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Von Dreckschweinen und Wiederholungstätern

Vor etwa zwei Monaten hatte das Bundeskriminalamt in einer bis dato einzigartigen Aktion in verschiedenen Medien nach einem Mann gefahndet, dem mehrfacher schwerer sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen wurde. Als sich der mutmaßliche Täter aufgrund der öffentlichen Aufmerksamkeit nach einem Tag stellte, bat das BKA, die zur Fahndung veröffentlichten Fotos nicht weiter zu verwenden und aus dem Internet zu entfernen. Dieser Bitte kamen die deutschen Medien mit unterschiedlichem Eifer nach (BILDblog berichtete).

Heute nun hat die Staatsanwaltschaft Trier Anklage gegen den Tatverdächtigen erhoben — eine Nachricht, die Bild.de natürlich gerne aufgreift.

Zum Beispiel so:

Die jeweils amtierenden “schlimmsten Kinderschänder Deutschlands” von “Bild” und “BamS”:

“Schlimmster Kinderschänder frei!”
(Gestand Missbrauch von 150 Mädchen)
(16.11.1997)

“Der Ehrendoktor der Universität […] ist Deutschlands schlimmster Kinderschänder.”
(Vergewaltigte mehrere Mädchen auf den Philippinen.)
(12.12.1999)

“Das Rekord-Schwein: Deutschlands schlimmster Kinderschänder.”
(Missbrauchte seine Stieftochter in 3586 Fällen.)
(7.5.2004)

“Deutschlands schlimmster Kinderschänder sitzt im Knast und jammert!”
(Hatte eine 13-Jährige 36 Tage lang eingesperrt und 100 Mal vergewaltigt und missbraucht.)
(7.8.2007)

“Grinst hier Deutschlands schlimmster Kinderschänder?”
(Soll in 20 Jahren 28 Jungen und Mädchen missbraucht haben.)
(3.3.2008)

“Mittwochabend zeigte ‘Aktenzeichen XY”‘ (ZDF) die Bilder des schlimmsten Kinderschänder Deutschlands.”
(Der aktuelle Fall.)
(7.8.2009)

Anklage erhoben: Schlimmster Kinderschänder vor Gericht

(Wie genau Bild.de auf den Superlativ “Deutschlands schlimmster Kinderschänder” kommt, ist nicht ganz klar — von der Staatsanwaltschaft Trier stammt er jedenfalls nicht.)

Im Artikel selbst werden munter alte und neue Bildergalerien verlinkt, in denen der Mann, den Bild.de konsequent als “Kinderschänder” bezeichnet — ganz so, als sei er schon verurteilt worden –, immer gut zu erkennen ist. Ganz zu oberst: Ein Clip, in dem die Videosequenzen zu sehen sind, deren weitere Veröffentlichung das BKA sich ebenfalls verbeten hatte.

Video auf Bild.de

Aber selbst für den (eher unwahrscheinlichen) Fall, dass das BKA die Bild.de-Redakteure mit vorgehaltenen Waffen zur Löschung der ehemaligen Fahndungsfotos zwingt, hätte die Seite noch was in petto: zum Beispiel ein Foto, das die “Sex-Bestie” bei einem Turnfest “mit seinen jungen Schützlingen” zeigt. Die Kinder auf dem Bild sind anonymisiert, der Angeklagte natürlich nicht.

Aber all das ist wie gesagt nichts Neues für Bild.de. Auch die Bildunterschrift “Mit diesem Bild fahndete das BKA nach dem Dreckschwein” (“Dreckschwein” ist in diesem Fall keine vom BKA verwendete Formulierung) gab es in ähnlicher Form schon in der gedruckten “Bild”. Es ist nur erstaunlich, mit welcher Vehemenz die Redaktion Bitten des Bundeskriminalamts und Missbilligungen des Deutschen Presserats ignorieren zu können meint.

Nachtrag, 14. Oktober: Und so behandelt die gedruckte “Bild” heute das Thema (alle gelben Flächen von uns):

Deutschlands schlimmster Kinderschänder: Die Anklage

Bei der Quellenangabe der Fotos war “Bild” übrigens besonders zynisch dreist genau: “Fotos: BKA” steht dort.

