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KW 05/22: Hör- und Gucktipps zum Wochenende

Hurra, endlich Wochenende – und damit mehr Zeit zum Hören und Sehen! In unserer Samstagsausgabe präsentieren wir Euch eine Auswahl empfehlenswerter Filme und Podcasts mit Medienbezug. Viel Spaß bei Erkenntnisgewinn und Unterhaltung!

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1. Radikal komisch – Die Macht der Satire
(ardmediathek.de, Alexander C. Stentzel & Lukas Mayer, Video, drei Folgen je 30 Minuten)
Welche Bedeutung hat politische Satire heute? Dieser Frage geht der Hessische Rundfunk in der dreiteiligen Serie “Radikal komisch” nach. In Folge 1 geht es um die Lust am Tabubruch, in Folge 2 heißt es: Alles ist Satire, und Folge 3 handelt von der Macht der Satire. Unterhaltend und informativ umgesetzt, mit vielen Szenegrößen und Satire-Promis.

2. Interview mit Kulturzeit zu Joe Rogan und Spotify
(youtube.com, Michael Seemann, Video: 7:12 Minuten)
In der 3sat-Sendung “Kulturzeit” kommentiert Michael Seemann die Kontroverse um den US-amerikanischen Podcaster Joe Rogan und Spotify. Rogan hatte über seinen Spotify-Podcast Falschinformationen zum Coronavirus und zu Impfungen verbreitet. Das ist von besonderer Relevanz, denn Rogan ist nicht irgendein Podcaster, sondern wird millionenfach gehört und wurde von Spotify exklusiv für stolze 100 Millionen Dollar verpflichtet.
Dazu auch ein Lesetipp: Warum sich Spotify aus der Affäre ziehen will (netzpolitik.org, Olaf Pallaske).

3. Ferngespräche: Kasachstan
(radioeins.de, Holger Klein, 53:05 Minuten)
Beim Korrespondenteninterview von radioeins ist Oliver Soos zu Gast, der eigentlich Reporter für Brandenburger Landespolitik beim rbb-Hörfunk und bei rbb24 ist, aber zufällig in Kasachstan zu Gast war, als dort die Unruhen im Januar 2022 stattfanden. Holger Klein hat Soos kurz vor dessen Rückkehr zu den Erlebnissen vor Ort und zur Situation im Land befragt.

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4. Stammgast Sven Schmidt: “Streaming-Startup von Axel Springer ist zum Scheitern verurteilt”
(omr.com, Philipp Westermeyer & Sven Schmidt, Audio: 31:12 Minuten)
Lange ist gerätselt worden, was Christian Seifert nach seinem Abschied als Chef der Deutschen Fußball Liga macht. Nun ist klar: Er plant mit Axel Springer einen Streamingdienst für Sportarten wie Handball, Eishockey oder Basketball – aber ohne Fußball. Philipp Westermeyer und Sven Schmidt analysieren die Pläne und deren Erfolgsaussichten. Außerdem sprechen sie darüber, warum der Sport-Streamingdienst DAZN seine Preise verdoppelt.

5. Radio als Volkspädagoge: Versucht der Deutschlandfunk seine Hörer zu erziehen?
(deutschlandfunk.de, Brigitte Baetz, Audio: 34:31 Minuten)
Deutschlandfunk-Hörer Manfred Schreiber hat sich beim Sender gemeldet. Er habe häufiger den Eindruck, dass ihm Medien, und vor allem der Deutschlandfunk (DLF), vorschreiben möchten, was er zu denken habe. Darauf hat ihn der Sender zum Gespräch eingeladen. In der Diskussionsrunde außerdem dabei: Karin Fischer, Leiterin Aktuelle Kultur im Deutschlandfunk, der Kommunikationswissenschaftler Martin Emmer von der FU Berlin und Brigitte Baetz aus der DLF-Medienredaktion.

6. Margret Albers: Initiative “Der besondere Kinderfilm”
(wiesoweshalbwarum.podigee.io, Thomas Hartmann, Audio: 1:20:05 Stunden)
Kindermedien-Podcaster Thomas Hartmann unterhält sich mit Margret Albers, der Projektleiterin der Initiative “Der besondere Kinderfilm”, einem Förderprogramm für originäre Kinderfilmstoffe. Im Gespräch geht es nicht nur um die komplexen Strukturen der Initiative, sondern auch um die Merkmale eines besonderen Kinderfilms, um kindliche Heldenreisen und um die Gemeinsamkeiten von Horror- und Kinderfilmen.

“Querdenker” am Weihnachtstisch, Digitaler Ermittler, Zwist um RT

1. Was tun mit Querdenkern am Weihnachtstisch?
(deutschlandfunkkultur.de, Frank Meyer, Audio: 6:16 Minuten)
Was tun, wenn man “Querdenker”, Coronaleugnerinnen oder andere Verschwörungsgläubige in der Bekanntschaft oder Verwandtschaft hat und mit ihnen womöglich das Weihnachtsfest verbringt? Die Autorin Ingrid Brodnig ist Expertin für Verschwörungsmythen und zeigt Strategien auf, wie man mit der Situation am besten umgeht. Weiterer Hinweis: Bei Twitter hat Brodnig ihre fünf wichtigsten Tipps zusammengefasst, in Grafiken umgesetzt von Deutschlandfunk Kultur.

2. Nur nicht hetzen
(sueddeutsche.de, Georg Mascolo & Ronen Steinke)
Vom 1. Februar 2022 an gelten für Soziale Netzwerke neue Spielregeln: Dann müssen sie ihnen bekannte Morddrohungen und andere Delikte nicht nur löschen, sondern sie auch dem Bundeskriminalamt anzeigen. Ob es dazu kommt, sei jedoch unklar: Facebook und Google haben Anträge auf einstweilige Anordnung gegen die ihnen auferlegten Pflichten eingereicht. Währenddessen sollen etwa 200 Beamtinnen und Beamte der neu gegründeten Zentralen Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet darauf warten, dass sie mit der Arbeit beginnen können.

3. Wie sagt der Staat Stopp?
(zeit.de, Ann-Kathrin Nezik & Götz Hamann)
Telegram ist eigentlich ein Messengerdienst. Die Software besitzt jedoch Eigenschaften, die sie von Konkurrenten wie WhatsApp absetzt: So können dort Chatgruppen eingerichtet werden, die teilweise eine sechsstellige Anzahl von Personen erreichen. Auf diese Weise hat sich bei Telegram eine digitale Parallelwelt für Corona-Leugnerinnen, radikale Impfgegner und Extremisten gebildet. Der Staat schaut dem Treiben bislang relativ ohnmächtig zu, doch das soll sich ändern, unter anderem durch die Installation eines “digitalen Ermittlers”.

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4. Eutelsat stellt Verbreitung von RT DE via Satellit ein
(meedia.de)
Der Zwist um die Ausstrahlung des russischen Staatssenders RT beziehungsweise dessen deutschsprachigen Programms geht in eine weitere Runde. Die Medienanstalt Berlin-Brandenburg habe mitgeteilt, dass der Satellitenbetreiber Eutelsat das Satellitensignal von RT DE nicht verbreite, da keine gültige Sendelizenz vorliege. Der Sender ist damit, wie zu erwarten, nicht einverstanden: “Wir vertreten den Standpunkt, dass diese Vorgehensweise eine rechtswidrige Druckausübung darstellt, und sind zuversichtlich, dass zuständige Gerichte gegen diese Aktion vorgehen werden.”

5. Die Schwierigkeit, über Unwahrheiten zu berichten, wenn auch die Wahrheit niemanden etwas angeht
(uebermedien.de, Boris Rosenkranz)
Die Boulevardjournalistin Tanja May hat viele Jahre für die “Bunte” im Privatleben von Promis und unbeteiligten Dritten herumgestochert und tut dies nun seit einigen Wochen für “Bild”. Boris Rosenkranz kommentiert: “Bei ‘Bild’ läuft es jetzt wie bei ‘Bunte’, wo May zuvor 20 Jahre lang schmutzige Wäsche in die Auslagen räumte: Erst mal wird veröffentlicht, und wenn sich dann jemand beschwert, tja, wird halt gelöscht oder geschwärzt. Klicks und Auflage hat es bis dahin in der Regel schon gebracht.”

6. Exklusiv: Die total reale Wahrheit über Walulis
(youtube.com, Walulis Story SWR, Video: 15:51 Minuten)
Die “Walulis”-Redaktion gewährt einen (satirischen) Blick hinter die Kulissen: “Zum Weihnachtsfest gibt es in dieser Folge exklusive Interviews, nie veröffentlichtes Footage und Promi-Gastauftritte. Alles echt, 100% authentisch und mit viel Gefühl – ein Spaß für die ganze Familie!”

Mediale Mitschuld?, Warten auf den Tod von Zhang Zhan, TikTok-Mutproben

1. Haben Medien Mitschuld an der Impfquote?
(deutschlandfunk.de, Bettina Schmieding, Audio: 35:37 Minuten)
Welche Rolle nehmen Medien in der gesellschaftlichen Diskussion über das Thema Impfen ein? Was hätte besser laufen können in der Berichterstattung über die Corona-Impfungen? Darüber diskutieren im Deutschlandfunk der eine Impfung ablehnende Handwerker Karsten Heinsohn, die Wissenschaftsjournalistin Nicola Kuhrt, der Immunologe Carsten Watzl und Bettina Schmieding aus der Medienredaktion des Deutschlandfunks.

2. Warten auf den Tod von Zhang Zhan
(faz.net, Liao Yiwu)
Die chinesische Videobloggerin Zhang Zhan berichtete aus Wuhan, als dort das Coronavirus ausgebrochen war. Sie wurde zu vier Jahren Haft verurteilt – eine Strafe, die einem Todesurteil gleichkommt, wenn man sich den erschütternden Gastbeitrag des Schriftstellers und Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels Liao Yiwu durchliest: “Millionen Chinesen verfolgen das Schicksal von Zhang Zhan. Sie alle wissen, dass der Totengott erscheinen wird, sei es in der Gefängniszelle oder sei es wie beim chinesischen Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, der 2017 offiziell zwar ‘zur medizinischen Behandlung begnadigt’ worden war, aber dennoch in Gefangenschaft gestorben ist.”

3. Traust du dich eh nicht!
(zeit.de, Lisa Hegemann)
Auf der vermeintlich so harmlosen Videoplattform TikTok zirkulieren immer mal wieder virale Mutproben, sogenannte Challenges, die keineswegs harmlos sind, sondern lebensgefährlich sein können. Nun hat TikTok Jugendliche, Eltern, Erzieherinnen und Erzieher zum Thema befragen lassen und will an einigen Stellen nachbessern. Doch reicht das? Skepsis bleibe angebracht, schreibt Lisa Hegemann, zumal TikTok unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern keine Zahlen zur Verfügung stelle.

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4. Die 20 spektakulärsten Gründe, übers Fernsehen zu schreiben
(dwdl.de, Peer Schader)
Das Medienportal “DWDL” wird 20 Jahre alt (an dieser Stelle: herzlichen Glückwunsch!), für Kolumnist Peer Schader ein willkommener Anlass, auf das Startjahr 2001 zurückzublicken. Thematisch passend baut er seinen Beitrag in Form einer Rankingshow auf: “Die 20 spektakulärsten Gründe, übers Fernsehen zu schreiben – im Jahr 2001 und heute”.

5. Sonderhefte verabschieden die Kanzlerin: nicht alle werden der Ära Merkel gerecht
(rnd.de, Imre Grimm)
Zum Ende der 16-jährigen Amtszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel liegen zahlreiche Merkel-Sonderhefte am Kiosk – vom “Focus” bis zu “Spiegel”, “Zeit” und “My Illu”. Imre Grimm hat sich die Magazine angeschaut und sie mit einer bis fünf “Merkels” bewertet.

6. Wem steht’s besser?
(sueddeutsche.de, Laura Hertreiter)
Zwei miteinander konkurrierende Frauenzeitschriften haben in ihren Dezemberausgaben ausgerechnet mit demselben Coverfoto aufgemacht. Wie konnte es dazu kommen? Laura Hertreiter ist der Sache nachgegangen. Herausgekommen ist “eine kleine Geschichte von Tüll, Exklusivität und unfreiwilligen Partnerlooks.”

“Bild” ist Aktuelle-Äpfel-alte-Birnen-Europameister

“Wir setzen uns für eine freie und soziale Marktwirtschaft ein”, lautet einer der fünf “Grundsätze und Werte” des Axel-Springer-Konzerns. Und auch die “Bild”-Redaktion vertritt in ihrer Berichterstattung überwiegend die Ansicht: Soll der Markt es regeln. Aber wenn es ums Autofahren geht oder genauer: um die Spritpreise, ja, dann

Screenshot Bild.de - Zwei-Euro-Marke teilweise schon geknackt - Wann kommt die Spritpreis-Bremse, Herr Scheuer? Wie der Verkehrsminister sein Versprechen halten will

Zum Zapfsäulen-Aktivismus der “Bild”-Redaktion passt auch diese exklusive “Bild”-Meldung von gestern:

Screenshot Bild.de - Auf diesen Titel hätten wir gerne verzichtet - Deutschland ist Spritpreis-Europameister

Keine Frage: Die Preise für Benzin und Diesel sind in letzter Zeit stark gestiegen. Das stellt viele Menschen, die aufs Autofahren angewiesen sind, vor größere finanzielle Herausforderungen. Aber dass die Spritpreise in Deutschland die höchsten in Europa sind, ist schlicht falsch.

Bei Bild.de steht dazu:

Die Preise an deutschen Tankstellen ziehen weiter an: Diesel und Super E10 erreichen 9-Jahre-Hochs, teilte der ADAC am Mittwoch mit. Und damit gewinnt Deutschland das, was Hansis Jungs zuletzt 1996 packten: Wir sind (Spritpreis-)Europameister! (…)

BILD macht den Check, wie es im europäischen Vergleich an den Zapfsäulen anderer Länder preislich derzeit aussieht.

Die erschütternde Bilanz vorab: Deutschland ist Spitzenreiter! Bei teuerstem Super UND Diesel. Dicht gefolgt von Norwegen.

Die “Bild”-Redaktion präsentiert in ihrem Artikel eine Tabelle mit den Super- und Dieselpreisen aus 15 verschiedenen Ländern: Deutschland, Norwegen, Italien, Dänemark, die Niederlande, Frankreich, Griechenland, Spanien, die Schweiz, Tschechien, Kroatien, Österreich, Polen, die Türkei und Bulgarien. Deutschland steht mit den höchsten Preisen ganz oben. Bild.de beruft sich dabei auf die Seite benzinpreis.de. Die schreibt über sich selbst:

benzinpreis.de ist ein Projekt, in dem Benzin- und Dieselpreise weltweit von Benutzern der Seite eingegeben und vom System statistisch aufbereitet werden.

