Hochschule.
„Das ist Hitlers Reichspartei-Badewanne“, titelt sie über dem halbseitigen Foto einer gammeligen Badewanne. Sie sei „schon ganz braun“, witzeln die Autoren: ein „rechteckiges Stück Geschichte – direkt aus Adolf Hitlers Büro-Badezimmer!“ Und exklusiv hinein in die “Bild”-Zeitung. Die Wanne sei zwischen 1933 und 1937 „in das Dienstbad des Diktators“ eingebaut worden und schließlich im Keller der Hochschule gelandet, heißt es im Artikel.25
Auf die Frage, ob sich Hitler „am Feierabend hier bei einem Schaumbad“ entspannte, gibt sich “Bild” die Antwort zwar gleich selbst – „höchstwahrscheinlich nicht“ –, doch das hält sie nicht davon ab, groß über den angeblich sensationellen Fund zu berichten. Belege gibt sie für das alles nicht an, weder Zitate von Experten noch handfeste Spuren oder Beweise, nicht mal ihre Quelle verraten die Autoren.
Der Kanzler der Hochschule erklärt uns damals auf Nachfrage:
Die Meldung ist aufgrund einer nicht autorisierten Auskunft unseres Hausmeisters erschienen. “Bild” hatte einen Bericht über unterirdische Gänge in München bringen wollen. Dabei sahen die Reporter die Badewanne im Keller und haben nachgefragt. Ob die Badewanne wirklich aus Hitlers Badezimmer stammt, wissen wir nicht. Ich wehre mich deshalb stets gegen Spekulationen. Leider war “Bild” nicht bereit, auf die Meldung zu verzichten.26
Stattdessen macht “Bild” aus der ranzigen Badewanne, in der Hitler höchstwahrscheinlich nicht gebadet hat, eine fast ganzseitige Geschichte und lässt jegliche Zweifel unter einer großen Schlagzeile verschwinden.
Im Juni 2017 dominiert Hitler wieder die “Bild”-Titelseite. „Hitlers Silberschatz gefunden“, heißt es dort groß neben einem Foto des Diktators. In Argentinien sei hinter einem Bücherregal ein „bizarrer Nazi-Schatz“ entdeckt worden: „STATUEN, KATZEN-SPARDOSE!“27 Als sich drei Monate später herausstellt, dass es sich um Fälschungen handelt28, ist davon in der “Bild”-Zeitung nichts mehr zu lesen.
„Hitlers geheimer Cognac-Keller entdeckt“, titelt “Bild” im Sommer 2015.29 Hier, in einem Keller in Sachsen, behauptet die Zeitung, habe „Adolf Hitler (†56) Ende 1944 seine Delikatessen und Unmengen Cognac“ versteckt. Beweise dafür hat sie bis heute nicht geliefert.30
„Es ist immer das Gleiche“, heißt es im 1978 erschienenen Dramolett „Der deutsche Mittagstisch“ von Thomas Bernhard: „Kaum sitzen wir bei Tisch an der Eiche, findet einer einen Nazi in der Suppe. Und statt der guten alten Nudelsuppe bekommen wir jeden Tag die Nazisuppe auf den Tisch. Lauter Nazis statt Nudeln.“31
Bei “Bild” wird vor allem einer aufgetischt. „Hitlers Lieblingsbücher“32, „Hitlers Bar“33, „Hitlers Mietvertrag“34, „Hitlers Hoden-Diagnose“35, “Grüner mit Hitler-Droge erwischt”36. Zwischendurch auch mal ein bisschen personelle Abwechslung: „BILD findet Görings Modell-Eisenbahn“37. Oder: „Wie kam Costa Cordalis an den Nazi-Teppich von Goebbels?“38 Oder: „Ist das die Unterhose von Eva Braun?“39
Solche „Hitlereien“ finden sich auch in anderen Medien, schreibt Daniel Erk, der für die Onlineausgabe der “taz” sechs Jahre lang das “Hitlerblog” geführt hat:
In diesen Jahren ist keine, wirklich keine Woche vergangen, in der Hitler nicht Thema in der Presse gewesen wäre, in der nicht irgendein Kasper einen mal guten, mal schlechten Hitler-Witz gemacht hätte oder in der die Symbole und Begriffe des Dritten Reiches nicht in einem abwegigen oder ärgerlichen Kontext aufgetaucht wären. Wirklich: keine einzige Woche.