Von Monstern und anderem Irren

2008 war, wenn man so will, ein gutes Jahr für “Bild”. Der Deutsche Presserat sprach nur in zwei Fällen Rügen gegen “Bild” aus:

  • Das Gremium beanstandete — aufgrund einer Beschwerde von BILDblog — die teils frei erfundene Berichterstattung über zwei Mädchen, die angeblich von ihrer Mutter nach Afrika gebracht und dort beschnitten werden sollten (BILDblog berichtete).
  • Und der Presserat rügte die “unangemessen sensationelle” Art, wie “Bild” über einen Flugzeugabsturz berichtetete, verkohlte Leichen auf der Titelseite zeigte und die Opfer im Inneren identifizierte — und so “die Gefühle der trauernden Angehörigen verletzt” habe. (Die “Bild”-Zeitung fand die Beanstandung, wie berichtet, “rätselhaft” und führte ihre Leser beim Abdruck der Rüge in die Irre, was dem Presserat aber egal ist.)

Die “Maßnahmen” des Presserates:

Hat eine Zeitung oder eine Zeitschrift gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:

  • einen Hinweis
  • eine Missbilligung
  • eine Rüge.

Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, tun sie es nicht.

Trotzdem hatte der Presserat auch im vergangenen Jahr reichlich mit “Bild” zu tun und sprach eine Reihe von “Missbilligungen” und “Hinweisen” aus. Und wie in jedem Jahr gibt das vor kurzem erschienene “Jahrbuch” des Presserates seltene Einblicke in die Argumentationsmuster innerhalb der notorisch öffentlichkeitsscheuen Axel-Springer-AG, wenn die Rechtsabteilung gegenüber dem Presserat ausgeruht die fragwürdigen Ad-Hoc-Entscheidungen der “Bild”-Zeitung zu rechtfertigen versucht.

Eine Auswahl:

Tote Kinder ohne Rechte?

“Die toten Kinder von Darry — Von der Mutter erstickt, vom Vater wieder ausgegraben”. Unter dieser Überschrift berichtet “Bild” am 26. Juni 2008, wie drei tote Kinder von einem Berliner Friedhof nach Schleswig-Holstein umgebettet werden. Sie und zwei weitere waren von ihrer Mutter getötet worden. “Bild” zeigt ein Familienfoto, auf dem die Gesichter der Erwachsenen unkenntlich gemacht wurden, sowie Nahaufnahmen der Särge und der Gruft — und ein Notfallseelsorger aus Schleswig-Holstein, der beruflich mit dem Fall zu tun hat, beschwert sich beim Presserat, der seine Position so wiedergibt:

Die Umbettung habe unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden sollen. Mit allen Firmen und den Friedhöfen sei Stillschweigen und absolute Vertraulichkeit vereinbart worden. Zu Beginn der Exhumierung in Berlin hätten mehrere Journalisten fotografieren und filmen wollen. Die Friedhofsverwaltung habe vergeblich versucht, sie davon abzuhalten. Im Gegensatz zu anderen Medien habe das Boulevardblatt Nahaufnahmen der Särge, der Gruft und des gesamten Vorgangs veröffentlicht. Zudem sei in der Online-Ausgabe ein “abscheuliches Video” mit Nahaufnahmen abrufbar gewesen. Der Geistliche sieht einen Missbrauch der Pressefreiheit und eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte der verstorbenen Kinder und des trauernden Vaters.

Die Antwort von “Bild” ist vor allem eine juristische: Die Vorwürfe seien unbegründet, weil das Persönlichkeitsrecht nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes mit dem Tod erlösche. Es müsse dann nur noch allgemein die Menschenwürde geachtet werden. “Bild” habe die Kinder aber nicht herabgewürdigt oder erniedrigt. Das (nicht mehr abrufbare) Video auf Bild.de habe allerdings religiöse Gefühle verletzen können — das habe der Chefredakteur in einem Brief an den Seelsorger bedauert. Die Reporter hätten versichert, dass sie während der Exhumierung nicht am Fotografieren gehindert worden seien.