Die Verlässlichkeit der Zahlen von benzinpreis.de hängt also davon ab, wie oft und wie genau die Nutzer dort Preise eintragen. Und das findet nicht so irre häufig statt: Der aktuellste Eintrag für Norwegen beispielsweise stammt sowohl bei Super als auch bei Diesel vom 20. April 2020. Aus den Niederlanden kam die letzte Super-Meldung am 3. August 2020 rein. Für Italien stammt der neueste Eintrag immerhin vom 15. September 2021 – ist damit aber auch schon einen Monat alt. Die Preise aus Kroatien stammen vom 22. Juni 2020. Die aus der Türkei vom 20. April 2020. Und so weiter. Die Preise für Deutschland stammen laut benzinpreis.de hingegen von der Markttransparenzstelle für Kraftstoffe des Bundeskartellamts.

Die “Bild”-Redaktion vergleicht also aktuelle Zahlen aus Deutschland mit veralteten aus dem Ausland, teilweise von vor eineinhalb Jahren.

Schaut man sich hingegen aktuellere Zahlen an, beispielsweise auf der Seite GlobalPetrolPrices.com, die bei der Preisermittlung laut eigener Angabe auf mehrere voneinander unabhängige Quellen zurückgreift (PDF), sieht man, dass Deutschland bei weitem nicht “Spritpreis-Europameister” ist: Beim Superbenzin lagen am 11. Oktober die Niederlande, Norwegen, Dänemark, Griechenland und Italien mit höheren Preisen vor Deutschland. Nimmt man noch weitere europäische Staaten in den Vergleich mit auf, die, warum auch immer, in der “Bild”-Liste nicht auftauchen, liegen auch noch Schweden, Finnland, Island, Portugal und Monaco vor Deutschland. Beim Diesel waren die Preise in Schweden, Norwegen, Großbritannien, Island, Dänemark, Belgien, Monaco, Finnland, Kroatien, Italien, Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz höher als in Deutschland.

Mit Dank an Marian und Theo für die Hinweise!

Nachtrag, 17. Oktober: Noch ein nachgereichter Gedanke: Was in dem (falschen) “Bild”-Ranking überhaupt keine Rolle spielt, ist die unterschiedliche Kaufkraft in den verschiedenen europäischen Ländern.

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“Nö, Bild, ihr nicht” – und “Bild” macht es trotzdem

“Sorry, aber mit euch niemals”, antwortet @Zigoooo1. “Nö, Bild, ihr nicht”, schreibt @MarwKiel.

Die zwei Twitter-User reagieren damit jeweils auf Anfragen der “Bild”-Redaktion. Die möchte in ihrer Berichterstattung nämlich Videos verwenden, die @Zigoooo1 beziehungsweise @MarwKiel zuvor bei Twitter hochgeladen haben. Die Aufnahmen zeigen, wie gestern ein Tornado durch Kiel zieht.

Screenshot eines Tweets Bild News - Guten Tag, wir würden das Video gerne für unsere Berichterstattung Online, Social, TV und Print nutzen. Natürlich nennen wir sie auch als Quelle, wenn sie der Urheber sein sollten. Vielen lieben Dank.

Anderen Medien, darunter CNN, CBS News, die dpa, die European Broadcasting Union, Weather.com, erlauben @Zigoooo1 und @MarwKiel auf Nachfrage, das Videomaterial zu verwenden. Dass auch “Bild” es verwendet, wollen sie offenbar nicht.

Die “Bild”-Redaktion benutzt die Videos aber einfach trotzdem.* Gestern Abend veröffentlichte sie bei Bild.de einen Artikel zum Kieler Tornado:

Screenshot Bild.de - Mehrere Menschen ins Wasser gespült - Tornado-Chaos in Kiel - Im Video! Hier schraubt sich der Tornado ans Ufer

Darin zu sehen: ein etwas mehr als eine Minute langer Videozusammenschnitt. Auch die Aufnahmen, die die zwei Twitter-User hochgeladen haben, sind dabei. Beim Video von @MarwKiel steht eine Quelle am rechten Bildrand:

Screenshot Bild.de - Videoaufnahme aus Kiel mit Quellenangabe

Beim Video, das @Zigoooo1 online gestellt hat, nicht mal das:

Screenshot Bild.de - Videoaufnahme aus Kiel ohne Quellenangabe

Bei einem dritten Video schreibt die “Bild”-Redaktion als Quelle “Wetterwarnungen Norddeutschland/Florian S.”, dabei gibt die Facebookseite “Wetterwarnungen Norddeutschland” selbst als Quelle “Alina Nissen” an.

Für “Bild” und den Axel-Springer-Verlag sind Urheberrechte immer ganz wichtig, vor allem dann, wenn es um die eigenen Urheberrechte geht. Geht es um die von anderen, nehmen sie es nicht so genau.

Inzwischen ist bei Bild.de ein längeres Video zum Tornado in Kiel erschienen, nun gut zwei Minuten lang. Die Aufnahmen, die @Zigoooo1 und @MarwKiel bei Twitter gepostet haben, sind darin weiterhin zu sehen.

Mit Dank an @daarin für den Hinweis!

*Nachtrag, 14:39 Uhr: Die “Bild”-Redaktion hat offenbar einen Umweg genommen, um an die Videos zu kommen: Sie hat sich die Aufnahmen bei einer Agentur besorgt. Zumindest bei einem der zwei Videos konnten wir eine vorherige Zustimmung des Urhebers der entsprechenden Agentur gegenüber finden. Über die Agentur ist das Video dann bei Bild.de gelandet, auch wenn die “Bild”-Redaktion wusste, dass der Urheber das nicht möchte.

Und bitte nicht wundern, dass manch ein Link in diesem Beitrag ins Nichts führt – der Twitter-User @Zigoooo1 hat seinen Account inzwischen gelöscht.

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Maaßens Gesinnungstest, Sportschau und Wettanbieter, Schmutzkampagne?

1. Maaßen fordert Gesinnungstest für “Tagesschau”-Personal
(spiegel.de)
In einem Interview bei TV Berlin hat der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsschutzes und aktuelle CDU-Bundestagskandidat Hans-Georg Maaßen gefordert, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der “Tagesschau” einem Gesinnungstest zu unterziehen. Angeblich gäbe es Verbindungen zwischen Teilen der “Tagesschau”-Redaktion und der linken und linksextremen Szene. Angesichts dieser verstörenden und hanebüchenen Aussagen kommentiert der ehemalige CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz auf Twitter: “Ich würde meiner Partei zu einem Ausschlussverfahren raten. Ja, auch im Wahlkampf. Gerade jetzt.” SPD, Grüne und Linke würden laut “Spiegel” ein Machtwort Armin Laschets fordern.

2. Jede Wette
(sueddeutsche.de, Lisa Priller-Gebhardt)
Die ARD-“Sportschau” hat sich den Wettanbieter Tipico als Werbepartner mit ins Boot geholt. Glücksspiel scheint in Deutschland ein enormes Wachstums-Potential zu haben. So habe sich zwischen 2013 und 2019 laut Deutschem Sportwettenverband der Umsatz der Branche von knapp vier auf fast acht Milliarden Euro verdoppelt. Bei Süddeutsche.de erklärt Lisa Priller-Gebhardt, warum die Kooperation von “Sportschau” und Wettanbieter aus ihrer Sicht gefährlich ist: “Für Suchtgefährdete heißt das, sie müssen nun auch mit Werbung für geschäftsmäßiges Tippen in den Öffentlich-Rechtlichen leben.”

3. Nein, liebe Grüne, das ist keine Schmutzkampagne, das ist normale Medienarbeit
(meedia.de, Stefan Winterbauer)
In Zusammenhang mit den Vorwürfen bezüglich der Buchveröffentlichung von Annalena Baerbock sprechen einige von “Rufmord” und einer medialen Schmutzkampagne. Stefan Winterbauer hält derlei Vorwürfe für Unsinn: “Die Vorgänge, die da kritisiert werden, sind ja alle wahr. Die Nebeneinkünfte wurden verspätet gemeldet, der Lebenslauf war aufgehübscht, im Buch finden sich abgeschriebene Passagen. Dass all dies grell ausgeleuchtet wird, das ist keine ‘Schmutzkampagne’. Das ist normale Medienarbeit.”

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4. EU-Ratspräsident torpediert Medienfreiheit
(reporter-ohne-grenzen.de)
Eine Untersuchung von Pressefreiheits- und Journalistenorganisationen unter Beteiligung von Reporter ohne Grenzen kommt zu dem Schluss, dass der seit Kurzem amtierende EU-Ratspräsident die Medienfreiheit in seinem Land torpediert: “Die slowenische Regierung hat es in nur 15 Monaten geschafft, die Lage der Pressefreiheit im Land ungarischen oder polnischen Verhältnissen anzunähern. Für Ministerpräsident Janša sind unabhängige Medien kein Bestandteil eines funktionierenden demokratischen Systems, sondern Oppositionskräfte, die bekämpft werden müssen. Diese Haltung darf auf keinen Fall zum Leitgedanken von Sloweniens Ratspräsidentschaft werden.”

5. Wer reguliert die Regulierer?
(zeit.de, Felix Stalder)
Felix Stalder arbeitet als Professor für Digitale Kultur an der Zürcher Hochschule der Künste. Für “Zeit Online” hat er Michael Seemanns neues Buch über “Die Macht der Plattformen” rezensiert: “Es ist eine der großen Stärken von Seemanns’ Buch, zwischen der strukturellen und politischen Analyse des Phänomens Plattform zu unterscheiden und damit die Frage der Regulierbarkeit sehr viel präziser stellen zu können, als dass dies in der Diskussion um ‘Geistiges Eigentum’ oder ‘Fake News’ zumeist geschieht.” Eine Schwäche des Buch sei der Begriffsapparat, der für die breite Öffentlichkeit zu überbordend und für die wissenschaftliche nicht präzise genug sei. Dennoch sei das Buch sehr lesenswert.

6. Christonormatives Radio
(taz.de, Mohamed Amjahid)
Mohamed Amjahid sind beim morgendlichen Hören der Morgenandacht des Deutschlandfunks zwei Fragen in den Sinn gekommen: “Was sagt es über die deutsche Medienlandschaft aus, dass die evangelische und die katholische Kirche exklusive Sendefenster in gemeinschaftlich finanzierten Programmen bekommen? Und was sagt es über die deutsche Medienlandschaft aus, dass andere (religiöse) Minderheiten dies nicht bekommen?”

“Bild” und Hitlers Badewanne

Der folgende Text sollte eigentlich in unserem Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste” erscheinen, hat aus Platzgründen aber einfach nicht mehr reingepasst. Darum freuen wir uns, ihn nun exklusiv hier zu veröffentlichen.

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Unser Buch ist überall erhältlich, zum Beispiel bei euren lokalen Buchhändlern, bei GeniaLokal, bei Amazon, bei Thalia, bei Hugendubel, bei buch7, bei Osiander oder bei Apple Books. Es ist auch als eBook und Hörbuch erschienen.

Das Drei-Millionen-Dollar-Märchen

Um ihre spektakulären Schlagzeilen zu konstruieren, braucht die “Bild”-Zeitung nicht viel. Manchmal genügt ein kleines Stück altes Papier.

„Es ist nur ein kleines Stück altes Papier, doch es kann ihr Leben verändern!“, schreibt die Dresdner “Bild”-Regionalausgabe im Herbst 2012.1 Auf einem Flohmarkt hätten Rentner Herbert und Lebensgefährtin Astrid (Namen geändert) einen Schwung alter Briefmarken gekauft. „Als ich diese auf dem Küchentisch ausbreitete, stockte mir der Atem!“, sagt Opa Herbert. Denn vor ihm liegt allem Anschein nach eine absolute Rarität: eine blaue One-Cent-Briefmarke mit dem Konterfei von Benjamin Franklin und einem eingepressten Muster, dem sogenannten „Z Grill“. Sie ist eine der seltensten Briefmarken der Welt, bisher sind lediglich zwei Exemplare bekannt (zum Vergleich: von der „Blauen Mauritius“ existieren noch zwölf2). Darum beträgt der Katalogwert der „Z Grill“ auch stolze drei Millionen Dollar.3

Ob Opa Herbert auf seinem Küchentisch genau diese Marke liegen hat, muss aber erst noch geprüft werden. „Das Echtheitszertifikat kann in diesem Fall jedoch nur die ‚Philatelic Foundation‘ in New York ausstellen“, zitiert “Bild” einen Briefmarkenexperten. Doch da gibt es einen Haken. Opa Herbert: „Ich habe nur 600 Euro Rente. Damit kann ich mir die Reise und die Prüfgebühr nicht leisten.” Verzweifelt suche er jetzt einen Sponsor, schreibt “Bild”, und damit endet der Artikel.

Dann passiert ein paar Tage lang gar nichts. Doch als plötzlich die britische “Daily Mail” über den Fall berichtet4, erkennt “Bild” offenbar das Potenzial der Story und hebt sie groß in die Bundesausgabe: „SAMMLERGLÜCK! Rentner findet 2,5-Mio.-Briefmarke auf dem FLOHMARKT“.5 Nun springen auch andere nationale und internationale Medien auf und berichten über die „Sammlersensation vom Flohmarkt“.6 Ob es sich bei der Briefmarke wirklich um das seltene Stück handelt, stehe aber immer noch nicht fest, schreibt “Bild”: „Offiziell muss die Echtheit der One-Cent-Marke noch von der ‚Philatelic Foundation‘ in New York bestätigt werden. Ohne ein Zertifikat dieser Stiftung kann die Marke nicht in einem Auktionshaus verkauft werden.“

Und dank der bundesweiten Aufmerksamkeit gibt es für die „Briefmarken-Millionäre“, wie “Bild” sie schon nennt, eine gute Nachricht: Ein Verlag für Briefmarkenzubehör bietet an, die Reisekosten nach New York zu übernehmen. Opa Herbert beantragt sofort einen neuen Reisepass: „Mein alter ist fast abgelaufen, genügt für den Flug nach New York nicht mehr.“7

Drei Wochen später ist es dann so weit: Endlich treten Opa Herbert und der “Bild”-Reporter die langersehnte Reise an. Endlich kann die Briefmarke auf Echtheit geprüft werden. Endlich geht es mit dem Flugzeug nach: London. „Jetzt brachte er seine Marke persönlich nach London – zur Wertermittlung. BILD begleitete ihn!“

Nanu? Statt in die USA fliegen sie auf einmal nach England. Und legen die Marke nicht der „Philatelic Foundation“ in New York, sondern der „Royal Philatelic Society“ in London vor. Eine Erklärung für den plötzlichen Kurswechsel liefert “Bild” nicht.

Der Grund ist aber nicht schwer zu erraten. Denn in New York wäre ihnen etwas dazwischengekommen, das der sensationellen Berichterstattung ein schnelles Ende bereitet hätte: die Wahrheit.

