Der neue Cheftrainer des FC St. Pauli hat der “Mopo” zu seinem Einstand am Mittwoch ein exklusives Interview gegeben:
Doch der Eindruck täuscht. In Wahrheit stammen die Antworten des Trainers aus einer Pressekonferenz, die am gleichen Tag stattfand (hier der Vergleich). Die Fragen kamen auch nicht nur vom “Mopo”-Reporter, sondern von verschiedenen Journalisten. Darum tauchen in anderenMedien auch genau die gleichen Meggle-Zitate auf.
Kurzum: Das Interview hat es so nie gegeben. Die Sportredaktion der “Mopo” führt ihre Leser — so wie “Bild” neulich — schlichtweg in die Irre.
2. “Angebliche Gerichtsaffäre wird zur Petitesse” (mainpost.de, Manfred Schweidler)
Ein Blick zurück auf die Auswirkungen des Berichts “Verdacht auf Parteilichkeit und Vetternwirtschaft bei Bußgeldvergabe” des ARD-Politmagazins “Report Mainz”: “Eine Reihe von Opfern blieb zurück – und nicht zuletzt ein Stück journalistischer Glaubwürdigkeit. Nur wenige Schlagzeilen-Formulierer kamen später zu der Einsicht: Der Richter hatte vielleicht ein wenig unbekümmert Bußgelder vergeben, was zu einem falschen Eindruck führen konnte. Aber von Mauschelei konnte nie die Rede sein.”
3. “BILD Plus und das Geschaeft mit ‘exklusiven Fotos’ eines Fakes des iPhone 6” (mobilegeeks.de, Sascha Pallenberg)
Fotos hinter der “Bild-Plus”-Paywall, die angeblich ein Apple iPhone 6 zeigen: “Es handelt sich bei all diesen vermeintlichen Fotos des echten iPhone 6 um immer wieder die gleichen Modelle eines Fakes auf Android Basis, den man bereits seit Wochen auf Aliexpress.com bestellen kann.”
4. “Bomben auf Gaza: Ohne deutsche Medien – Jung & Naiv in Israel: Folge 192” (youtube.com, Video, 40:17 Minuten)
Im Interview mit Tilo Jung fragt sich der freie Journalist Martin Lejeune, der die Bombardierungen des Gazastreifens durch die israelische Armee bei einer Familie dort erlebt hatte, warum öffentlich-rechtliche Medien in Deutschland kaum mit ihm zusammenarbeiten wollen. Zur Sprache kommt auch die Frage nach seiner Unabhängigkeit.
1. “Statistik: Wo verkauft sich Bild am besten – wo am schlechtesten?” (meedia.de, Jens Schröder)
Am besten verkauft sich “Bild” nach einer “Meedia”-Auswertung in den Städten Halle, Frankfurt und Neumünster sowie in den Landkreisen Stormarn, Leipzig und Pinneberg. Am schlechtesten in den Städten Berlin, Bonn und Köln sowie in den Landkreisen Märkisch-Oderland, Tübingen und Oberhavel.
2. “‘Dieses Recht ist völlig verrückt'” (nzz.ch, Stefan Betschon)
Bezüglich des durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) geschaffenen Rechts auf Vergessenwerden hat Google bisher “mehr als 91 000 Anträge auf die Entfernung von insgesamt 328 000 Verweisen auf Web-Seiten (URL) erhalten. Am meisten Anträge kamen aus Frankreich (17,500 Anträge mit 58,000 URL), Deutschland (16,500, 57,000 URLs) und Grossbritannien (12,000, 44,000). Mit Bezug auf die URL wurden mehr als die Hälfte (53 Prozent) der Löschanträge ausgeführt, die entsprechenden Suchanfragen führen nun bei Google ins Leere.” Siehe dazu auch “Wikipedia link to be hidden in Google under ‘right to be forgotten’ law” (theguardian.com, Juliette Garside, englisch).
4. “Spy Agency Stole Scoop From Media Outlet And Handed It To The AP” (huffingtonpost.com, Ryan Grim, englisch)
Die Exklusivität der Story “Barack Obama’s Secret Terrorist-Tracking System, by the Numbers” (firstlook.org/theintercept) wird von der US-Regierung hintertrieben. “The government’s decision to spoil a story on the topic of national security is especially unusual, given that it has a significant interest in earning the trust of national security reporters so that it can make its case that certain information should remain private.”