Der Presserat sieht in der Veröffentlichung der Fotos einen Verstoß gegen Ziffer 8 des Pressekodex, der eine Identifizierung der Opfer von Unglücksfällen und Straftaten untersagt. Der “engeren juristischen Wertung” des Verlages wollte er sich nicht anschließen. Aus ethischer Sicht hätte die Redaktion auf die Persönlichkeitsrechte der verstorbenen Kinder sowie des trauernden Vaters größeres Gewicht legen müssen. Der Presserat sah darin allerdings keinen rügenswerten Verstoß, sondern “missbilligte” die Berichterstattung nur — warum auch immer.

Lea-Sophie, nackt und verhungert auf dem OP-Tisch

Am 6. April 2008 veröffentlichten “Bild am Sonntag” und Bild.de zwei Fotos der fünfjährigen Lea-Sophie, die ihre Eltern verhungern ließen. Eines zeigte das Mädchen zu Lebzeiten, eines den Leichnam, nackt auf dem Obduktionstisch. Das zweite Foto, das die Zeitung auf unbekannte Weise bekommen hatte, war, wie die “BamS” damals schrieb, ein “schreckliches” Foto. Die Redaktion, behauptete die Redaktion, habe lange diskutiert, ob sie es zeigen solle. Dass sie sich dafür entschieden habe, das tote Kind auf diese Weise vor einem Millionenpublikum auszustellen, begründete sie mit dem Satz: “Denn wir wollen, dass so etwas nie wieder in Deutschland passiert!” (BILDblog berichtete.)

Ein Leser beschwerte sich beim Presserat, weil er in der Veröffentlichung des Bildes Sensationsmache und eine Verletzung der Menschenwürde der Verstorbenen sieht. Die Rechtsabteilung der “BamS” hält ihm entgegen, er habe sich mit den Überlegungen der Redaktion nicht auseinandergesetzt: Darin seien die Beweggründe, das Foto zu veröffentlichen, ausführlich dargelegt worden. Sie erinnerte an das “vermutlich eindringlichste Foto der Pressegeschichte”: fliehende, weinende, teilweise nackte und vom Napalm verletzte Kinder im Vietnam-Krieg. Wenn die Eltern von Lea-Sophie und ihr Anwalt ein falsches Bild der Ereignisse zeichneten, so die “BamS” laut Presserat, müsse dies ausnahmsweise durch ein Fotodokument korrigiert werden können.

Der Beschwerdeausschuss widersprach: Das Foto sei für eine wahrhaftige Berichterstattung über die Grausamkeit der Todesumstände nicht erforderlich gewesen — eine Beschreibung der Vorgänge hätte ausgereicht. Die “BamS” habe “unangemessen sensationell” berichtet und die Würde des Opfers verletzt — und somit gegen die Ziffern 1 und 11 des Pressekodex verstoßen. Der Presserat fand das aber offenbar lässlich genug, keine “Rüge”, sondern nur eine “Missbilligung” auszusprechen.