Schon einen Tag nachdem “Bild” zum allerersten Mal über den Fall berichtet hatte, also lange bevor die “Bild”-Maschinerie so richtig anlief, hatte die New Yorker „Philatelic Foundation“ bereits öffentlich und sehr eindeutig erklärt, dass die Briefmarke nicht die erhoffte Rarität sei: „Wir haben ihm [Opa Herbert] mitgeteilt, dass es nicht der Z-Grill ist“, sagte David Petruzelli von der Foundation gegenüber der amerikanischen “Huffington Post”, die den Fall in der “Bild”-Zeitung entdeckt und dann bei der Foundation nachgefragt hatte. 8 „Er hat uns einen guten Scan davon zugeschickt. Es ist nicht die Briefmarke“, so das Ergebnis der Experten. Der Mann solle sich nicht damit herumquälen, einen Sponsor zu suchen und nach New York zu fliegen. Das hätten schon viele Sammler getan und seien dann enttäuscht worden. Die Marke von Opa Herbert sei es nicht mal wert, daran zu lecken, jedenfalls nicht im Vergleich zu drei Millionen Dollar. „Ich habe mein Bestes gegeben, ihm zu erklären, dass es nicht die Briefmarke ist. Wir wollten nicht, dass er sich die Mühe macht.” Der Fund sei wahrscheinlich nicht der „Z Grill“, sondern ein „F Grill“. Er schätze den Wert auf unter hundert Dollar.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürften die Leute von “Bild” also gewusst haben, dass an der Geschichte nichts dran ist. Doch statt ihre Leser darüber aufzuklären, geben sie sich erst richtig Mühe, das Märchen von der „Millionen-Marke“ als Wahrheit zu verkaufen. So zitieren sie (eine Woche nachdem der New Yorker Experte erklärt hatte, dass es nicht die besagte Briefmarke sei) unter der Überschrift: „Profis von Millionen-Marke begeistert“ einen deutschen Gutachter mit den Worten: „Sie ist zu 99 Prozent echt, womöglich wertvoller als die Blaue Mauritius. Eine Fälschung ist unwahrscheinlich.“9

Derselbe „Gutachter“ erklärt jedoch wenig später dem “Briefmarken Spiegel”:

„Also erstmal bin ich kein Gutachter. Und zweitens sind die Sätze vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. Ich habe zwar erwähnt, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine echte, also schlichtweg um eine nicht gefälschte Briefmarke handelt, die auch echt gelaufen sein dürfte. Aber ich habe nie behauptet, dass es sich um die besagte Rarität handelt. Dies könnte ich ja auch gar nicht beurteilen.” Dazu in der Lage wäre einzig die Philatelic Foundation.10

Und was die von der Briefmarke hält, wissen wir ja nun. “Bild” aber erwähnt New York einfach überhaupt nicht mehr und reist ohne Erklärung nach London – wo die Marke erst einmal in einem Tresor landet, weil die Prüfung „ein halbes Jahr dauern“ könne, wie “Bild” schreibt.

Am Ende des Tages durfte [Opa Herbert] seine Marke persönlich in den großen Tresorraum der Royal Society legen – wo sie jetzt bleibt. Dann rief er Freundin [Astrid] (71) in Sachsen an: „Es ist geschafft, ich liebe dich!“11

Mit dieser rührenden Szene endet die Serie über das kleine Stück Papier, aus dem “Bild” ein halbes Dutzend Artikel und internationale Aufmerksamkeit generieren konnte. Während die eigentliche Frage, ob es wirklich drei Millionen Dollar wert ist, für die “Bild”-Leser weiter unbeantwortet bleibt.

Im Sauseschritt Ost-West-Konflikt

Die Wahrheit, schreibt Günter Wallraff schon 1977 in „Der Aufmacher“, liege bei “Bild” „oftmals weder in noch zwischen den Zeilen, sie liegt mehr unter den Zeilen, jedenfalls unter den gedruckten“. Gedruckt werde alles, was die Auflage steigert; nicht gedruckt werde, was den Verkauf nicht fördert. „Ein klassisches Prinzip, einfach und gleichzeitig universell anwendbar.“ 12

Dass die Briefmarke von Opa Herbert laut den Experten in New York weniger als hundert Dollar wert ist, wird nicht gedruckt. Und dass auch die Prüfer in London schließlich zu dem Ergebnis kommen, dass es sich mitnichten um die wertvolle Rarität handelt, wird von “Bild” erst Jahre später in einem Nebensatz erwähnt. Aber auch davon lässt sich die Redaktion nicht beirren: Im selben Artikel behauptet sie weiterhin, Opa Herbert habe die „Millionen-Briefmarke“ gefunden, einen „wertvollen Schatz, der sogar die blaue Mauritius in den Schatten stellt“.13

Diese selektive Realitätsverweigerung ist ein wesentlicher Bestandteil in der Berichterstattung der “Bild”-Medien. Ein Mittel, das die Redakteure einsetzen, um Geschichten künstlich aufzubauschen und am Leben zu halten. Nicht nur bei den großen, ernsten Themen wie Ausländerkriminalität oder Corona, auch bei kleineren, leichteren wie eben Briefmarken. Oder dem Sandmännchen.

Über das hat der “Bild”-Reporter, der für die Briefmarken-Story verantwortlich war, ein paar Jahre zuvor auch mal einen Artikel geschrieben, der ebenfalls für großes Aufsehen sorgen sollte. „Sandmann in den Westen verkauft“, lautet die Schlagzeile, die im Februar 2009 ausschließlich in den ostdeutschen Ausgaben von “Bild” zu lesen ist. Im Artikel schreibt der Reporter, dass „der Osten“ ab April „die Lizenz für seinen größten TV-Liebling“ verliere:

Generationen von Kindern brachte Sandmännchen (…) seit 1959 ins Bett. Und bis heute schalten ihn täglich 1,5 Mio. Fans ein. Genauso erfolgreich ist der TV-Knirps als Märchenfigur auf den Bühnen zwischen Rügen und Fichtelberg.

Doch damit ist jetzt Schluss. Ausgerechnet zum 50. Sandmann-Geburtstag hat der RBB die Sandmann-Lizenz in den Westen verkauft. Und zwar an das Kölner Theater Cocomico. (…) Der Vertrag läuft vorerst zwei Jahre. Danach können wir wieder auf unseren Sandmann hoffen!14

Tatsächlich wurden lediglich die Musical-Rechte an das Kölner Theater vergeben, wie uns ein RBB-Sprecher damals auf Nachfrage erklärt. Für das Sandmännchen im Fernsehen bleibe alles wie gehabt – was auch “Bild” bekannt gewesen sein dürfte, denn zwei Tage vorher hatte bereits die “Sächsische Zeitung” berichtet, dass sich an der Ausstrahlung im Fernsehen nichts ändere.

Nach Erscheinen des “Bild”-Artikels ruft ein Sprecher des RBB beim Autor des Textes an und weist ihn darauf hin, dass die Berichterstattung irreführend sei. Doch der lässt sich nicht vom Kurs abbringen und schreibt in der nächsten “Bild”-Ausgabe wieder über das Sandmännchen:

Der schnelle Verkauf unseres Sandmännchens in den Westen – Tausende Kinder zwischen Rügen und Fichtelberg sind traurig. (…) „Die Entscheidung, die Lizenz nach Köln zu geben, ist uns nicht leicht gefallen“, räumt [ein RBB-Sprecher] ein.15

Letzteres sei übrigens, wie uns der RBB-Sprecher damals versichert, ein Satz, den “Bild” „komplett frei erfunden“ habe.16 Er selbst habe das „nie gesagt“ – nicht zuletzt deshalb nicht, weil das Sandmännchen im Westen ohnehin längst so beliebt sei wie „zwischen Rügen und Fichtelberg“ und mehrere Jahrzehnte nach dem Mauerfall eigentlich nicht zum Ost-West-Konflikt tauge.

Eigentlich.

„Ist das die Unterhose von Eva Braun?“

Auch bei anderen Themen wird die Wahrheit häufig tief unter den Zeilen begraben. Gut zu beobachten beispielsweise in der Berichterstattung über einen alten Dauergast der “Bild”-Medien.

„Hitlers geheimer Gold-Zug!“, heißt es im Spätsommer 2015 groß auf der Titelseite der “Bild”-Zeitung, dazu ein Foto von Adolf Hitler, hinter ihm ein mit Kanonen bestückter NS-Zug.17 Im Westen Polens sei „ein verschollener Panzerzug der Wehrmacht entdeckt“ worden, schreibt “Bild”, an Bord sollen sich „von den Nazis geraubte Schätze und Kunstwerke befinden“. Zwei Hobbyforscher seien auf den Sensationsfund gestoßen, weil ihnen ein alter Mann auf dem Sterbebett das Versteck verraten habe. Ein polnischer Minister habe den Fund „zu 99 Prozent“ bestätigt.

In seriösen Medien kommen sofort Zweifel auf. “Spiegel Online” zitiert den polnischen Zentralbankchef, der die Geschichte einen „Hoax“ nennt.18 “Zeit Online” interviewt einen polnischen Geschichtsjournalisten, der sich an die erfundenen Hitler-Tagebücher erinnert fühlt. Auch die angeblichen Beweisfotos seien „dubios“, befindet “Zeit Online” und ahnt: Der Sensationsfund „könnte zur Ente verpuffen“.19

“Bild” hingegen lässt so gut wie keinen Zweifel an der Sache und ist ganz vorne mit dabei: „BILD vor Ort – Was passiert mit Hitlers Gold-Zug?“, „BILD traf den Mann, der das Geheimnis lüften kann“, „Historikerin brachte BILD-Reporter auf die Spur“. Tagelang folgt ein Artikel auf den nächsten: „Nazi-Zug versetzt Experten in Goldrausch“, „Juwelen, Gold, Bernsteinzimmer? Das Geheimnis um den Nazi-Zug von Polen“, „Zeigen Satelliten-Bilder, wo der Nazi-Zug steckt?“, „Geteilte Böschung mit auffälligem Bewuchs: Führt diese Furche zu Hitlers Gold-Zug?“20

Währenddessen machen sich, wie der Korrespondent von “Zeit Online” berichtet, „tausende Schaulustige und Abenteurer“ auf den Weg nach Niederschlesien, „um sich in den teils einsturzgefährdeten und womöglich verminten Stollen auf Schatzsuche zu begeben – und dabei in Lebensgefahr“.21 Sechs Tage später stürzt ein 39-jähriger Mann auf der Suche nach dem Zug in eine Vertiefung und stirbt.22

Als auch in den Wochen danach keiner der zahllosen Schatzsucher fündig wird, verschwindet der vermeintliche Hitler-Schatz nach und nach wieder aus der Berichterstattung der “Bild”-Medien. Als die Suche einige Monate später offiziell abgebrochen wird23, ist ihnen das nicht mal mehr eine kleine Meldung wert.

Die “Bild”-Artikel zum angeblichen Nazi-Gold-Zug sind auch heute noch online abrufbar. Viele davon sind mit großen Fotos von Adolf Hitler bebildert, einige nur gegen Bezahlung lesbar. Hitler verkauft sich. Was selbst “Bild”-Kolumnist Franz Josef Wagner sauer aufstößt:

Was mich anwidert, ist, dass Hitler eine Art Marke geworden ist. (…) Was mich nervt, ist seine unverminderte Gegenwart. Hitler-Filme, Zeichnungen von ihm werden in Auktionshäusern feilgeboten, Filme, „Der Untergang“, Bücher, „Er ist wieder da“.

Seine Ur-Enkel sind wieder da, sie werfen Brandbomben auf Flüchtlingsheime.

Mit dem Gold-Zug ist Hitler wieder da. Das Finstere, das Abscheuliche.

Die Schatzsuche nach dem Nazi-Gold ist für mich wie in Scheiße suchen.24

In der wühlt Wagners Heimblatt aber immer wieder gerne. Die Münchner Regionalausgabe von “Bild” zum Beispiel macht ein paar Monate vor dem Nazigoldrausch in Polen eine andere vermeintliche Hitler-Entdeckung, diesmal im Keller einer Hochschule.

„Das ist Hitlers Reichspartei-Badewanne“, titelt sie über dem halbseitigen Foto einer gammeligen Badewanne. Sie sei „schon ganz braun“, witzeln die Autoren: ein „rechteckiges Stück Geschichte – direkt aus Adolf Hitlers Büro-Badezimmer!“ Und exklusiv hinein in die “Bild”-Zeitung. Die Wanne sei zwischen 1933 und 1937 „in das Dienstbad des Diktators“ eingebaut worden und schließlich im Keller der Hochschule gelandet, heißt es im Artikel.25

Auf die Frage, ob sich Hitler „am Feierabend hier bei einem Schaumbad“ entspannte, gibt sich “Bild” die Antwort zwar gleich selbst – „höchstwahrscheinlich nicht“ –, doch das hält sie nicht davon ab, groß über den angeblich sensationellen Fund zu berichten. Belege gibt sie für das alles nicht an, weder Zitate von Experten noch handfeste Spuren oder Beweise, nicht mal ihre Quelle verraten die Autoren.

Der Kanzler der Hochschule erklärt uns damals auf Nachfrage:

Die Meldung ist aufgrund einer nicht autorisierten Auskunft unseres Hausmeisters erschienen. “Bild” hatte einen Bericht über unterirdische Gänge in München bringen wollen. Dabei sahen die Reporter die Badewanne im Keller und haben nachgefragt. Ob die Badewanne wirklich aus Hitlers Badezimmer stammt, wissen wir nicht. Ich wehre mich deshalb stets gegen Spekulationen. Leider war “Bild” nicht bereit, auf die Meldung zu verzichten.26

Stattdessen macht “Bild” aus der ranzigen Badewanne, in der Hitler höchstwahrscheinlich nicht gebadet hat, eine fast ganzseitige Geschichte und lässt jegliche Zweifel unter einer großen Schlagzeile verschwinden.

Im Juni 2017 dominiert Hitler wieder die “Bild”-Titelseite. „Hitlers Silberschatz gefunden“, heißt es dort groß neben einem Foto des Diktators. In Argentinien sei hinter einem Bücherregal ein „bizarrer Nazi-Schatz“ entdeckt worden: „STATUEN, KATZEN-SPARDOSE!“27 Als sich drei Monate später herausstellt, dass es sich um Fälschungen handelt28, ist davon in der “Bild”-Zeitung nichts mehr zu lesen.