5. “Dürfen wir vorstellen: der Journalist, der Kriegsverbrecher vernichtet” (vice.com, Max Metzger, englisch)
Max Metzger spricht mit Investigativjournalist Allan Nairn: “Oftmals besteht die Ironie darin, dass die Leute, die Nairn anprangert, ihn nicht töten oder foltern können, denn er ist US-Staatsbürger—das würde die amerikanische Förderung und Unterstützung gefährden.”
6. “‘Eine Leiche ist ausreichend'” (sz-magazin.sueddeutsche.de, Susanne Schneider und Alexandros Stefanidis)
Ein Interview mit fünf “Tatort”-Kommissaren. Klaus J. Behrendt: “Wenn wir die Polizeiarbeit eins zu eins abbilden müssten, würden wir von den 90 Filmminuten etwa 70 oder 80 im Büro verbringen, in den Computer glotzen oder Akten lesen.”
Bis vergangenen Sonntag war nicht klar, wie es mit der Sat.1-Serie “Der letzte Bulle” weitergehen würde. Doch dann verkündete die “Bild am Sonntag” exklusiv:
Dort heißt es:
“Das war es jetzt für mich”, bestätigte Henning Baum (…) gegenüber BILD am SONNTAG. “Ich wollte eigentlich schon mit der vierten Staffel aufhören.”
Die Nachricht vom Serien-Aus verbreitetesichschnell — doch kurz darauf meldete sich der “letzte Bulle” persönlich zu Wort:
Sein Management bekräftigt auf Anfrage: Das Zitat in der “BamS” sei frei erfunden. Henning Baum habe dem Blatt zwar ein Interview gegeben, doch dieses Statement sei definitiv nicht dabei gewesen.
Auch Sat.1 teilte uns mit:
Wir sind nach wie vor in Gesprächen mit Henning Baum. Wenn es eine Stoff-Idee gibt, die uns und Henning gleichermaßen gefällt, dann kann es durchaus noch mal weitergehen.
Und schwupps:
Jetzt macht der „Mick Brisgau“-Darsteller auf seiner Facebook-Seite den Fans der Serie wieder Hoffnung!
„Es gibt aktuell keine konkreten Pläne zum ,Bullen‘ oder andren Projekten“, ließ der dort am Sonntagabend verlauten.
Zum Auftakt der 2. Bundesliga ist am Freitag in “Bild Hamburg” ein großes “Start-Interview” mit dem Trainer von St. Pauli erschienen:
Interessanterweise decken sich die Antworten aber ziemlich genau mit dem, was Vrabec schon am Tag zuvor auf einer Pressekonferenz gesagt hatte (Vergleich).
Hat der Trainer also alles zweimal erzählt? Einmal für alle und dann noch einmal, ganz persönlich nur für “Bild”?
Nein. Der Pressesprecher des Vereins erklärte uns auf Anfrage, dass “Bild” kein Extra-Interview bekommen habe. “Bild”-Reporter Thomas Dierenga tut einfach nur so, als hätte er alleine mit dem Trainer gesprochen. Auch die Fragen der anderen Journalisten gibt er als die seinen aus. So ist “Bild” vor einigen Jahren auch schon mal an ein “Exklusiv”-“Interview” mit Ronaldo gekommen.
Im “Interview” mit Vrabec findet sich nur eine Aussage, die nicht in der PK vorgekommen ist. Laut Pressesprecher Christoph Pieper stand der Trainer nach der Konferenz noch kurz mit einigen Journalisten zusammen, vielleicht sei die Aussage dort gefallen. Möglicherweise habe der Reporter sie auch in einem anderen Interview oder während des Trainigslagers aufgeschnappt. Klar ist jedenfalls: Das Interview, das “Bild” vorgibt geführt zu haben, gab es nicht.
So etwas komme durchaus vor, sagt Pieper, aber das sei kein “Bild”-spezifisches Phänomen. Auch andere Medien würden Pressekonferenzen als eigene Interviews verkaufen, übrigens nicht nur im Sportbereich. Für ihn sei aber der Inhalt entscheidender, nicht die Form der Präsentation. Weil das vermeintliche Interview “inhaltlich so weit okay” gewesen sei, sei die Sache auch “kein extremer Aufreger” für ihn. Zumindest in seiner Funktion als Pressesprecher. Er persönlich sehe diese Praxis aber schon problematisch, weil “dem Leser dort eine Form von Exklusivität vorgegaukelt wird, die es so nie gegeben hat.”