Ein “Kinderschänder” und sein Opfer im Bild

Zu den für “Bild” nachhaltig unbegreiflichen Realitäten gehört es, dass auch (mutmaßliche) Täter Rechte haben, sogar Persönlichkeitsrechte. Und dass die Richtlinie 8.1 des Pressekodex vorsieht, dass die Presse bei Straftaten in der Regel keine Informationen veröffentlicht, die die Beteiligten erkennbar machen. Es ist vermutlich die Richtlinie, gegen die “Bild” am häufigsten verstößt, so auch am 5. Juni 2008. Das Blatt titelte “Kinderschänder lockt 13-Jährige in Sex-Falle” und berichtete über ein Ermittlungsverfahren gegen einen Mann, der ein Mädchen, das er im Internet kennen lernte, zu sich nach Hause gelockt, dort vier Wochen lang versteckt und mit ihm einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehabt haben soll. “Bild” zeigt beide auf einem Foto. Der Anwalt des Beschuldigten sieht in der Bezeichnung “Kinderschänder” eine unzulässige Vorverurteilung und weist darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft bereits nach einer Woche die Aufhebung des Haftbefehls beantragt habe. Das Foto, auf dem der Mann mit dem Mädchen zu sehen ist, sei auf unlautere Weise aus den Privaträumen des Beschwerdeführers beschafft worden. Und sowohl die Bildunterschrift “In diesem Gartenhäuschen auf dem Hotelgrundstück fanden die Ermittler Kinderpornos” als auch die Behauptung “Der Mann fiel der Polizei schon früher auf: Als 17-Jähriger soll er erstmals zwei Mädchen in einen Schuppen gelockt und gefesselt haben” seien frei erfunden.

Die Rechtsabteilung von “Bild” hingegen meint, dass die Wertung als “Kinderschänder” und der Tatbestand des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern durch die Beschreibung der beiden Betroffenen erfüllt sei. Und an der Veröffentlichung der Fotos gebe es ein öffentliches Interesse. “Wenn jemand eine 13-jährige Schülerin vier Wochen lang vor deren Eltern versteckt halte, sei das so außergewöhnlich, dass die Fotoveröffentlichung auch gegen den Willen des Abgebildeten gerechtfertigt sei”, erklärt “Bild” laut Presserat. “Die Mutter des Beschwerdeführers habe das strittige Foto zur Verfügung gestellt. Sie habe damit zeigen wollen, dass es sich um eine einvernehmliche Beziehung zwischen ihrem Sohn und dem Mädchen gehandelt habe.” Somit habe “Bild” nicht gegen Ziffer 4 des Pressekodex verstoßen, die unlautere Recherchemethoden untersagt. Schließlich beruhten die angeblich “frei erfundenen Behauptungen” auf Informationen der Ermittlungsbehörden und Aussagen der Mutter des Beschwerdeführers, die man “nicht als Tatsachen, sondern in der Soll-Form wiedergegeben” habe.

Der Presserat “missbilligte” die Berichterstattung von “Bild”. Er sah zwar keine Verletzung der Unschuldsvermutung und konnte, wie fast immer, nicht klären, ob “Bild” unlautere Methoden bei der Recherche angewandt hat. Aber “Bild” habe den mutmaßlichen Täter nicht einmal teilweise unkenntlich gemacht. Sowohl er als auch die 13-Jährige seien erkennbar. “Der Fall ist sicher von großem öffentlichem Interesse, doch ist es auch dann nicht gerechtfertigt, die Beteiligten erkennbar zu machen”, urteilte der Beschwerdeausschuss. “Diese hätten anonymisiert werden müssen.”

Ein Irak-Soldat “frisst” einen kleinen Hund

Man kann sicher darüber streiten, ob es wirklich, wie ein Beschwerdeführer meint, “abartig” ist, dass die “Bild”-Zeitung am 11. Januar 2008 auf ihrer letzten Seite zwei AFP-Fotos zeigt, auf denen ein irakischer Soldat einen Hund erst mit seinem Messer tötet und dann isst, um den Jahrestag der Übernahme der Stadt Nadschaf zu feiern. Aber die Argumente, mit denen die “Bild”-Justiziare die Veröffentlichung der drastischen Aufnahmen rechtfertigen, sind atemberaubend. Der Presserat gibt sie so wieder:

Die Rechtsabteilung der Zeitung hält das Foto mit dem irakischen Soldaten für ein über den Tag hinaus wirkendes zeitgeschichtliches Dokument. Es zeige die Verrohung des Menschen im Krieg. Das Foto dokumentiere zudem den Hass, der einen Moslem dazu bringe, genau das Tier zu verspeisen, das in seiner Religion neben dem Schwein als besonders unrein gelte. Das Foto sei aktueller Informationsträger und erfülle eine nachrichtliche Funktion. Das blutige Ritual zeige, zu welchen Taten Soldaten im Krieg — namentlich, wenn er von Glaubensgegensätzen begleitet werde — fähig seien. Dies dürfe die Berichterstattung aufgreifen. Sie solle weder verschleiern, noch verharmlosen, sondern die Wirklichkeit so abbilden, wie sie sei.