„Hitlers geheimer Cognac-Keller entdeckt“, titelt “Bild” im Sommer 2015.29 Hier, in einem Keller in Sachsen, behauptet die Zeitung, habe „Adolf Hitler (†56) Ende 1944 seine Delikatessen und Unmengen Cognac“ versteckt. Beweise dafür hat sie bis heute nicht geliefert.30

„Es ist immer das Gleiche“, heißt es im 1978 erschienenen Dramolett „Der deutsche Mittagstisch“ von Thomas Bernhard: „Kaum sitzen wir bei Tisch an der Eiche, findet einer einen Nazi in der Suppe. Und statt der guten alten Nudelsuppe bekommen wir jeden Tag die Nazisuppe auf den Tisch. Lauter Nazis statt Nudeln.“31

Bei “Bild” wird vor allem einer aufgetischt. „Hitlers Lieblingsbücher“32, „Hitlers Bar“33, „Hitlers Mietvertrag“34, „Hitlers Hoden-Diagnose“35, “Grüner mit Hitler-Droge erwischt”36. Zwischendurch auch mal ein bisschen personelle Abwechslung: „BILD findet Görings Modell-Eisenbahn“37. Oder: „Wie kam Costa Cordalis an den Nazi-Teppich von Goebbels?“38 Oder: „Ist das die Unterhose von Eva Braun?“39

Solche „Hitlereien“ finden sich auch in anderen Medien, schreibt Daniel Erk, der für die Onlineausgabe der “taz” sechs Jahre lang das “Hitlerblog” geführt hat:

In diesen Jahren ist keine, wirklich keine Woche vergangen, in der Hitler nicht Thema in der Presse gewesen wäre, in der nicht irgendein Kasper einen mal guten, mal schlechten Hitler-Witz gemacht hätte oder in der die Symbole und Begriffe des Dritten Reiches nicht in einem abwegigen oder ärgerlichen Kontext aufgetaucht wären. Wirklich: keine einzige Woche.

Zu einem Erkenntnisgewinn hätten die Geschichten aber so gut wie nie geführt:

Idealerweise wäre das ja ein Kommunikationsanlass, um über den Hitler-Wahn, die Ängste, Symbole und Tabus zu sprechen. Stattdessen sieht man immer nur Titelgeschichten über Hitlers letzte Stunden und liebste Hunde. Die Boulevardisierung des Themas hat die Substanz längst verdrängt.40

Aber um Substanz, darum, die Leser zu informieren, geht es ja auch nicht, jedenfalls nicht der “Bild”-Zeitung. Verkauft werden nicht Tatsachen, sondern Geschichten. Und wenn die Fakten nicht zur Schlagzeile passen, werden sie geschickt umgedichtet oder verschwiegen. Dann erwähnen die “Bild”-Medien einfach gar nicht, dass sich der Sensationsfund als Fälschung entpuppt hat. Oder sie fliegen statt nach New York, wo sie die Realität erwarten würde, nach London, wo sie die Geschichte noch weiterfüttern können. Wer sich nur in “Bild” informiert, glaubt womöglich heute noch, dass in Polen ein Nazi-Zug voller Gold gefunden, dass das Sandmännchen in den Westen verkauft und dass Opa Herbert Briefmarkenmillionär wurde.

„Versteckt sich in der Mona Lisa ein Alien?“

Dass gerade die Hitler-Geschichten in “Bild” seit Jahren so eine prominente Rolle spielen, dürfte aber nicht nur daran liegen, dass sie gut geklickt und gekauft werden. Absurde Schlagzeilen wie „UFO-Sekte will jetzt Hitler klonen!“41 oder „Zeigten Kornkreise Hitlers Bombern den Weg?“42 haben der Zeitung insbesondere unter Chefredakteur Kai Diekmann hin und wieder einen ironischen Touch verliehen: auch mal albern sein, sich selbst nicht so ernst nehmen. In dieser Zeit erschienen immer wieder Geschichten wie „Haben Außerirdische den Windrad-Flügel geklaut?“43, oder „Versteckt sich in der Mona Lisa ein Alien?“44, oder „Liegt da ein abgehacktes Bein auf dem Mars?“45

Doch seit Julian Reichelt das Steuer übernommen hat, finden solche Blödeleien kaum noch statt. Die “Bild”-Themenseite „Mystery“ („Aliens, Ufos, Übersinnliches“), die unter Diekmann laufend mit bekloppten Ufo-Geschichten befüllt wurde, besteht heute aus Artikeln wie „Mutter (84) und Sohn saßen wochenlang tot auf dem Sofa“46 oder „Wie Corona-Leugner um die Promis werben“47. Generell findet man in den heutigen “Bild”-Medien augenzwinkernde Elemente eher selten. Der Ernst hat Einzug gehalten. Und: die Politik.

Denn unter Reichelt ist auch die scherzhafte Seite von “Bild”, so sie denn mal zum Vorschein kommt, oft politisch aufgeladen. „Ist Wladimir Putin ein unsterblicher Vampir?“, heißt es dann zum Beispiel: „Gruselige Nachrichten zu Russlands Präsidenten Wladimir Putin: Ist der Kreml-Chef unsterblich? Beteiligt er sich seit knapp 100 Jahren an russischer Kriegspolitik? Oder sogar schon seit Jahrhunderten?“48

Oder: „Ist Donald Trump die dritte Inkarnation des Teufels? Wird der New Yorker Immobilienmogul einen 27 Jahre langen Weltkrieg auslösen?“, wie “Bild” Anfang 2017 fragt, unter der Überschrift: „Sagte Nostradamus die Trumpocalypse voraus?“49

Andere Albernheiten, mit Aliens und ohne Agenda, hat “Bild” auf vereinzelte Ausnahmen reduziert. Hitler geht aber immer noch.

„Letzter Hitler bricht sein Schweigen!“, verkündet “Bild” im Oktober 2018 exklusiv auf der Titelseite: „BILD traf den Groß-Neffen in den USA“.50 Für die Story hat die Redaktion die komplette Seite 3 der Bundesausgabe freigeräumt, in der Mitte: ein riesiges Foto von Adolf Hitler.

Der Mann, den “Bild” in den USA gefunden hat und „Alexander Hitler“ nennt, soll um viele Ecken ein Nachfahre Adolf Hitlers sein. Mit Medien redet er eigentlich nicht. Als die “New York Times” ihn 2006 aufspürt, bittet er „vehement und wiederholt“ darum, nicht identifiziert zu werden, aus Angst vor einem Mediensturm und davor, dass man ihn fälschlicherweise für einen Nazi halten könnte.51

Er heißt nicht mal Hitler. Das schreibt auch der “Bild”-Redakteur im Artikel – und nennt ihn trotzdem so, immer und immer wieder. „Alexander Hitler lebt in einem Holzhaus.“ „DEAD END steht auf dem Schild vor der Straße, in der Alexander Hitler wohnt.“ „Gepflegt sind dafür die vielen Topfpflanzen, die hier stehen. Fleißiges Lieschen, Bartnelken, Eisbegonien, Funkien. Die amerikanischen Hitlers haben einen grünen Daumen.“

In der kleinen Stadt wisse „fast niemand“, dass der Mann „der letzte Hitler“ sei, schreibt die “Bild”-Zeitung. Und als wollte sie etwas daran ändern, verrät sie, in welcher Gegend der Mann wohnt, beschreibt sein Grundstück, was für ein Auto er fährt. „Er ist groß, zirka 1,85 Meter, trägt ein türkis-weiß-kariertes Hemd und eine beigefarbene Cargohose. Alexander Hitler.“ Im Artikel zeigt “Bild” über die gesamte Seitenbreite ein Foto, das offenbar aus größerer Entfernung aufgenommen wurde: Der Mann steht in der Tür seines Hauses, sein Gesicht ist nicht verpixelt.

Wir haben damals bei “Bild” nachgefragt, ob der Mann wusste, dass er fotografiert wird, und ob er eingewilligt hat, dass dieses Foto veröffentlicht wird. Der “Bild”-Redakteur wollte uns darauf nicht antworten.

Die Geschichte und das unverpixelte Foto des Mannes gehen um die Welt. Stolz präsentiert “Bild” am nächsten Tag „internationale Presse-Reaktionen“52: Zeitungen in England, Spanien, der Türkei „und über 100 weitere Medien“ hätten über die “Bild”-Zeitung und den „letzten Hitler“ berichtet.

Obwohl er weder ein „Hitler“ ist noch „der letzte“ – er hat noch zwei Brüder. Die auch nicht Hitler heißen. Auch bei deren Haus (das “Bild” ebenfalls abbildet) klingelt der Redakteur. „Die Tür öffnet sich einen Spalt. Ein Mann, um die 50 Jahre alt, schiebt das Fliegengitter beiseite und streckt seinen Kopf heraus. Volles, dunkles Haar, glatt rasiertes, kantiges Gesicht. Hitler trägt kurze Hose.“

Als sich der “Bild”-Redakteur als solcher zu erkennen gibt, schließt der Mann sofort die Tür. Und schaltet die Rasensprenger an.

Alle Schummelminister sind gleich, aber manche sind “Bild”-Freunde

Wie “Bild” berichtet, hängt in weiten Teilen davon ab, wer Freund der Redaktion ist und wer Feind, wer Gegner und wer Gefährte. Das war schon lange so, bevor Julian Reichelt Chefredakteur wurde; unter ihm hat sich diese Einteilung in Gut und Böse aber wieder verstärkt. Wie unterschiedlich die “Bild”-Medien, je nach Gunst, ähnliches Handeln verschiedener Menschen beurteilen, kann man gut an der aktuellen Berichterstattung über Franziska Giffey beobachten.

“Bild am Sonntag” nennt die wegen der Affäre um ihre Doktorarbeit zurückgetretene Familienministerin bereits nur noch “Schummelministerin”; Bild.de stellt sie gewissermaßen als Abkassiererin dar (“57 000 Euro nach Rücktritt wegen Doktortitel”), obwohl ihr das Geld dem Gesetz zufolge schlicht zusteht; und dann lasse Giffey durch ihren Rücktritt laut “Bild”-Redaktion auch noch “ein wichtiges Ressort im Kampf gegen die Corona-Pandemie und deren Folgen im Stich”. Egal, wie sie es macht: Rücktritt – falsch, kein Rücktritt – ebenfalls falsch.

Am kräftigsten teilt “Bild”-Chefkolumnist Alfred Draxler gegen Franziska Giffey aus:

Screenshot Bild.de - Kommentar zum Giffey-Rücktritt - Sie hat geschummelt, gemogelt und betrogen!

Draxler schreibt:

Jetzt ist die SPD-Politikerin ausgerechnet wegen ihrer Doktorarbeit als Bundesfamilienministerin zurückgetreten. In ihrer Dissertation liegt an 27 (!) Stellen eine objektive Täuschung vor. Heißt: Sie hat ohne Quellenangaben abgekupfert.

Sie hat geschummelt, gemogelt und betrogen!

Und jetzt will sie auch noch weiter tricksen!

Denn Giffey hält trotz der Plagiatsvorwürfe an ihrem Plan fest, im September Bürgermeisterin von Berlin werden zu wollen. Draxler:

Die großen Berliner Bürgermeister Ernst Reuter, Willy Brandt und Richard von Weizsäcker würden sich bei solch einer Nachfolgerin im Grabe umdrehen.

Zweifelsohne gibt es gute Gründe dafür, Franziska Giffeys Verhalten – sowohl in Bezug auf ihre Doktorarbeit als auch mit Blick auf ihre Berlin-Pläne – ausgesprochen kritisch zu sehen. In einem ähnlichen Fall legte Alfred Draxler allerdings völlig andere Maßstäbe an. Er ließ nicht gleich tote Politik-Größen im Grab rotieren. Im Gegenteil. Er fieberte schon dem Comeback eines Schummelministers (den Draxler und “Bild” natürlich nicht so nannten) entgegen: Im August 2017 sieht er bei einer Wahlkampfveranstaltung eine Rede von Karl-Theodor zu Guttenberg. Und ist hin und weg:

Screenshot Bild.de - Erste Wahlkampfrede bei Bier und Jubel - Guttenberg will's wissen

War da nicht mal was mit einer abgeschriebenen Doktorarbeit? Für Alfred Draxler alles nur eine Klammer wert:

Sechseinhalb Jahre nach seiner Abdankung (wegen teilweise abgeschriebener Doktorarbeit) hat Ex-Wirtschafts- und Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (45) gestern Abend in seinem alten Wahlkreis seinen ersten öffentlichen politischen Auftritt.

Bei Franziska Giffey setzt Draxler für die “objektive Täuschung” an 27 Stellen ein Extra-Ausrufezeichen, bei Karl-Theodor zu Guttenberg und dessen 1218 Plagiatsfragmenten reicht ihm ein abschwächendes “teilweise”. Aber bei Guttenberg gab es ja auch diesen tobende Saal, die ständigen “KaTe, KaTe”-Rufe, das “überschäumende Bad im Jubel”. Hach, der Karl-Theodor:

Er in Jeans, blauem Sakko, offenem weißen Hemd, Ein-Tage-Bart. Seine schöne Frau Stephanie an seiner Seite, neben ihr Guttenbergs Vater Enoch. “Klartext” versprachen die Plakate draußen.

Und KT liefert: Klartext

Draxler sieht den Ex-Minister schon zurück in höchsten politischen Ämtern – und Guttenbergs einstiges Schummeln, Mogeln, Betrügen so gar nicht als Hindernis:

Es drängt sich der Eindruck auf: Hier läuft sich einer warm für neue politische Aufgaben. Charismatische Politiker wie KT sind rar. Er hat die Unterstützung von CSU-Chef Seehofer (“Wir können ihn sehr gut gebrauchen.”). Und: Die Basis hat ihm längst vergeben. (…)

Einer wie KT drängt sich nicht auf. Er muss sich in Demut üben – um eines Tages gerufen zu WERDEN. Als Minister? Seine Rede klang wie eine Bewerbung fürs Außenministerium.

Oder für etwas anderes?

Nach dem, was ich gestern Abend in Kulmbach erlebt habe, halte ich nichts mehr für undenkbar …


Unser Buch ist seit dem 11. Mai überall erhältlich, zum Beispiel bei euren lokalen Buchhändlern, bei GeniaLokal, bei Amazon, bei Thalia, bei Hugendubel, bei buch7, bei Osiander oder bei Apple Books. Es ist auch als eBook und Hörbuch erschienen.

Alfred Draxlers Jubel über Karl-Theodor zu Guttenberg ist die konsequente Fortführung einer seit Jahren andauernden “Bild”-Kampagne für den Liebling des Hauses. In unserem kürzlich erschienenen Buch über “Bild” haben wir ein ganzes Kapitel zu den Feind- und Freundbildern der Redaktion geschrieben. Die Berichterstattung über Guttenberg spielt darin eine zentrale Rolle. Hier ein Auszug:

Mit wie viel Energie und Einfallsreichtum “Bild” für Freunde in die Bresche springt, lässt sich seit mehr als zehn Jahren an der Berichterstattung über einen Mann beobachten, mit dem Julian Reichelt eine ganz persönliche Geschichte verbindet: “Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Wilhelm Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg”, wie “Bild” ihn nach seiner Ernennung zum Wirtschaftsminister groß auf der Titelseite nennt, ohne zu merken, dass einer der Namen frei erfunden ist (Wilhelm; er stammt aus einem manipulierten Wikipedia-Eintrag).1 Solche Nachlässigkeiten sollten der Redaktion in Zukunft aber nicht mehr passieren, denn schnell wird Guttenberg in den “Bild”-Medien zum glänzenden “Einhorn der deutschen Politik”2 erklärt. Ein “Aufklärer und Erneuerer”, “attraktiv, bescheiden, voller Power”3.