Bild.de löschte den Artikel also wieder und veröffentlichte stattdessen den hier:
Großkreutz-Berater Konstantin Liolios stellt klar: „Kevin ist am Dienstag von der Feier auf der Berliner Fan-Meile direkt nach Dortmund gereist.“
Die Falschinformation wurde aber nicht (nur) von Bild.de in die Welt gesetzt, sondern zuvor schon vom Online-Auftritt der “Gala”. Autor Philipp Jessen erwähnte sie gestern am Rande und widmete ihr heute dann einen ganzen Artikel:
Der Text steht immer noch online. Einen Hinweis auf die Dementis sucht man vergeblich.
1. “Bilderklau digital” (davidblum.ch)
David Blum dokumentiert mehrere Beispiele von Bilderklau und gibt Tipps, wie man damit umgeht.
2. “Der Paparazzo mit der Vogelperspektive” (nzz.ch, Ronny Nicolussi)
Pilot Niklaus Wächter fotografiert die Villen von Prominenten aus der Luft: “Wie er sagt, geht es ihm nicht darum, in die Schlafzimmer von Prominenten zu blicken, sondern lediglich die Häuser von Personen des öffentlichen Interesses zu zeigen.”
3. “Haucap über Monopole: Facebook ist gefährlicher als Google” (netzpiloten.de, Katharina Brunner)
Justus Haucap glaubt, dass das Kartellamt die Beschwerde der VG Media betreffend Google abweisen wird: “Es ist für mich nicht vorstellbar, dass Google verpflichtet werden kann, Links und Snippets zu zeigen und dafür dann bezahlen muss – selbst wenn Google die Links und Snippets nicht gegen Bezahlung will.”
4. “‘Arbeite doch mehr, dann verdienst du auch mehr Geld'” (impressum.ch, PDF-Datei)
Eine freie Journalistin aus der Schweiz liefert einen Erfahrungsbericht aus ihrem Alltag: “Mein monatliches Einkommen schwankte in den letzten 12 Monaten zwischen 250 und 11‘250 Franken Brutto. Im Jahr 2013 bekam ich 45 Honorarabrechnungen von neun Printmedien und vier weiteren Stellen, für die ich gearbeitet habe. Und: Ja, wenn ich angefragt werde, nehme ich zwischendurch auch Kommunikations-Aufträge an.” Siehe dazu auch “Arbeitsbedingungen bedrohen die Branche!” (impressum.ch, Medienmitteilung).
5. “Markus Wiegand: Medien-Elite ist ein Club von Weicheiern” (newsroom.de, Markus Wiegand)
Markus Wiegand erzählt von den Herausforderungen bei der Autorisierung eines Interviews mit Wolfram Weimer: “Viele Führungskräfte im Journalismus und andere Spitzenkönner der Branche gehen davon aus, dass allein ihre exklusive Gesprächsbereitschaft sie schon vor kritischen Fragen schützt. Sie denken, ein Interview mit ihnen sei eine Koproduktion von zwei Kollegen. (…) Die Elite der Branche lebt in einer Blase, in der man sich gegenseitig nicht weh tut, sondern auf die Schultern klopft. Das mit dem Journalismus, das sollen bitte die anderen aushalten, aber nicht man selbst.”
George Clooney sagt, er sei es gewohnt, dass die britische Zeitung “Daily Mail” Geschichten über ihn erfindet und Lügen über ihn verbreitet. Aber diese eine wollte er nicht hinnehmen, ohne laut zu widersprechen. Die “Daily Mail” hatte geschrieben, dass die Mutter seiner Verlobten Amal Alamuddin aus religiösen Gründen gegen ihre Heirat sei. Sie habe das schon “halb Beirut” erzählt. Weil es keine Drusen-Hochzeit sei, riskiere Amal, dass sie aus der Gemeinschaft ausgestoßen werde, so die “Daily Mail” — mehrere Bräute seien aus ähnlichen Gründen schon umgebracht worden.
Nichts davon sei wahr, sagt George Clooney. Amals Mutter sei keine Druse, ewig nicht in Beirut gewesen, nicht gegen die Hochzeit. Vor allem aber sei es verantwortungslos und gefährlich, in dieser Weise religiöse Differenzen auszubeuten, wo nicht einmal welche bestehen.