Der Hass eines Moslems? Ein Krieg, der von Glaubensgegensätzen begleitet wird? Und all diese Informationen und Hintergründe entdecken erfahrene “Bild”-Leser zwischen den gerade einmal 20 Zeilen eines Artikels, in dem von Glauben und Religion nicht einmal die Rede ist?

Der Presserat sieht in den Fotos kein “zeitgeschichtliches Dokument”: “Es scheint sich hier um einen sehr speziellen Einzelfall zu handeln.” Das Veröffentlichen brutaler Bilder sei zwar ausnahmsweise zulässig, wenn sie zu einer politischen Debatte beitragen. Ein solches öffentliches Interesse sei aber nicht zu erkennen; die Darstellung sei unangemessen sensationell. Der Presserat sprach einen “Hinweis” aus.

Franz Josef Wagner und die “Monster” in der Psychiatrie

Und dann hatten die Mitglieder des ersten Beschwerdeausschusses des Presserates noch eine Aufgabe, um die man sie wirklich nicht beneiden kann: Sie mussten versuchen herauszufinden, was Franz Josef Wagner in einer seiner “Bild”-Kolumnen eigentlich sagen wollte. Am 26. März 2008 schrieb er an den damals noch unbekannten Täter, der einen schweren Holzklotz von einer Autobahnbrücke bei Oldenburg geworfen und damit eine Frau getötet hatte. Unter der zu seinem Markenzeichen gewordenen Umgehung von grammatischen und logischen Regeln formulierte Wagner:

Mehrere Menschen, darunter Vertreter sozialpsychiatrischer Einrichtungen und Verbände, beschwerten sich beim Presserat darüber, dass Wagner psychisch kranke Menschen als “Monster” bezeichne. Einer fühlte sich an die Nazi-Zeit erinnert, zumal schon am Beginn des Beitrages von einer Art Sippenhaft gesprochen werde; ein anderer sah in Wagners Text eine menschenverachtende Diffamierung von Personen, die psychisch krank sind und Hilfe in psychiatrischen Einrichtungen suchen.

Die Rechtsabteilung der “Bild”-Zeitung hatte für die insgesamt vier Beschwerdeführer eine überraschende Antwort: Wagner habe gerade nicht psychisch kranke Menschen, sondern Kriminelle als “Monster” bezeichnet. Die Justiziare verstiegen sich sogar zu der — vermutlich auch für Wagner selbst überraschenden — These, seine Kolumne habe einen gedanklichen “roten Faden”: Der Autor beklage, dass selbst Straftäter, die gröbste Verbrechen begehen, immer irgendwie durch “mildernde Umstände” exkulpiert würden. Erwachsene Täter, die man aufgrund ihrer Verbrechen nur noch als “Monster” bezeichnen könne, schicke man nicht ins Gefängnis, sondern zur Behandlung in die Psychiatrie. Wagners Fazit laute: Verbrechen wie die des “Holzklotzwerfers” würden nicht wirksam bekämpft; ein nächster Fall sei zu befürchten. Dass einige der Beschwerdeführer die räumliche Nähe der Begriffe “Monster” und “Psychiatrie” in dem Kommentar als Erinnerung an die Nazi-Zeit “hochschraubten”, betrachte man als polemische Übertreibung im Rahmen ihrer politischen Agitation, erklärte die Rechtsabteilung des Verlages, den man ja in Sachen “politischer Agitation” getrost als Experten betrachten darf.