Als Verteidigungsminister – “Minister Liebling”4 – wird Guttenberg bei fast jeder seiner Auslandsreisen von “Bild” begleitet, genauer: vom damaligen “Bild”-Reporter Julian Reichelt, der den Kurs des “Klartext-Ministers” immer wieder lobt und sich für die deutschen Soldaten freut, die “nun endlich den Minister” hätten, “den sie verdienen”.5 (Im Sommer 2010 kommt der Verteidigungsminister dann auch persönlich zur Vorstellung von Reichelts neuem Buch.6) Die Inszenierung des Ministers geht so weit, dass “Bild” ein exklusives Foto – Guttenberg in “Top-Gun”-Pose vor einem Kampfjet – fast seitenhoch auf die Titelseite druckt und sogar eine 3D-Brille dazulegt: “Exklusiv in 3D: Minister Guttenberg fliegt im Kampfjet”.7 Immer wieder erscheinen Zeilen wie “Guttenberg auch in China ein Star”8 oder “Karl-Theodor und Stephanie zu Guttenberg: Total verschossen auf der Wiesn!”9 oder “Sind Adelige die besseren Politiker?”10 Ende 2010 träumt Bild schon von Kanzler Guttenberg: “CSU-Chef, Ministerpräsident oder sogar Kanzler … In welches Amt stürmt Guttenberg 2011?”11 Als Guttenbergs “hinreißende Frau Stephanie”12 eine Sendung bei RTL2 moderiert, machen die “Bild”-Medien in großem Stil Werbung dafür, lobpreisen die Show und ihre Macherin – “Deutschlands heimliche First Lady”13 – wochenlang auf allen Kanälen (“Bravo, Stephanie zu Guttenberg!”, “Respekt, Frau zu Guttenberg!”)14, und als sie im Dezember 2010 mit ihrem Mann deutsche Truppen in Afghanistan besucht, erklärt “Bild” auf der Titelseite in großen Lettern: “Wir finden die GUTT! Nörgler, Neider, Niederschreiber: Einfach mal die Klappe halten!”15

Zwei Monate später, an einem Samstagabend, macht es sich der Juraprofessor Andreas Fischer-Lescano mit einem Glas Rotwein vor seinem Computer gemütlich. Auf dem Monitor vor ihm: die Dissertation von Karl-Theodor zu Guttenberg. Er hat die 475 Seiten bereits gelesen, jetzt will er eine Rezension für eine Fachzeitschrift schreiben. Bei einer routinemäßigen Google-Suche merkt er plötzlich, dass einige Passagen der Arbeit wortwörtlich aus anderen Publikationen übernommen wurden.16

Vier Tage später titelt die “Süddeutsche Zeitung”: “Plagiatsvorwurf gegen Guttenberg”.17 Sofort stürzen sich nationale und internationale Medien auf die Enthüllung, nennen Guttenberg den “Lügenbaron”18. Rücktrittsforderungen kommen von allen Seiten. “Bild” aber geht mit voller Kraft in den Verteidigungsministerverteidigungsmodus. “Macht keinen guten Mann kaputt. Scheiß auf den Doktor”19, schreibt “Bild”-Kolumnist Franz Josef Wagner am Tag nach Bekanntwerden der Vorwürfe (obwohl er knapp zwei Jahre zuvor noch gegen jene “Uni-Luschen” gewettert hatte, die sich einen Doktortitel erkaufen: “Sich ein falsches Gehirn einpflanzen zu lassen, muss per Gesetz bestraft werden. Ein Doktortitel ist kein Busen, kein Facelifting und keine Straffung des Popos”20). Als Guttenberg kurz darauf verkündet, er wolle im Amt bleiben, titelt “Bild”: “GUT! Guttenberg bleibt!” Was hier geschehe, sei eine “Hetzjagd auf den beliebtesten Minister der Republik”.21

“Bild”-Redakteure treten in Talkshows auf, um dem Minister beizuspringen; Nikolaus Blome, damals Leiter des “Bild”-Hauptstadtbüros (dessen Buch der Minister eigentlich auch vorstellen wollte, bis die Plagiatsaffäre dazwischenkam22), wiegelt bei “Hart aber Fair” ab: “Der Untergang des Abendlandes fällt aus, trotz dieser Doktorarbeit.” Bei “Maischberger” ringt eine “Bild-am-Sonntag”-Redakteurin, so beschreibt es der “Spiegel” später, “wie eine Ehefrau um Verständnis für den jungen Familienvater, der in siebenjähriger Nachtarbeit seine Doktorarbeit erstellt, dabei ein paar Fehler gemacht und nun als großartiger Minister Ziel einer Kampagne geworden sei. Aber: ‘Er ist auch ein Mensch.'”23 Der “Spiegel” nennt “Bild” damals die “Leibgarde von Karl-Theodor zu Guttenberg”.24

Kurz darauf startet “Bild” eine große Leseraktion. Auf der Titelseite wird dazu aufgerufen, per Telefon und Fax (kostenpflichtig) darüber abzustimmen, ob Guttenberg Minister bleiben oder zurücktreten solle. Auch online kann man abstimmen. Als sich dort eine Mehrheit gegen den Minister abzeichnet, verschwindet die Umfrage von der Seite. Sie erscheint erst wieder, als Journalisten sich nach dem Ergebnis erkundigen – das da lautet: 56 Prozent wollen den Rücktritt; nur 35 Prozent finden, er mache seinen Job gut.25 Tags darauf titelt “Bild”: “87% Ja-Stimmen beim BILD-Entscheid – ‘Ja, wir stehen zu Guttenberg!'”26 Die Zahl, behauptet die Zeitung, stamme aus dem Telefon- und Fax-Voting; die Online-Umfrage wird gar nicht erwähnt und in den Tiefen der Website versteckt.27

Sogar nach dessen Rücktritt ist “Bild” offenkundig bemüht, Guttenbergs Ansehen zu beschützen: Am Tag nach der Rücktrittserklärung beschreibt Julian Reichelt unter der Überschrift “Ich war mit dem Minister im Krieg” in herzerwärmenden Worten, wie Guttenberg einmal in ein brennendes Flugzeug kletterte, um für seinen Piloten, der Geburtstag hatte, eine Kiste Bier zu holen. Er habe oft von “Pflicht” und “Anstand” gesprochen, und Reichelt könne “bezeugen, dass seine Taten zu seinen Worten passten”.28

Bis heute berichten die “Bild”-Medien (oft exklusiv) über Guttenbergs Projekte29 und Aussagen30, lassen ihn Gastkommentare schreiben31, feiern auf der Wiesn “große Gaudi mit Guttenbergs”32. 2017, gerade mal einen Tag nach seinem ersten öffentlichen politischen Auftritt seit der Plagiatsaffäre, bringen “Bild” und Alfred Draxler ihn schon wieder als Kanzler ins Spiel.33

So behandelt “Bild” Freunde.

Bildblog unterstuetzen

Ein Jahr Corona in “Bild”

Der folgende Text sollte eigentlich in unserem Buch “Ohne Rücksicht auf Verluste” erscheinen, hat aus Platzgründen aber einfach nicht mehr reingepasst. Darum freuen wir uns, ihn nun exklusiv hier zu veröffentlichen.

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Unser Buch ist ab heute überall erhältlich, zum Beispiel bei euren lokalen Buchhändlern, bei GeniaLokal, bei Amazon, bei Thalia, bei Hugendubel, bei buch7, bei Osiander oder bei Apple Books. Es ist auch als eBook und Hörbuch erschienen.

Kein Thema hat die Berichterstattung der “Bild”-Medien in der jüngeren Vergangenheit so sehr bestimmt wie die Corona-Pandemie. Aber wie genau sah diese Berichterstattung aus? Wie hat sich die Redaktion positioniert? Was war gut und was schlecht? Schaut man sich an, wie “Bild” im Jahr 2020 über das Coronavirus berichtet hat, lassen sich neun Phasen erkennen. Diese sind nicht komplett trennscharf, sie überlappen sich teilweise oder laufen parallel.

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Die Kennenlernphase (Januar 2020)

Es ist nur eine kurze Meldung, gerade mal 18 Zeilen lang, unauffällig platziert auf Seite 10 neben einem Ratgeberbeitrag, der erklärt, wie die Vorsätze für das neue Jahr “wirklich zu schaffen sind”. Überschrift: “SARS in China ausgebrochen?”

In der chinesischen Großstadt Wuhan ist eine mysteriöse Lungenkrankheit ausgebrochen. Bislang seien 27 Erkrankte identifiziert worden. Laut Experten sei die Ursache der Erkrankung derzeit noch unklar. Das chinesische Parteiorgan “Volkszeitung” spricht von “schweren Lungenentzündungen”. Beobachter befürchten jedoch, das SARS-Virus könnte die Ursache für die Erkrankung sein.1

An diesem 2. Januar 2020 schreibt “Bild” erstmals über das, was sich zur weltweiten Pandemie entwickeln wird.

In den folgenden Tagen passiert erst mal: nichts. Fast drei Wochen dauert es, bis in “Bild” zum ersten Mal von “Corona” die Rede ist. Am 22. Januar erscheint ein Artikel über einen “Berliner Professor”, der das “Corona-Virus” entschlüssele. Gemeint ist der Virologe Christian Drosten. Zu diesem Zeitpunkt gebe es “schon 6 Tote in China”, schreibt die Redaktion auf Seite 6:

Das neue Corona-Lungenvirus breitet sich auf dem asiatischen Kontinent aus.

Die Zahl der Infizierten stieg in China auf 291. Dazu kommen Fälle in Thailand, Japan, Südkorea, Taiwan und sogar in den USA. Sechs Menschen starben bereits.

Noch wird das Risiko einer Ausbreitung auch in Deutschland als gering gewertet.2

“Bild” zitiert Drosten mit: “Wir müssen uns in Deutschland darauf vorbereiten, dass es zumindest in Einzelfällen auch zu Einschleppungen der Erkrankung kommt.”

Von nun an geht es ganz schnell, exponentiell sozusagen. Bereits einen Tag später fragt “Bild”: “CORONA-VIRUS – Panikmache oder echte Gefahr für die Welt?”3 Schon jetzt haben die Layouter den Artikel in das Gelb getunkt, das sie traditionell bei Seuchen verwenden4 und das die Berichterstattung des kommenden Jahres optisch prägen wird. Am 27. Januar sind laut “Bild” “Europas Flughäfen in Alarm-Bereitschaft”, denn: Das “Corona-Virus breitet sich rasant aus – viele weitere Fälle”.5 Zwei Tage später dann die erste Corona-Titelseite: “Bundeswehr rettet Deutsche aus der Seuchen-Zone +++ Sondermaschine startet heute nach China +++ Schon vier Corona-Fälle in Deutschland +++ Botschaft organisiert Krisentreffen +++ Ansturm auf Schutzmasken +++ Was Sie jetzt wissen müssen”. Ein “Bild”-Redakteur schreibt im Kommentar: “Keine Panik!”, schließlich gelte: “Fast so schlimm wie ein Virus ist die Angst davor.”6

***

Die Angst- und Alarmphase (Januar bis März 2020)

Nur einen Tag nach diesem Versuch, die Leserschaft etwas zu beruhigen, titelt “Bild”: “Deutsche China-Rückkehrer auf Isolier-Station – Corona-Angst!”7 Auch einen Tag später: “Corona-Angst – China-Rückkehrer werden HIER isoliert!” Im Blatt schlägt die Redaktion “Corona-Alarm auf Kreuzfahrtschiff” und schreibt von der “Sorge um Weltwirtschaft”.8 Wiederum einen Tag später steht auf Seite 1: “CORONA-ALARM in Deutschland, Vater und Tochter (5) erkrankt – Hier holen sie die erste Familie ab”. Dazu zeigt “Bild” ein großes Foto einer (immerhin verpixelten) Familie, die von Menschen in Schutzanzügen in Rettungswagen gebracht wird.9 “Bild am Sonntag” bietet am Tag darauf eine Übersicht über die “Seuchen der Angst” der vergangenen Jahre.10

Auch auf der Bild.de-Startseite herrscht zu dieser Zeit vor allem Verunsicherung, Ungewissheit und Angst: “CORONAVIRUS KAM DIREKT AUS DER SEUCHENZONE”11, “VIRUS-ANGST IN DEUTSCHLAND! Apotheken gehen die Schutzmasken aus”12, “Schlangen sollen das Coronavirus auf uns übertragen haben”13, “Ist es gefährlich, Pakete aus China anzunehmen?”14

Nachdem ein erster Corona-Ausbruch in Bayern15 unter Kontrolle zu sein scheint, verschwindet das Virus fast vollständig wieder von der “Bild”-Titelseite. Andere Themen sind wichtiger: “AKK gegen Merkel – Bitterböser Machtkampf”16, “Nach AKK-Abgang – MERZ KÄMPFT UM DIE MACHT IN DER CDU”17, “Deutschlands schlimmste Rentner-Abzocker gefasst!”18 Die Corona-Meldungen, die es nach ganz vorne schaffen, klingen fast schon hoffnungsvoll: “CORONA-Rückkehrer aus Quarantäne entlassen!”19, steht am 17. Februar auf Seite 1.