Die Meldung, dass Clooney sich so über die “Daily Mail” beschwert, die ihre Geschichte inzwischen zurückgenommen hat, stand in vielen deutschen Medien. Was aber auch in vielen deutschen Medien stand und teilweise noch steht: Die Lügengeschichte der “Daily Mail”.
Der Kölner “Express” brachte sie am vergangenen Mittwoch:
Die “Bunte” verbreitete sie online (inzwischen gelöscht), mit einer Fragezeichen in der Überschrift, aber ohne ernste Zweifel am Inhalt der von der “Daily Mail” abgeschriebenen Geschichte:
So verriet ein Nahestehender der Familie der Familie Alamuddin dem britischen Blatt: “Man würde denken, dass Amal mit George Clooney den Jackpot geknackt hat, aber Baria ist nicht glücklich. Sie denkt, dass sie es besser hätte treffen können.” Weiter habe Amals Mutter in Beirut herumerzählt, dass es schließlich 500.000 Drusen gäbe – warum nur könne ihre Tochter darunter niemanden finden, der gut genug für sie ist?
Die “Abendzeitung” erzählt die Lügengeschichte immer noch:
Hören wir nicht richtig? Eigentlich dachten wir, es gäbe kein Mittel, mit dem FRAU dem Charme von Hollywood-Schauspieler George Clooney widerstehen könnte. Doch auch ein Clooney muss hin und wieder die seltene Erfahrung machen, dass er nicht jede um den Finger wickeln kann.
Mehrere deutsche Medien haben die Falschmeldung von der Boulevardagentur “Spot On News” übernommen (Eigendarstellung: “Die Artikel von spot on news beschränken sich nicht auf das Ab- und Umschreiben von Internet-Content. (…) Exklusivität steht bei spot on news ganz weit oben”). Die hat nach den Unwahrheiten der “Daily Mail” nun auch ungerührt die empörte Antwort von Clooney verbreitet — so gesehen profitiert sie doppelt von den Falschmeldungen der Auslandspresse, die sie abschreibt.
Der amerikanische Schauspieler hat über die “Daily Mail” noch gesagt, sie habe — mehr als jede andere “Nachrichten”-Organisation — ein ums andere Mal beweisen, “dass Tatsachen für sie keine Bedeutung haben bei den Artikeln, die sie sich ausdenkt.” Das wird die deutschen Medien auch bei den nächsten “Daily Mail”-Geschichten nicht davon abhalten, sie blind zu übernehmen.
Vor zwanzig Jahren war Mark Pittelkau noch nicht Chefreporter bei der “Bild”-Zeitung. Vor zwanzig Jahren, kurz nach der Wende, war er gerade volljährig, frisch im Westen, arbeitete als Kellner und wollte, wie er selbst erzählt, …
unbedingt Journalist werden. Als Kellner war das schwierig. Ich brauchte eine große Geschichte.
Und die bekam er. Mit Anfang Zwanzig gelang es ihm, den exilierten Erich Honecker in Chile zu treffen. Mehrere Tage lang besuchte er den ehemaligen DDR-Chef und dessen Frau in ihrem privaten Zuhause. Sie verbrachten Zeit miteinander, unterhielten sich, aßen gemeinsam, posierten für Fotos. Pittelkaus große Geschichte.
Sie war seine Eintrittskarte in die Welt der “Bild”-Zeitung. Das Blatt veröffentlichte die Geschichte kurz darauf, im Sommer 1993, als dreiteilige Serie.
“BILD zu Besuch bei Honecker”. Eine Homestory aus dem Exil.
“Bild” wurde nicht müde zu betonen, dass “Bild” damit etwas geschafft habe, was “bisher keinem gelang”; dass Honecker sich “Bild” zum exklusiven Foto stellte, dass er “Bild” exklusive Dinge erzählt habe. “Bild” feierte sich selbst. Dank Mark Pittelkau.
Pittelkau und “Bild” sind heute immer noch stolz auf diese Geschichte. Vor Kurzem, zum 20. Todestag von Honecker, erinnerten sie noch mal feierlich daran, dass “der BILD-Reporter Mark Pittelkau” ja “einer der letzten Gäste des DDR-Diktators” gewesen sei:
Und wie ist es dazu gekommen? Wie hat Mark Pittelkau, der 20-jährige Kellner ohne journalistische Erfahrung, den Ex-Chef der DDR dazu gebracht, in der “Bild”-Zeitung exklusiv die Hosen runterzulassen?