Und der Presserat? Er hält den Nazi-Vorwurf für überzogen und stellt sicherheitshalber fest, dass Wagners Text mehrere Deutungsmöglichkeiten habe und man deshalb nicht zwingend davon ausgehen könne, dass Wagner alle Patienten einer Psychiatrie als “Monster” bezeichnet habe:

Eine weitere Deutungsmöglichkeit ist jedoch, dass hier nur Menschen als “Monster” bezeichnet werden, die monströse Taten begehen. Ein so monströses Verbrechen wie der Holzklotzanschlag auf eine Familie kann umgangssprachlich durchaus einem “Monster” zugeordnet werden. Die Feststellung des Autoren, “Monster werden an Händen und Füßen festgeschnallt”, ist anders zu beurteilen. Dies ist eine falsche Tatsachenbehauptung. Die Feststellung, dass Kranke in der Psychiatrie gefesselt würden, ist in dieser pauschalen Form falsch und verletzt Ziffer 2 des Pressekodex (Journalistische Sorgfaltspflicht). Sie kommt einer Schmähung der Institution Psychiatrie gleich und zieht einen Hinweis nach sich.

Der Presserat erklärt also Wagners Satz “Monster werden an Händen und Füßen festgeschnallt” für sachlich falsch und diffamierend, indem er das Wort “Monster” als Synonym für “psychisch Kranke” interpretiert, glaubt aber nicht, dass Wagner “Monster” als Synonym für “psychisch Kranke” gebraucht habe. Irre.

101,4-prozentig daneben

Nachdem sogar der Bundeswahlleiter in den allmächtigen Hype um Twitter eingestimmt hatte und hochoffiziell und international davor warnte, Ergebnisse so genannter “Exit polls” auf der Kurznachrichtenplattform zu verbreiten, stand das Szenario für den Wahlabend fest:

1. Dutzende Journalisten würden Twitter durchstöbern, um die erwarteten Indiskretionen zu entdecken.
2. Hunderte von Twitter-Nutzern würden sich einen Spaß draus machen, ständig neue Wahlprognosen zu erfinden und zu veröffentlichen.

Unter den Spaßvögeln: ein Unbekannter, der sich einfach als FDP-Kreisverband Unna ausgab und prompt eine angebliche Prognose aus Berlin weitertwitterte. Das war zwar liebevoll gemacht, der vermeintliche FDP-Funktionär erfand sogar einen mahnenden Anruf aus der Parteizentrale in Berlin. Trotzdem überzeugte die Fälschung keine zwei Minuten lang.

So hatte der vermeintliche Liberale im Überschwang 101,4 Prozent an Stimmen verteilt, die FDP in Unna war problemlos telefonisch erreichbar und dementierte sofort. Wer würde dennoch auf die plumpe Vorstellung reinfallen?

Ja, wer?

Dicker Patzer: Die FDP aus Unna „zwitscherte“ noch vor Schließung der Wahllokale über den Dienst „Twitter“ Prognosen zur Wahl. Schnell kam ein mahnender Anruf aus Berlin, das kann schließlich Wähler beeinflussen.

Im Nachhinein hat Bild.de dann doch erkannt, dass mit den Prognosen etwas nicht stimmt:

Die angeblichen Ergebnisse wurden teilweise bis auf die zweite Stelle hinter dem Komma genannt – was allerdings nicht der Arbeitsweise der Demoskopen entspricht.

Ein anonymer Twitter-Nutzer schrieb unter dem Namen des Forschungsinstituts infas/dimap. Ein anderer anonymer Nutzer twitterte unter dem Namen “FDP_Unna”. Die Fake-Accounts und Prognosen wurde inzwischen gelöscht.

Stimmt aber auch nicht: Der Fake-Account der FDP Unna ist immer noch online.

BKA? Da könnte ja jeder bitten! (2)

Am Dienstag griff das Bundeskriminalamt zu einer harten Maßnahme, mit der es aber schon einmal erfolgreich gewesen war: Nachdem es in den Besitz von kinderpornographischen Videos gekommen war, gab das BKA ein Foto des mutmaßlichen Kinderschänders an die Medien heraus und veröffentlichte eine Fahndung nach dem Unbekannten. Dabei stufte die Behörde den Fall nicht nur als “normale” Fahndung ein, sondern bewertete den Mann als eine der “meistgesuchten Personen”.