Eine Woche später ist es mit der Hoffnung allerdings vorbei. Die Schlagzeilen der Woche lauten:

• CORONA-ALARM! Italien riegelt Städte ab
• Minister Spahn schlägt CORONA-ALARM – “Die Epidemie ist in Europa angekommen”
• CORONA-AUSBRUCH im Rentner-Paradies – Deutsche Touristen im Hotel auf Teneriffa gefangen
• CORONA – So schützen Sie sich JETZT!
• Regierung beruft Expertenrunde ein – Der Krisen-Plan gegen Corona
• Corona-Verdacht im Regierungs-Flieger
• Wochenende im Bann von CORONA – Weltgrößte Tourismus-Messe in Berlin abgesagt +++ Konzerte, Fußballspiele auf der Kippe +++ Schon 54 Infizierte +++ Dax rauscht ab +++ Autogramm-Verbot für Bayern-Spieler +++ ERSTER HUND positiv +++ WHO löst “höchste Alarmstufe” aus +++ BILD sagt, was Sie jetzt beachten müssen20

Bei Bild.de ist die Stimmung dieselbe. Obendrauf kommen Fotos von leeren Supermarktregalen und Anleitungen zu “Hamsterkäufen”: “FAMILIENVATER ZEIGT SEINEN VORRATSKELLER – Wegen Corona! Das habe ich für 420 Euro eingekauft”.21 “Hohe Verkaufszahlen bei Aldi und Lidl – Hamsterkäufe wegen Coronavirus!”22 Die “Bild”-Redaktion treibt ihre Leserschaft in die schon teilentleerten Supermärkte: “CORONA-ANGST IN DEUTSCHLAND – Diesen Vorrat brauchen Sie für zehn Tage Quarantäne!”23 Und damit es auch schmeckt, erzählt Koch Johann Lafer bei “Bild-TV”: “Das können Sie aus Ihren Corona-Vorräten kochen”.24 Nur eine Woche später meldet “Bild”: “TAFELN SCHLAGEN ALARM – Wegen Hamstereinkäufen! Weniger Essen für Bedürftige”.25

Die Redaktion macht (nicht nur) in dieser Zeit aus der Angst der Leser Geld. Sie eröffnet mit fragenden Überschriften teils ganz alltägliche Schreckensszenarien und gibt die Antworten nur hinter der “Bild-plus”-Paywall: “BILD fragte bei Hersteller Hakle nach – Kann Klopapier wirklich knapp werden?” (Antwort: Nein).26 Oder: “ITALIEN SCHLIESST ZAPFSÄULEN – Machen auch bei uns die Tankstellen dicht?” (Antwort: Nein).27 Und: “Fast 100 Milliarden Euro fehlen – GEHT DEUTSCHLAND PLEITE?” (Antwort: Nein, “Deutschland kann kaum pleite gehen”).28 Es scheint “Bild” nicht darum zu gehen, die Leserschaft ordentlich und gewissenhaft zu informieren, sondern um den Verkauf von Abos: In der “Amazon”-Doku “BILD.Macht.Deutschland?” sagt Julian Reichelt in einer Redaktionskonferenz mit Blick auf die Corona-Krise: “Es geht darum, dass wir in einer Zeit, in der unsere Auflage morgen um die Hälfte einbrechen kann, eine wirtschaftliche Perspektive haben.”29

Wie folgenreich die “Bild”-Berichterstattung in einer derart angespannten Situation sein kann, zeigt sich am 22. März. Im Corona-Liveticker bei Bild.de erscheint eine Meldung zum Ortenau-Klinikum in Offenburg. Überschrift: “Das Klinikum Offenburg sucht händeringend Helfer!”30 Im Text steht:

Das Klinikum Offenburg (Baden-Württemberg) ist am Limit – und richtet diesen Appell an die Öffentlichkeit: Dringender Appell an euch!

Wir benötigen im Klinikum Offenburg dringend helfende Hände. Ob mit oder ohne medizinische Erfahrung spielt keine Rolle. Es gibt Bedarf in der Küche, an der Pforte, Essen verteilen, Betten schieben. Und wer medizinische Kenntnisse hat im pflegerischen Bereich.

Wer jemand kennt, der jetzt zum Beispiel in Kurzarbeit ist, bitte melden. Per E-Mail: […] oder telefonisch […].31

Die “Bild”-Redaktion nennt eine E-Mail-Adresse und eine Telefonnummer, die man anschreiben beziehungsweise anrufen soll, wenn man helfen möchte. Nur: Das Klinikum sucht gar nicht “händeringend Helfer”. “Bild” scheint blindlings aus einer kursierenden WhatsApp-Nachricht abgeschrieben zu haben. Die Redaktion von “Hitradio Ohr” fragt hingegen mal beim Klinikum nach:

Auf HITRADIO OHR-Anfrage hieß es heute (Sonntag) vom Ortenau Klinikum, das sei wohl Fake News.

Es gebe Überlegungen, ob das irgendwann nötig sei und intern gebe es beim Ortenau Klinikum die Überlegung, ob man sich – wenn sich die Situation verschlechtere – auch an die Öffentlichkeit wende. Das sei aber nur eine Idee und momentan KEIN Aufruf an die Bevölkerung. Beim Klinikum stehe wegen des “Fake-Aufrufs” das Telefon nicht mehr still.32

Nun ist es eine Sache, dass die Mitarbeiter des Klinikums auch dank “Bild” auf “rund 1000 Anfragen” reagieren müssen und damit nicht ihrem eigentlichen Job nachgehen können. Dazu kommt, dass die Meldung in dem Liveticker den Eindruck vermittelt, dass ein Krankenhaus die Situation nicht mehr im Griff hätte und bereits “am Limit” wäre. Das Ortenau Klinikum sieht sich genötigt, diesem Eindruck entgegenzuwirken. Es veröffentlicht eine Stellungnahme und betont, dass man “bestens ausgestattet” sei.33

Erst nach mehreren Stunden löscht Bild.de die Falschmeldung und schreibt in einer späteren Liveticker-Meldung, dass ein gefälschter Appell des Klinikums Offenburg im Umlauf sei. Die eigene Rolle bei dieser Geschichte bleibt unerwähnt.

Von solchen Fehltritten abgesehen, macht die “Bild”-Redaktion in den ersten Monaten des Jahres 2020 aber gar keinen schlechten Job. Viele Artikel sind stark boulevardesk und emotional aufgeladen; die Berichterstattung ist rückblickend im Umfang und in ihrer Dringlichkeit der Bedrohung und der potenziellen Entwicklung allerdings durchaus angemessen. Selbst “Bild”-Chef Julian Reichelt klingt ungewohnt versöhnlich. Am 9. März kommentiert er:

Die letzten Wochen haben gezeigt, dass es nicht auf jede Frage eine gute Antwort, nicht für jede Sorge sofortige Beruhigung gibt.

Aber eben auch, dass wir als Land in dieser Situation in bestmöglichen Händen sind: Unsere medizinische Versorgung ist überragend, unsere Ärzte sind pflichtbewusst und engagiert, deutsche Experten und Virologen genießen weltweit einen exzellenten Ruf und die Politik mit Gesundheitsminister Jens Spahn reagiert konsequent, aber besonnen.34

Bei einer Person scheinen sich Reichelt und “Bild” hingegen nicht “in bestmöglichen Händen” zu fühlen: bei Bundeskanzlerin Angela Merkel.

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Die Anti-Merkel-Phase (ab Ende Februar 2020, seitdem andauernd)

Am 28. Februar schreibt Bild.de: “Nur Merkel kneift in Sachen Corona-Krise”. Während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, Italiens Premier Guiseppe Conte und US-Präsident Donald Trump mit Reden ihre Bürger beruhigen würden, sei von Angela Merkel nichts zu hören oder zu sehen: “Deutschland in der Corona-Krise. Und wo steckt die Kanzlerin?”35 Am 11. März, also zwei Tage nach Julian Reichelts Lobeshymne auf die “bestmöglichen Hände”, in denen sich Deutschland befinde, titelt “Bild” groß: “Kein Auftritt, keine Rede, keine Führung in der Krise – Die Kanzlerin und das CORONA-CHAOS”. Merkel sei kaum zu sehen und äußere sich zu Corona nur wenig, kommentiert der stellvertretende “Bild”-Chefredakteur Paul Ronzheimer: “Sie lässt die Bevölkerung allein. Dabei müsste sie jetzt Führung zeigen!”36

Wie wichtig eine Stellungnahme der Kanzlerin in den entscheidenden Fragen für “Bild” ist, zeigt sich einen Tag später. Merkel sitzt mit Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher in einer Pressekonferenz, die anwesenden Journalisten können Fragen stellen. Als erster ist der Leiter des “Bild”-Parlamentsbüros dran. Er fragt, welche Auswirkungen das alles jetzt “auf die Wiesn in Bayern” habe.37

Die TV-Ansprache, die Angela Merkel am 18. März hält38 und die viele Menschen bewegt39, reicht “Bild”-Chef Julian Reichelt nicht. In einem langen Kommentar schreibt zwar auch er, dass Merkel “den richtigen Ton getroffen” habe, “doch inmitten emotionaler Appelle zum Ernst der Lage blieb sie der Bevölkerung das Wichtigste schuldig: eine Erklärung, was SIE persönlich in ihrem Amt für die Menschen tun wird.” Reichelt feuert daraufhin eine lange Reihe von Vorwürfen ab, die als Fragen formuliert sind, in denen er die Kanzlerin attackiert und sich als Kämpfer für all jene inszeniert, “die seit Jahren die Steuerkassen füllen”. Auf dem Spiel stehe “alles, was wir uns seither aufgebaut und erarbeitet haben”. Merkel solle endlich sagen, wie sie den Menschen helfen wolle, “mit dem Geld, das wir alle erarbeitet haben”. Er schreibt Sachen wie:

Wo bleibt das Versprechen der Kanzlerin, dass deutsche Kernindustrien wie der Autobau und die Luftfahrt auch nach der Corona-Krise international wettbewerbsfähig bleiben werden? Wenn am Ende dieser Gesundheitskrise Massenarbeitslosigkeit steht, überlassen wir das Land mit Ansage den Extremisten.

Oder er fragt, wo das Versprechen der Kanzlerin bleibe, “dass China, das aus der selbst verschuldeten Epidemie nun Profit schlagen will, keine deutschen Unternehmen erwerben und keinen Zugang zu deutscher Infrastruktur bekommen wird”.40 Solche Dinge will er wissen, zu einem Zeitpunkt, an dem man noch nicht mal sicher sagen kann, ob die Wiesn nun stattfinden können oder nicht.

Einer macht es aus “Bild”-Sicht deutlich besser als Angela Merkel. Nachdem Österreichs Kanzler Sebastian Kurz laut “Bild” “CORONA-KLARTEXT” gesprochen hat, schreibt die Redaktion sehnsüchtig: “So einen brauchen wir auch!” Es seien “nur 520 Kilometer zwischen Berlin und Wien. Aber in der Corona-Krise fühlt sich Österreich an wie eine andere Welt”:

Während Kanzlerin Angela Merkel (65, CDU) angeschlagen wirkt, sich mit den Ministerpräsidenten auf keine gemeinsame Linie einigen kann, zeigt Österreichs Kanzler Sebastian Kurz (33) Führungsstärke.

Fast täglich steht er kerzengerade vor den TV-Kameras, präsentiert eine Knallhart-Maßnahme nach der anderen: Kaffeehäuser nur noch bis 15 Uhr geöffnet. Alle nicht dringend benötigten Läden sind geschlossen. Die Ski-Orte St. Anton und Ischgl abgeriegelt. Schulen sind längst dicht.

Kurz zeige: “SO geht der Shutdown eines ganzen Landes!”41

Die Idee, Deutschland herunterzufahren, findet bei “Bild” Unterstützung. In einem “DAS-MEINT-BILD”-Kommentar schreibt die Redaktion, dass “wir beweisen” müssten, “dass wir nicht nur 82 Millionen Einzelpersonen sind, sondern eine Gemeinschaft”:

Jetzt muss jeder von uns ein Vorbild sein!

Die Politik darf bei harten Maßnahmen gegen das Virus nicht zögern. Wenn Gesundheitsminister Jens Spahn und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder vorübergehend Schulen schließen wollen, dann verdient das die Unterstützung der Bevölkerung. Dies dient unserem Schutz.42

Bei “Bild-TV” warnt ein Arzt: “Deutschland braucht den kompletten Shutdown!”43 Am 22. März beschließen die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten tatsächlich umfangreiche Kontaktbeschränkungen.44 Und die “Bild”-Berichterstattung legt eine bemerkenswerte Kehrtwende hin.

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Die Wieder-öffnen-Phase (März bis Mai 2020)

Bis hierhin hat “Bild” wiederholt und eindringlich klargemacht, welche “Angst” man vor dem Coronavirus haben müsse, wie schrecklich untätig Angela Merkel sei, wie sehr es “unserem Schutz” diene, wenn beispielsweise die Schulen geschlossen werden, und wie führungsstark Sebastian Kurz “eine Knallhart-Maßnahme nach der anderen” präsentiere. Nun machen Merkel und ihre Regierung ziemlich genau das, was “Bild” fordert – und das ist nun auch wieder falsch.

Gerade mal vier Tage nach dem Beschluss zu den Kontaktbeschränkungen, am 26. März, lässt “Bild” “CORONA-SKEPTIKER FRAGEN: ,Sind Löscharbeiten verheerender als der Brand?‘”45 Am 28. März titelt “Bild” groß: “Riesen-Wirrwarr um Kampf gegen Corona – Maßnahmen lockern oder nicht?”. Im Blatt fragt die Redaktion ungeduldig: “Wann sollen die Corona-Regeln denn nun gelockert werden?”46 Wieder zwei Tage später fragt ein “Bild”-Kolumnist: “WIE LANGE HALTEN WIR DAS DURCH?” Einen Tag später schreibt er: “Wir hören zu viel auf Virologen!” Auf der Titelseite derselben Ausgabe ruft die Redaktion einen “nationalen Kraftakt gegen Corona” aus (als würden Politiker und viele andere Menschen nicht schon seit Wochen kraftakten): “BILD sagt, was SOFORT passieren muss”. Neben der Forderung, dass Kanzlerin Merkel “jeden Tag zum Volk sprechen” müsse, und dem genialen Einfall, dass ein “neues Wirtschafts-Wunder” doch ganz praktisch wäre, ist für “Bild” von besonderer Bedeutung, dass die Fußball-Bundesliga endlich wieder ihren Betrieb aufnehmen dürfen soll.47 Dieser Wunsch könnte nicht ganz uneigennützig sein: Die Sport-Berichterstattung, und dort speziell die Fußball-Bundesliga, ist für die “Bild”-Medien immens wichtig.