Indem er ihn nach Strich und Faden belog.
Oder, wie Pittelkau es damals formulierte: Mit einer “List”. Er schrieb Honecker mehrere Briefe, in denen er sich als Jungkommunist ausgab und sich eifrig bei Honecker einschleimte — und der fiel darauf rein. Nach und nach gewann Pittelkau das Vertrauen des 80-Jährigen. Bis er schließlich, im Juni 1993, nach Chile fliegen durfte.
Dort angekommen, spielte Pittelkau weiter den harmlosen Freund aus der Heimat. Er kaufte Blumen, sagte an der Tür sein “Sprüchlein vom Jungkommunisten aus Deutschland auf”, und Honecker empfing ihn “mit offenen Armen”.
„Ach, der junge Genosse aus Deutschland … Komm rein!“
So verschaffte sich Mark Pittelkau, der “liebe Genosse Mark Pittelkau”, Zugang zu den “letzten Geheimnissen” von Erich Honecker. So gelangte er auf die Terasse der Honeckers, in ihr Wohnzimmer, an ihren Esstisch. Fünf Tage lang, von Anfang bis Ende, hielt er seine Tarnung — seine Lüge — aufrecht. “Bild” war in Wahrheit also nicht “zu Besuch”, “Bild” ist eingedrungen und hat spioniert.
Sicher: Wallraff macht das auch immer — sich verkleiden, sich irgendwo einschleichen und dann stolz darüber berichten. Aber bei Wallraff geht es um wichtige Dinge. Um Missstände. Um Informationen, die unbedingt an die Öffentlichkeit gehören.
Bei Pittelkau ging es einzig und allein um Honeckers Privatsphäre. Darum, wie er lebt. Wie gesund oder krank er ist. Welche Marmelade er zum Frühstück mag. Wann er seine Mittagsschläfchen hält. Wie oft seine Kinder ihn besuchen. Was in seinem Einkaufskorb liegt. Welche Farbe sein Füller hat. Wie viele Zigaretten seine Frau raucht. Wie oft er pinkeln geht. Alles sorgfältig protokolliert und abgedruckt in der “Bild”-Zeitung. Aussagen zu Politik, zu Privatem, zum Gesundheitszustand, Größe, Gewicht, Adresse, Höhe der Rente, Länge des Rasens, Name des Pförtners — alles. Alles, was Mark Pittelkau in den fünf Tagen aufsaugen konnte.
Verdeckte Recherche ist im Einzelfall gerechtfertigt, wenn damit Informationen von besonderem öffentlichen Interesse beschafft werden, die auf andere Weise nicht zugänglich sind.
Auch deutsche Gerichte verlangen in der Regeln ein erhebliches Informationsinteresse der Öffentlichkeit, wenn es um die Verbreitung rechtswidrig erlangter Informationen geht.
Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum die Honecker-Serie damals anonym erschien. Über den Artikeln stand lediglich: “Von XXX”. (Und vielleicht ist das wiederum der Grund dafür, warum Pittelkau heute so erpicht darauf ist, den Ruhm für damals zu ernten, aber das nur am Rande.)
Jedenfalls dürfte auch Pittelkau gewusst haben, dass er seine Undercover-Recherche irgendwie legitimieren musste, dass sein Artikel einen triftigeren Grund brauchte als die bloße Sensationsgier der Leute. Er schrieb:
Ich wollte wissen: Ist [Honecker] wirklich so krank, wie seine Ärzte behaupten? Oder ist er ein fröhlicher Rentner, der sich auf unsere Kosten einen schönen Lebensabend macht?
Eine “List” im Sinne des Volkes also. Investigativjournalismus zum Schutze des Steuerzahlers.
Und es kann ja tatsächlich sein, dass die deutsche Öffentlichkeit damals unbedingt wissen musste, ob Honecker ihr Geld zum Fenster rauswirft. Aber muss man sich dafür tagelang in sein Leben einschleichen? Muss man eine ganze Artikelserie daraus machen und gnadenlos alles veröffentlichen, was man sieht und hört? Und muss man auch 20 Jahre später immer noch damit rumprahlen?