Zu einem Erkenntnisgewinn hätten die Geschichten aber so gut wie nie geführt:
Idealerweise wäre das ja ein Kommunikationsanlass, um über den Hitler-Wahn, die Ängste, Symbole und Tabus zu sprechen. Stattdessen sieht man immer nur Titelgeschichten über Hitlers letzte Stunden und liebste Hunde. Die Boulevardisierung des Themas hat die Substanz längst verdrängt.40
Aber um Substanz, darum, die Leser zu informieren, geht es ja auch nicht, jedenfalls nicht der “Bild”-Zeitung. Verkauft werden nicht Tatsachen, sondern Geschichten. Und wenn die Fakten nicht zur Schlagzeile passen, werden sie geschickt umgedichtet oder verschwiegen. Dann erwähnen die “Bild”-Medien einfach gar nicht, dass sich der Sensationsfund als Fälschung entpuppt hat. Oder sie fliegen statt nach New York, wo sie die Realität erwarten würde, nach London, wo sie die Geschichte noch weiterfüttern können. Wer sich nur in “Bild” informiert, glaubt womöglich heute noch, dass in Polen ein Nazi-Zug voller Gold gefunden, dass das Sandmännchen in den Westen verkauft und dass Opa Herbert Briefmarkenmillionär wurde.
„Versteckt sich in der Mona Lisa ein Alien?“
Dass gerade die Hitler-Geschichten in “Bild” seit Jahren so eine prominente Rolle spielen, dürfte aber nicht nur daran liegen, dass sie gut geklickt und gekauft werden. Absurde Schlagzeilen wie „UFO-Sekte will jetzt Hitler klonen!“41 oder „Zeigten Kornkreise Hitlers Bombern den Weg?“42 haben der Zeitung insbesondere unter Chefredakteur Kai Diekmann hin und wieder einen ironischen Touch verliehen: auch mal albern sein, sich selbst nicht so ernst nehmen. In dieser Zeit erschienen immer wieder Geschichten wie „Haben Außerirdische den Windrad-Flügel geklaut?“43, oder „Versteckt sich in der Mona Lisa ein Alien?“44, oder „Liegt da ein abgehacktes Bein auf dem Mars?“45
Doch seit Julian Reichelt das Steuer übernommen hat, finden solche Blödeleien kaum noch statt. Die “Bild”-Themenseite „Mystery“ („Aliens, Ufos, Übersinnliches“), die unter Diekmann laufend mit bekloppten Ufo-Geschichten befüllt wurde, besteht heute aus Artikeln wie „Mutter (84) und Sohn saßen wochenlang tot auf dem Sofa“46 oder „Wie Corona-Leugner um die Promis werben“47. Generell findet man in den heutigen “Bild”-Medien augenzwinkernde Elemente eher selten. Der Ernst hat Einzug gehalten. Und: die Politik.
Denn unter Reichelt ist auch die scherzhafte Seite von “Bild”, so sie denn mal zum Vorschein kommt, oft politisch aufgeladen. „Ist Wladimir Putin ein unsterblicher Vampir?“, heißt es dann zum Beispiel: „Gruselige Nachrichten zu Russlands Präsidenten Wladimir Putin: Ist der Kreml-Chef unsterblich? Beteiligt er sich seit knapp 100 Jahren an russischer Kriegspolitik? Oder sogar schon seit Jahrhunderten?“48
Oder: „Ist Donald Trump die dritte Inkarnation des Teufels? Wird der New Yorker Immobilienmogul einen 27 Jahre langen Weltkrieg auslösen?“, wie “Bild” Anfang 2017 fragt, unter der Überschrift: „Sagte Nostradamus die Trumpocalypse voraus?“49
Andere Albernheiten, mit Aliens und ohne Agenda, hat “Bild” auf vereinzelte Ausnahmen reduziert. Hitler geht aber immer noch.