In Österreich rückt Kanzler Kurz von seinen “Knallhart-Maßnahmen” ab und beschließt, dass ab Mitte April einzelne Läden wieder aufmachen dürfen. Die “Bild”-Redaktion ist erneut hin und weg: “DER KURZ-PLAN – So was wollen wir auch!” Auf Seite 1 schreibt sie: “NEUSTART NACH CORONA – Ösis machen‘s uns vor – Erste Geschäft in Österreich ab 14. April wieder geöffnet – aber Merkel bleibt hart”.48

Spätestens ab diesem Zeitpunkt wird deutlich, dass die “Bild”-Berichterstattung vor allem einem Grundsatz folgt: Hauptsache dagegen. Bis zu den Lockerungen der Kontaktbeschränkungen am 6. Mai49 schreiben die “Bild”-Medien konsequent gegen die Einschränkungen an: “Kanzlerin, machen Sie unser Land wieder auf!”, fordert “Bild” am 15. April auf der Titelseite.50 Es geht um “Chaos um Corona-Regeln”51, die Redaktion lässt einen Chefarzt im Blatt fordern: “MACHT DIE KLINIKEN WIEDER AUF … und zwar FÜR ALLE!”52 Bild.de berichtet über “DIE WUT DER WIRTE”53 und schreibt zu möglichen “CORONA-LOCKERUNGEN”: “Merkel will nicht, aber muss!”54 Die “Bild am Sonntag” titelt am 12. April: “WIR WOLLEN ZU HAUSE BLEIBEN!” Was erstmal wie eine Forderung nach einer Lockdown-Verlängerung klingt, ist das Gegenteil: “Ein Aufruf von 28 Prominenten über 70”, die anbieten, zu Hause zu bleiben, “damit die Jungen eine Zukunft haben und die Wirtschaft nicht kollabiert”. Oder anders gesagt: Die Alten bleiben drin, damit alle anderen wieder raus und loslegen können. Keine dieser 28 Personen dürfte übrigens bei einer Umsetzung des Plans in einer winzigen Wohnung ohne Balkon festsitzen. Die Wir-wollen-zu-Hause-bleiben-Promis auf der “BamS”-Titelseite sind größtenteils Millionäre und Milliardäre wie Dietmar Hopp, Friede Springer und Hubert Burda.55

Personen, die sich nicht auf “Bild”-Linie befinden und sich nicht für Lockerungen, sondern eher für strengere Maßnahmen aussprechen, bekommen von der Redaktion Gegenwind. Auch und gerade Wissenschaftler.

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Die Anti-Drosten-Phase (April bis Mai 2020)

“Schulen und Kitas wegen falscher Corona-Studie dicht”, schreibt “Bild” am 26. Mai groß auf Seite 1. Im Blatt lautet die Überschrift: “Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch”. Es seien “FRAGWÜRDIGE METHODEN” zum Einsatz gekommen.56 Im Artikel liefert der Autor allerdings keinen einzigen Beleg für die auf der Titelseite hergestellte Kausalität zwischen Studie und geschlossenen Schulen und Kitas. Stattdessen versucht er, die bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen vorgesehenen kritischen Überprüfungen durch andere Wissenschaftler als eine Art Zoff zwischen Forschern darzustellen.

Die “Bild”-Geschichte wird stark kritisiert. Sogar von den Wissenschaftlern, die “Bild” im Beitrag als Kronzeugen gegen den Virologen Christian Drosten anführt. Sie alle distanzieren sich umgehend von dem Bericht. Einer schreibt bei Twitter, dass er “nicht Teil einer Anti-Drosten-Kampagne sein” wolle.57 Ein anderer stellt klar: “Ich wusste nichts von der Anfrage der BILD und distanziere mich von dieser Art Menschen unter Druck zu setzen auf das schärfste.”58

Bereits einen Tag zuvor veröffentlicht Christian Drosten bei Twitter einen Screenshot einer E-Mail des “Bild”-Autors. Dieser wollte, dass der Wissenschaftler Fragen zu seiner Studie beantwortet, und räumte dafür lediglich eine Stunde ein. Drosten schreibt bei Twitter, er habe “Besseres zu tun”. Anfangs ist in dem Screenshot auch die Handynummer des “Bild”-Mitarbeiters zu sehen. Nach Kritik löscht Drosten diesen Tweet wieder und postet die “Bild”-Anfrage noch einmal, diesmal ohne Handynummer.59

Das Verhalten von “Bild” sorgt für größeres Entsetzen – über die Schärfe des Angriffs, den aufgebauten Druck in der Anfrage, das Hochjazzen einer eigentlich vorsichtigen Formulierung des Virologen, das Unverständnis der Redaktion für wissenschaftliche Abläufe und Diskussionen, die falsche Verknüpfung zwischen Drostens Studie und Schulschließungen.60 Die Medienforscherin Johanna Haberer sagt zur Anti-Drosten-Kampagne von “Bild”: “Der Boulevard lebt von Angst und Unsicherheit. Und natürlich kann man einen Wissenschaftlerkonflikt zu einem persönlichen Kleinkrieg hochkochen. Beim Thema Gesundheit ist das allerdings fahrlässig.”61

Die “Bild”-Kampagne gegen Christian Drosten läuft zu diesem Zeitpunkt schon einige Wochen. In einer Reihe von Beiträgen wird Drostens Autorität als Wissenschaftler untergraben 62, die Redaktion arbeitet genüsslich frühere Fehleinschätzungen heraus63, stellt ihn als Einflüsterer dar, macht ihn zum Kollegenschwein64. Sie reißt Aussagen aus dem Zusammenhang, verfälscht zeitliche Abläufe und erfindet Behauptungen.65 Dazu inszeniert sie eine Art Seifenoper: Es gebe einen “Virologen-Clinch um CORONA-STUDIE”66 zwischen Hendrik Streeck und Christian Drosten, inklusive “zweiter Runde”67. Es ist eine Trivialisierung und Boulevardisierung von Wissenschaft. Die Bild.de-Leser können zum Beispiel abstimmen: “Welchem Virologen vertrauen Sie am meisten?”68 Das Ergebnis ist eine Mischung aus Ranking und Quartettspiel mit Angaben zum “Spezialgebiet”, dem Privatleben und dem jeweils “größten Irrtum”.69

Im Artikel “DREI EXPERTEN, DREI MEINUNGEN – Wie sehr kann man sich auf unsere Virologen verlassen?” erklärt “Bild” Drosten Ende April zum “Corona-Flüsterer der Kanzlerin” und gibt ihm damit etwas Rasputinhaftes.70 Im großen Vertrauen, das Angela Merkel dem Virologen entgegenbringt, und im daraus resultierenden Einfluss Drostens könnte sich der eigentliche Kern der massiven Kritik der “Bild”-Redaktion verstecken: Ihre Anti-Drosten-Kampagne ist im Grunde eine Verlängerung ihrer Anti-Merkel-Kampagne.71

Andere Personen, tatsächliche oder vermeintliche Experten, mit denen “Bild” einer Meinung ist, werden im Vergleich deutlich freundlicher behandelt.

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Die Klügste-Köpfe-Phase (ab Mai 2020, seitdem andauernd)

Am 8. Mai, nur zwei Tage nach der Entscheidung der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten, den Lockdown zu beenden, hat “Bild” im Blatt “Deutschlands klügste Corona-SKEPTIKER” zusammengetrommelt.72 Sie “KRITISIEREN DIE HARTEN MASSNAHMEN”: Der “Lockdown war ein Riesen-Fehler”.73 Einer dieser sechs “honorigen Meister ihres Fachs” ist der Professor Stefan Homburg. Am Tag nach Veröffentlichung des “Bild”-Artikels steht Homburg in Stuttgart auf der Bühne einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen und behauptet, dass die Wissenschaftler, die die Bundesregierung zur Corona-Pandemie zurate zieht, “weitgehend korrumpiert” seien. Außerdem sagt er, dass er inzwischen besser verstehe, was 1933 bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten passiert sei.74 Später verschärft er diese Aussage bei Twitter: “Das hier IST 1933.”75 Schutzmasken hält Homburg für “Sklaven-Masken, mit denen die Bevölkerung psychisch niedergehalten werden soll”.76 Er schürt Ängste vor der Corona-Impfung, indem er twittert: “Selbst wenn nur einer von Tausend an oder mit der Impfung stirbt, macht das bei Durchimpfung der deutschen Bevölkerung rund 80.000 Impftote.”77 Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass “einer von Tausend an oder mit der Impfung stirbt”. In der Phase-III-Studie des Impfstoffs von Pfizer und BioNTech beispielsweise gab es unter den rund 43.500 Probanden keinen einzigen Todesfall.78 Homburgs verschiedensten Behauptungen wurde in zahlreichen Faktenchecks widersprochen.79

Ein weiterer “honoriger” Experte ist Klaus-Dieter Zastrow, den die “Bild”-Medien meist als “Hygiene-Papst” präsentieren.80 Zastrow sagt, die Gefahr einer zweiten Infektionswelle sei “ein Hirngespinst”.81 Auf der “Bild”-Titelseite vom 6. Mai ist ein Foto von ihm zu sehen, dazu die Überschrift: “Hygiene-Papst sicher – Es wird KEINE zweite Welle geben”.82 Ein paar Monate später kommt die zweite Welle doch.83 Am 29. September knöpft sich Zastrow Angela Merkel vor. Die Kanzlerin hatte vorgerechnet, dass es in Deutschland bis Weihnachten 2020 bis zu 19.200 Neuinfektionen pro Tag geben könnte.84 Für Zastrow ist das “purer Alarmismus”, das habe “nichts mit der Realität zu tun.”85 Tatsächlich trat das Szenario der Kanzlerin noch viel früher ein als von ihr prognostiziert.86 Kaum ein anderer Experte kommt zu dieser Zeit in der Corona-Berichterstattung der “Bild”-Medien so häufig zu Wort wie Klaus-Dieter Zastrow.

Neben Homburg, Zastrow und drei weiteren Professoren gehört laut “Bild” auch eine “Journalistinnen-Legende” zu den sechs “klügsten Corona-SKEPTIKERN” des Landes: Patricia Riekel, früher Chefredakteurin des Peoplemagazins “Bunte”.87 “Sie wäre lieber dem schwedischen Weg der Mahnungen statt Verbote gefolgt”, schreibt “Bild” über Riekel. Es ist keine große Überraschung, dass die Redaktion sie dafür lobend erwähnt.

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Die Oh-wie-schön-ist-Schweden-Phase (Mai bis Dezember 2020)

Monatelang ist Schweden, wo die Corona-Maßnahmen lange Zeit auf Empfehlungen und Freiwilligkeit basieren88, für die “Bild”-Redaktion das Nonplusultra. “Mehr Schweden wagen!”, fordert ein “Bild”-Kommentator im Juli.89 Der Leiter des Ressorts “Meinung” schreibt im September über “Drei Schweden-Wahrheiten, die niemand hören will”90 und berichtet im Oktober: “Deutschland macht dicht, Schweden auf!”91 Bei “Bild-TV” läuft eine Doku über “SCHWEDENS SONDERWEG DURCH DIE CORONA-KRISE”: “,Wir leben hier unser normales Leben weiter‘”.92 In der “Bild”-Zeitung gibt es zeitweise sogar eine eigene tägliche Rubrik: “Und wie geht‘s SCHWEDEN?” Am 11. Mai ist dort beispielsweise zu lesen, dass Stars in der Hauptstadt Konzerte gäben, “trotz Corona”:

In Schweden finden wieder vermehrt Kultur-Veranstaltungen mit Publikum statt.

Im Mai werden u.a. Burlesque-Star Dita von Teese und Sänger Randy Newman Auftritte in Stockholm absolvieren.

Ein Künstler jedoch sticht besonders hervor: Black-Sabbath-Gründer Tony Iommi will trotz schwerer Krebserkankung am 15. Mai im “Lilla Cirkus” in Stockholm spielen.

Vor lauter Begeisterung für die kulturellen Angebote in Schweden scheint die Redaktion die Recherche93 vergessen zu haben. Dita von Teese gab bereits sechs Wochen zuvor bekannt, dass ihr Auftritt nicht stattfinden kann.94 Dass das Konzert von Randy Newman wegen der Beschlüsse der schwedischen Regierung abgesagt werden muss, teilte der Veranstalter am 27. April mit.95 Und dass Tony Iommi aus demselben Grund nicht auftreten kann, wird an dem Tag bekannt, an dem der “Bild”-Artikel erscheint.96

Zwischendurch werden bei Bild.de zwar auch die vielen Todesfälle in Schweden erwähnt97, in der “Bild”-Zeitung berichtet eine Reporterin, dass Schweden entspannt bleibe, “aber nicht verschont”98. Der Grundtenor aber ist: Die Schweden machen es besser.

Damit ist spätestens am 17. Dezember Schluss. Die “Bild”-Redaktion zitiert in einem Artikel Schwedens König Carl Gustav:

“Wir haben versagt. Eine große Anzahl von Mitmenschen ist gestorben und das ist fürchterlich. Wir leiden alle darunter. Ich finde es schrecklich angesichts all der verstorbenen Menschen. Und die Traurigkeit und die Frustration, die viele Menschen und Unternehmer plagen, die in den Knien liegen und sogar ihr Geschäft verloren haben. Es war ein schreckliches Jahr.”

Der schwedische Ministerpräsident Stefan Löfven sehe die Schuld “bei den führenden Gesundheitsexperten des Landes”. Eine extra eingesetzte Corona-Kommission erklärt, dass man es nicht geschafft habe, ältere Menschen vor dem Virus zu schützen. Die “Bild”-Redaktion schreibt: “Auf die Bevölkerung heruntergerechnet hat das Land mit rund zehn Millionen Einwohnern damit deutlich mehr Infektionen und Todesfälle gehabt als Deutschland oder der Rest Skandinaviens.”99 Der Sehnsuchtsort Schweden verschwindet aus der Berichterstattung.

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Die China-soll-zahlen-Phase (ab April 2020, seitdem andauernd)

Ein anderes Land steht von Beginn an am entgegengesetzten Ende der “Bild”-Beliebtheitsskala: China. Schon früh schreiben die “Bild”-Medien vom “China-Virus”.100 Mitte April veröffentlicht “Bild” eine große Rechnung: “WAS CHINA UNS JETZT SCHON SCHULDET”. Allein für die deutsche Tourismusbranche veranschlagt die Redaktion “24 Mrd. Euro Umsatz-Minus” in zwei Monaten. Für den Einzelhandel schlägt sie “1,15 Mrd. Euro entgangene Umsätze pro Tag” obendrauf. Außerdem noch “55 Mrd. Euro für Pandemiebekämpfung”, “10 Mrd. Euro mindestens für Kurzarbeit” und so weiter. In der “Amazon”-Doku über “Bild” ist die Redaktionskonferenz zu sehen, in der diese Rechnung geplant wird. Einigen Mitarbeitern scheint die Aktion unangenehm zu sein.101

Noch am Tag der Veröffentlichung schreibt eine Sprecherin der chinesischen Botschaft in Berlin einen offenen Brief an Julian Reichelt: “Mit einigem Befremden habe ich heute Ihre Berichterstattung zur Corona-Pandemie im Allgemeinen und zu der vermeintlichen Schuld Chinas daran im Besonderen verfolgt.” Sie betrachte es als “ziemlich schlechten Stil”, ein Land für eine Pandemie verantwortlich zu machen, “unter der die ganze Welt zu leiden hat und dann auch noch eine explizite Rechnung angeblicher chinesischer Schulden an Deutschland zu präsentieren”.102 Reichelt antwortet prompt – mit einem offenen Brief an Chinas Staatspräsidenten Xi Jinping.103 Er spricht sein Schreiben auch vor laufender “Bild-TV”-Kamera ein. Das Video erscheint mit chinesischen Untertiteln104 und auch auf Englisch.105 Die Resonanz ist riesig. In einer erneuten Redaktionskonferenz zeigt Reichelt per Beamer sichtlich stolz, dass auch Donald Trumps Sohn seinen Videokommentar bei Twitter verbreitet habe, und erzählt dazu sichtlich noch stolzer, dass das wiederum auch der Vater retweetet habe.106

Im September präsentiert Bild.de eine “chinesische Forscherin”, die angeblich das liefert, was es bräuchte, damit China womöglich wirklich zur Rechenschaft gezogen wird:

Ist das Coronavirus von Menschenhand gemacht? Dr. Li-Meng Yan sagt: Ja! “Es kommt aus dem Labor in Wuhan. Die Genomsequenz ist wie ein menschlicher Fingerabdruck.”