Pittelkau beantwortete die Frage, ob Honecker “wirklich so krank” sei, damals jedenfalls so:
Nach 5 Tagen verabschiede ich mich von den Honeckers. Erich hat einen festen, klammerhaften Händedruck. Für einen 80jährigen ist dieser Mann trotz seiner Krankheit zweifellos sehr rüstig. Zäh. Mumien sterben langsam.
Am Abend bummle ich allein durch die Gassen von Santiago. Aus kleinen Restaurants schwappt würziger Peperoni-Duft. Ich sehe Straßenmusikanten mit Gitarren und Mädchen in knappen Miniröcken.
Eine beschwingte Stadt. Sie lebt.
Aber oben auf dem Hügel der Millionäre stirbt ein Mann langsam vor sich hin.
Er ist traurig.
Er hat verloren.
Ich gehe in eine Bar und bestelle ein kaltes Bier. Ein Mädchen lächelt mich an.
Verdammt noch mal, das Leben ist so schön (vor 4 Jahren lebte ich noch hinter Honeckers Mauer).
ENDE
Pittelkau hatte damals immer wieder erwähnt, dass Honecker ein “greiser, grauer, krebskranker” Mann sei, dass sein Haus “langsam zu seiner Gruft” werde. Kein Skandal also, keine Verschwendung von Steuergeldern, nur ein sterbender Mann. Elf Monate später war Honecker tot. Und Pittelkau “Bild”-Reporter statt Kellner.
Mich ekelt das an. Dass Pittelkau dermaßen schamlos in die Privatsphäre einer ahnungslosen Familie eingedrungen ist. Und dass er heute immer noch so stolz, ja fast schon amüsiert davon erzählt. Als ginge es um einen Streich oder gar eine journalistische Heldentat — und nicht darum, zur bloßen Befriedigung der Leserneugier, zur Gewinnmaximierung der “Bild”-Zeitung und zum Antrieb der eigenen Karriere das Vertrauen eines alten Mannes zu missbrauchen und sein gesamtes Privatleben bis ins kleinste Detail an die Öffentlichkeit zu zerren.
Da sind Sie überrascht, was? Wir dachten uns, jetzt, wo wir doch zehn Jahre alt werden — und zwar heute auf den Tag genau –, gönnen wir uns mal ein neues Outfit.
Ein bisschen größer, ein bisschen luftiger, statt gelb jetzt rot, mit neuen Schriftarten, neuen Buttons, neuen … Sie sehen es ja selbst. Schauen Sie sich gerne überall um — wir hoffen, Ihnen gefällt’s! Hier und da ruckelt es vielleicht noch ein wenig, aber wir arbeiten fleißig daran. Wenn Ihnen irgendwas auffällt, das merkwürdig aussieht oder nicht funktioniert, schreiben Sie uns doch bitte eine kurze Mail an [email protected].
Übrigens können Sie uns jetzt auch per Mail abonnieren. Einfach hier Ihre Adresse eintragen, dann werden Sie automatisch benachrichtigt, wenn es einen neuen Eintrag gibt.
Und keine Sorge: Innerlich bleiben wir ganz die alten. Das “für alle” ist zwar wieder aus dem Namen verschwunden, aber wir kümmern uns natürlich auch weiterhin “um alle”. Wir können ja nicht tatenlos zusehen, bei so vielen merkwürdigen und schlimmen Dingen, die täglich im deutschen Journalismus passieren, und zwar überall, nicht nur bei “Bild”.
Aber: vor allem bei “Bild”. Vor zehn Jahren genauso wie heute. Darum auch weiterhin — und mit Betonung: BILDblog.
Dass es farblich wieder (bzw. wieder) zurück zu den BILDblog-Wurzeln geht, passt auch insofern ganz gut, als wir — dem ein oder anderen ist es vielleicht im Impressum aufgefallen — nach vier tollen Jahren im Ruhrpott wieder zurück nach Berlin gezogen sind. Und Mats, der neue Chef, also ich freue mich wahnsinnig darauf, mit Ihnen und Euch ins nächste BILDblog-Jahrzehnt zu starten.
Und weil wir Geburtstag haben, gibt’s heute auch ein Geschenk. Für Sie!
Hiermit präsentieren wir Ihnen voller Stolz und nahezu weltexklusiv: BILDblog, der Film.
Viel Spaß dabei!
PS: BILDblog wird auch in Zukunft kostenlos bleiben. Dafür brauchen wir aber Ihre finanzielle Unterstützung.