„Letzter Hitler bricht sein Schweigen!“, verkündet “Bild” im Oktober 2018 exklusiv auf der Titelseite: „BILD traf den Groß-Neffen in den USA“.50 Für die Story hat die Redaktion die komplette Seite 3 der Bundesausgabe freigeräumt, in der Mitte: ein riesiges Foto von Adolf Hitler.
Der Mann, den “Bild” in den USA gefunden hat und „Alexander Hitler“ nennt, soll um viele Ecken ein Nachfahre Adolf Hitlers sein. Mit Medien redet er eigentlich nicht. Als die “New York Times” ihn 2006 aufspürt, bittet er „vehement und wiederholt“ darum, nicht identifiziert zu werden, aus Angst vor einem Mediensturm und davor, dass man ihn fälschlicherweise für einen Nazi halten könnte.51
Er heißt nicht mal Hitler. Das schreibt auch der “Bild”-Redakteur im Artikel – und nennt ihn trotzdem so, immer und immer wieder. „Alexander Hitler lebt in einem Holzhaus.“ „DEAD END steht auf dem Schild vor der Straße, in der Alexander Hitler wohnt.“ „Gepflegt sind dafür die vielen Topfpflanzen, die hier stehen. Fleißiges Lieschen, Bartnelken, Eisbegonien, Funkien. Die amerikanischen Hitlers haben einen grünen Daumen.“
In der kleinen Stadt wisse „fast niemand“, dass der Mann „der letzte Hitler“ sei, schreibt die “Bild”-Zeitung. Und als wollte sie etwas daran ändern, verrät sie, in welcher Gegend der Mann wohnt, beschreibt sein Grundstück, was für ein Auto er fährt. „Er ist groß, zirka 1,85 Meter, trägt ein türkis-weiß-kariertes Hemd und eine beigefarbene Cargohose. Alexander Hitler.“ Im Artikel zeigt “Bild” über die gesamte Seitenbreite ein Foto, das offenbar aus größerer Entfernung aufgenommen wurde: Der Mann steht in der Tür seines Hauses, sein Gesicht ist nicht verpixelt.
Wir haben damals bei “Bild” nachgefragt, ob der Mann wusste, dass er fotografiert wird, und ob er eingewilligt hat, dass dieses Foto veröffentlicht wird. Der “Bild”-Redakteur wollte uns darauf nicht antworten.
Die Geschichte und das unverpixelte Foto des Mannes gehen um die Welt. Stolz präsentiert “Bild” am nächsten Tag „internationale Presse-Reaktionen“52: Zeitungen in England, Spanien, der Türkei „und über 100 weitere Medien“ hätten über die “Bild”-Zeitung und den „letzten Hitler“ berichtet.
Obwohl er weder ein „Hitler“ ist noch „der letzte“ – er hat noch zwei Brüder. Die auch nicht Hitler heißen. Auch bei deren Haus (das “Bild” ebenfalls abbildet) klingelt der Redakteur. „Die Tür öffnet sich einen Spalt. Ein Mann, um die 50 Jahre alt, schiebt das Fliegengitter beiseite und streckt seinen Kopf heraus. Volles, dunkles Haar, glatt rasiertes, kantiges Gesicht. Hitler trägt kurze Hose.“
Als sich der “Bild”-Redakteur als solcher zu erkennen gibt, schließt der Mann sofort die Tür. Und schaltet die Rasensprenger an.