In der Überschrift zitiert die Redaktion die Chinesin: “,Das Corona-Virus kommt aus dem Labor‘”. Das habe die chinesische Führung aber erfolgreich vertuscht, sagt die Frau. Und:

In Hongkong habe außerdem jemand ihre Erkenntnisse von ihrem Computer gelöscht, sagte Dr. Li-Meng Yan der “Daily Mail”. Die Beweise bleibt sie bis heute schuldig. Sie wolle diese aber noch vorlegen, so Yan.107

Einen Tag später ist es schon so weit. Bild.de berichtet: “Forscherin zeigt ihr Beweismaterial”. Im Artikel steht:

“Das Virus kommt aus dem Labor.” Eine chinesische Virologin, die lange an der Uni Hongkong arbeitete und das neuartige Coronavirus eigenen Angaben zufolge seit Ende 2019 erforschte, bestätigt mit dieser Aussage, was viele Menschen schon lange glauben.

Jetzt hat Dr. Li-Meng Yan mit drei weiteren Forschern eine wissenschaftliche Arbeit (“Paper”) vorgelegt, die sogar zeigen soll, wie das Virus hergestellt wurde.

Die Redaktion ergänzt noch: “BILD übersetzt prägnante Aussagen ins Deutsche. Es liegt allerdings noch keine Prüfung von Dr. Li-Meng Yans Arbeit durch unabhängige Wissenschaftler vor.”108

Das US-Nachrichtenmagazin “Newsweek” hilft dabei. Es bittet mehrere Wissenschaftler, sich das Paper anzuschauen. Deren Urteil ist verheerend: Li-Meng Yan liefere keine neuen Informationen, sie stelle mehrere unbelegte Behauptungen auf, ihre wissenschaftliche Argumentation sei schwach. Dem Preprint-Bericht könne in dieser Form keinerlei Glaubwürdigkeit verliehen werden, sagt einer der Wissenschaftler.109

Die “Bild”-Redaktion reagiert auf den “Newsweek”-Text und ergänzt in ihrem Artikel: “Mehrere Wissenschaftler widersprechen der Forscherin, kritisieren die Aussagen als Verschwörungstheorien”.110 Der erste Artikel zum Thema (“,Das Corona-Virus kommt aus dem Labor‘”) ist unverändert online.

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Die Nicht-wieder-schließen-Phase (ab Mai 2020, seitdem andauernd)

Mit Blick auf die Situation in Deutschland haben sich die “Bild”-Medien inzwischen offenkundig auf eine Richtung festgelegt: Sie kämpfen gegen die Corona-Maßnahmen. Die Mittel scheinen dabei egal zu sein.

Dem Vorstandsvorsitzenden des Weltärztebundes Frank Ulrich Montgomery legt Bild.de im September ein erfundenes Zitat in den Mund: “Weltärzte-Chef Montgomery bei Anne Will – ,Grundrechtseinschränkung, eine Maske zu tragen!‘” Das hat der frühere Präsident der Bundesärztekammer bei seinem Fernsehauftritt jedoch nie gesagt. Tatsächlich spricht sich Montgomery dort für das Tragen von Masken aus. Er fragt: “Ist es eine Grundrechtseinschränkung, sich eine Maske aufsetzen zu müssen?” Und erklärt dann, dass selbst ein “feuchter Lappen vor dem Gesicht” zumindest “die anderen schützen kann”.111 Den Artikel hat die “Bild”-Redaktion später gelöscht.

Sie ist augenscheinlich bemüht, die Corona-Maßnahmen als willkürlich oder aberwitzig darzustellen. Bei Auftritten des Zaubererduos “Ehrlich Brothers” beispielsweise herrscht laut Bild.de-Schlagzeile der “Corona-Irrsinn”. Hinter der “Bild-plus”-Paywall klingt die Geschichte schon gar nicht mehr so irrsinnig: “In Düsseldorf durften die Brüder vor 2500 Fans auftreten. In Köln hingegen sorgten gestiegene Infektionszahlen einen Tag vor dem Event am Sonntag für die Absage der Stadt.”112 Der zuvor festgelegte Grenzwert bei der Sieben-Tage-Inzidenz wurde in Köln überschritten. In Düsseldorf nicht. In Düsseldorf durften die “Ehrlich Brothers” auftreten. In Köln nicht.

Am 18. September titelt “Bild”: “Härtere Corona-Regeln in der Kirche als im Puff – Singen verboten, aber Sex ist erlaubt!” Die erkennbare Idee hinter dem Artikel: Dinge vergleichen, die möglichst wenig miteinander zu tun haben, deren Kombination aber im Bestfall für Kopfschütteln und Unmut sorgt. Der Autor versucht es so:

Die Gefahr, abends nach dem Schwimmen von nassen Haaren auf dem Fahrrad krank zu werden, dürfte bei knapp 100 Prozent liegen. Die Gefahr, Corona zu bekommen, liegt im niedrigen einstelligen Bereich, aber die Berliner Bäderbetriebe haben die Benutzung der elektrischen Haartrockner unterbunden – die Aerosole.113

Es ist eigentlich allgemein bekannt114, dass niemand allein durch nasse Haare krank wird, erst recht nicht zu “knapp 100 Prozent”. Durch Aerosole kann man hingegen durchaus krank werden. Überschrieben ist der Artikel mit: “Diesen Corona-Irrsinn versteht niemand mehr”.115

Oder man will es nicht verstehen. Nur einen Tag später erscheint bei Bild.de ein Kommentar, der die Corona-Regeln als “absurd” bezeichnet. Es geht um Bilder und Situationen, die die Maßnahmen hervorrufen und “die wir unseren Kindern nicht erklären können.” Zum Beispiel:

Warum müssen Kinder auf dem Schulhof Maske tragen, im Unterricht dann aber im Klassenzimmer nicht mehr?

Kein Kind, das vorher gelernt hat, wie wichtig Vernunft als Grundlage von Entscheidungen ist, kann das verstehen.116

Man könnte den Kindern die Überlegung hinter dieser Regelung erklären. In Schleswig-Holstein etwa ist es das sogenannte Kohortenprinzip:

Das Kohortenprinzip sichert einen regulären Schulbetrieb. Durch die Definition von Gruppen in fester Zusammensetzung (Kohorten) lassen sich im Infektionsfall die Kontakte und Infektionswege wirksam nachverfolgen. Damit wird angestrebt, dass sich Quarantänebestimmungen im Infektionsfall nicht auf die gesamte Schule auswirken, sondern nur auf die Kohorten, innerhalb derer ein Infektionsrisiko bestanden haben könnte.

Innerhalb der Kohorte verzichte man “auf Abstandsregeln und das Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen”.117 Daher keine Masken im Klassenzimmer. Auf dem Schulhof hingegen schon, damit sich die verschiedenen Kohorten nicht gegenseitig infizieren.

So geht es – nahtlos an die Kritik von “Deutschlands klügsten Corona-SKEPTIKERN” anknüpfend – monatelang gegen mögliche Einschränkungen und Schließungen: “Top-Virologe Streeck kritisiert Corona-Maßnahmen – Deutschland ist zu schnell in den Lockdown gegangen!”118 “Top-Lungenarzt fordert – Deutschland kann mehr Infektionen zulassen”.119 “WIE TÖDLICH IST DAS VIRUS WIRKLICH? Amtsarzt vergleicht Corona mit Grippe und Hitzewelle”.120 “STERBEN mehr Menschen am Lockdown als an Corona?”121 “EXPERTE WARNT – Mehr Tote durch Lockdown als durch Corona”.122 “So tödlich ist der Lockdown”.123 Im Dezember berichtet Bild.de auf der Startseite von “30 000 Neuinfektionen in Deutschland”. Das seien “NEUE HÖCHSTWERTE”.124 Direkt daneben ärgert sich die Redaktion über den “PSYCHO-KRIEG gegen Weihnachtseinkäufe”, weil Politiker “immer dramatischer” vor dem dicht gedrängten Geschenkeshopping warnen.125

Trotz aller Bemühungen der “Bild”-Redaktion beschließen Kanzlerin und Ministerpräsidenten im Oktober erst einen sogenannten Lockdown light126 und im Dezember einen harten Lockdown127. Am Ende des Jahres, am 31. Dezember, lautet die große Schlagzeile auf der “Bild”-Titelseite “Kanzlerin, so darf es 2021 NICHT weitergehen!”128 In der Berichterstattung der “Bild”-Medien geht es genau so weiter.

#allesdichtmachen-Abgründe, Simulation, Insta-Getrickse

1. Das Netzwerk hinter #allesdichtmachen
(tagesspiegel.de, Hannes Soltau & Recherchenetzwerk Antischwurbler)
In Zusammenhang mit der Video-Aktion #allesdichtmachen ergeben sich immer mehr Spuren und Verbindungen zum “Querdenker”-Milieu. Hannes Soltau konstatiert: “Die Schäden, die die Kampagne in der Filmbranche angerichtet hat, lassen sich im Moment kaum abschätzen. Unter Filmschaffenden hat #allesdichtmachen Zwietracht gesät, was sich laut Schilderungen von Beteiligten sogar auf Dreharbeiten auswirkt.” Nach seiner Recherche werde ihm “immer klarer, dass #allesdichtmachen nicht bloß die spontane Äußerung einer Gruppe von ernstlich besorgten Filmschaffenden ist, als die sie Dietrich Brüggemann in den Medien darstellt. Sondern Teil einer größeren Kampagne, die eine antidemokratische Agenda verfolgt.”
Nachtrag: Der “Tagesspiegel” hat dem Beitrag mittlerweile folgenden Korrekturhinweis vorangestellt: “Der Tagesspiegel hat sich entschieden, das Netzwerk anders als in der ursprünglichen Überschrift zu diesem Zeitpunkt nicht als ‘antidemokratisch’ zu bezeichnen. Wir werden zu den Hintergründen der Aktion #allesdichtmachen weiter recherchieren.”

2. Lesbos: Die Simulation von Pressefreiheit
(verdi.de, Susanne Stracke-Neumann)
Franziska Grillmeier lebt und arbeitet auf der griechischen Mittelmeerinsel Lesbos und berichtet auch zu den Themen Migration und Flucht. Das funktioniere immer schlechter. Es werde immer schwieriger, mit geflüchteten Familien ins Gespräch zu kommen oder von den Behörden Antworten auf Presseanfragen zu erhalten. Die Ausnahme: Wenn hoher Besuch auf die griechischen Inseln zu den Camps voller Geflüchteter komme, dann werde “eine Simulation von Pressefreiheit aufgebaut”.

3. Neue ARD-Programmdirektorin: Hier ist Ihr Spickzettel, Frau Strobl!
(dwdl.de, Peer Schader)
Die bisherige Geschäftsführerin der ARD-Produktionstochter Degeto, Christine Strobl, wird neue ARD-Programmdirektorin. Peer Schader gibt Strobl in seiner Kolumne gleich eine ganze Liste von Aufgaben mit: “Ich übertreibe vermutlich nicht, wenn ich prognostiziere: Wir erwarten Unmögliches von Ihnen, enttäuschen Sie uns bitte nicht.”
Weiterer Lesehinweis: Bei der “taz” kommentiert René Martens: “Christine Strobl muss in ihrer neuen Funktion dazu beitragen, dass die ARD die richtige Balance findet. Man braucht erstens exklusive Angebote für die Mediathek, zweitens Inhalte, die mit Blick auf die Media­theken­nutzung produziert werden, aber auch linear funktionieren müssen – und drittens natürlich klassisch lineares Fernsehen, das nach alter Väter Sitte in der Mediathek zweitverwertet wird.”

Bildblog unterstuetzen

4. Jour­na­list darf weiter über Dop­pelpla­giat berichten
(lto.de, Manuel Göken)
Journalisten dürfe nicht schon im Vorfeld verboten werden, über wissenschaftliche Plagiate zu berichten, so der Bundesgerichtshof in einer aktuellen Entscheidung. Die Vorgeschichte: Eine ehemalige Jura-Dozentin wollte der Presse verbieten, über ihre Plagiate bei Promotion und Habilitation zu schreiben, und hatte einen Journalisten verklagt. Dieser zeigte sich nach seinem Sieg in Karlsruhe erleichtert: “Das Ergebnis hilft allen Medien, die regelmäßig über Plagiatsfälle berichten. Denn es ist nun klar, dass man über Plagiatsfälle auch mit Klarnamen der Verantwortlichen berichten darf.”

5. Der gefährliche Versuch, Gewalt gegen Menschen mit Behinderung nachvollziehbar zu machen
(uebermedien.de, Lisa Kräher)
In Potsdam wurden in einem Wohnhaus für Menschen mit Behinderung vier Personen getötet und eine fünfte Person schwer verletzt. In die Berichterstattung über die Gewalttat schlich sich ein merkwürdiger Unterton ein, der von Verständnis für die Tat getragen war. Lisa Krämer kritisiert das fehlende Bewusstsein für das Thema und mahnt eine geeignetere Wortwahl an.

6. Loop Giveaways: Das Riesengeschäft mit echten Followern auf Instagram
(vice.com, Sebastian Meineck)
Der Marktwert von Influencerinnen und Influencern bestimmt sich meist nach der Anzahl ihrer Gefolgschaft: je mehr Menschen ihnen in den Sozialen Medien folgen, desto höher die Werbeerlöse. Einigen von ihnen scheint jedes Mittel Recht zu sein, ihre Reichweite zu vergrößern. Eine Methode: sogenannte Loop Giveaways. Dabei handelt es sich um Gewinnspiele, bei denen zahlreichen Instagram-Profilen gefolgt werden muss. Auch für die Organisatoren eine gewinnbringende Sache, bei der schon mal sechsstellige Summen umgesetzt werden.
Unbedingt sehenswert: Der Youtuber Robin Blase erklärt in einem Video, wie das Ganze funktioniert: Der geheime Handel mit Instagram-Gewinnspielen (17:48 Minuten).
Weiterer Lesehinweis: Im letzten Kreis der Social-Media-Hölle: Das Biz mit Nonsens- und Ekel-Videos auf Facebook (omr.com, Roland Eisenbrand).

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