Einen Tag darauf meldeten die Medien, die durch die Veröffentlichung der Fahndung und des Fotos fleißig an der Fahndung mitgewirkt hatten, stolz einen Erfolg: Der Mann wurde festgenommen. “Die Handschellen klickten”, titelte beispielsweise sueddeutsche.de, während “Welt Online” in der Überschrift auf eine Unschuldsvermutung praktischerweise gleich verzichtete und meldete: “Kinderschänder nach Fahndung gefasst”.

Und zudem im Text berichtete:

Am Mittwoch bat das BKA die Medien, die veröffentlichten Videos, Bilder und Stimmproben nicht weiter zu verwenden und aus allen Internetportalen zu entfernen.

Gelesen hat den Text in der Redaktion allerdings anscheinend wohl niemand, denn auch jetzt noch prangt das Foto bei “Welt Online” unverpixelt in voller Breite im Fahndungsartikel, bei sueddeutsche.de auch im Artikel über die “erfolgreiche Fahndung”. Auf Bild.de kann man den (nicht mehr) Gesuchten sowohl auf einem Foto, als auch im Bewegtbild ansehen — ebenso wie übrigens immer noch einen mutmaßlichen und inzwischen gefassten Kinderschänder auf Videoaufnahmen, um deren Entfernung das BKA schon vor über einem Monat gebeten hatte.

Was allerdings noch viel gravierender ist: Der Mann ist wegen der Videos, wegen derer er nun für einen Tag zu einer der “meistgesuchten Personen” wurde, längst verurteilt worden. 1994 war er zweieinhalb Jahre in einer psychiatrischen Klinik; heute lebt er in einer Einrichtung für betreutes Wohnen — und hat sich seit seiner Verurteilung vor 15 Jahren nichts mehr zuschulden kommen. Das BKA hat inzwischen auch offiziell bestätigt, was (ausgerechnet) Bild.de schon im Laufe des Nachmittags berichtet hatte. Wenn das kein Grund ist, die Fotos des Mannes besonders schnell und gründlich aus dem eigenen Archiv zu entfernen, was dann?

Und das vermeintlich seriöse Internetangebot der “Süddeutschen Zeitung” verlinkt immer noch auf seiner Startseite den Artikel mit dem unverpixelten Foto des Mannes und der Dachzeile “erfolgreiche Fahndung”. Der Hinweis, dass es diese Fahndung des BKA nie und nimmer hätte geben dürfen und es sich vielmehr um einen gravierenden Fehler des BKA gehandelt hat, findet sich nur klein und versteckt im automatisch von Agenturen befüllten “Newsticker”.

Das BKA hingegen müsste allmählich wissen, dass seine Bitte, Fahndungsbilder wieder zu entfernen, von den Medien ignoriert werden. Was sie einmal haben, das behalten sie auch und zeigen es für immer. Das ist nicht neu.

Mit Dank an Martin S., Armin E. und JB!

Nachtrag, 17.9., 10.06 Uhr: Sueddeutsche.de berichtet inzwischen ebenfalls über die Fahndungspanne. Muss man erwähnen, dass das Foto weiterhin zu sehen ist?

TV-Duelle, Kamera-Kriege, Krisen-Thesen

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “TV-Duell: Eine journalistische Katastrophe “
(blog.zeit.de, Jörg Lau)
Jörg Lau ist mit den Moderatoren des TV-Duells zwischen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier nicht zufrieden: “Statt die Kontrahenten zu den Inhalten zu befragen, wurde sofort auf die Metaebene ausgewichen: Sind Sie nicht ein altes Ehepaar? Wann wird der Wahlkampf endlich unterhaltend? (Als ginge es darum!) Wollen Sie nicht in Wahrheit eine zweite Große Koalition gründen? (Als wäre das nicht dem Wähler vorbehalten.)”

2. “Haben Sie doch Interesse!”
(faz.net, Jürgen Kaube)
Jürgen Kaube bemerkt: “Maybrit Illner und Frank Plasberg unterbrachen die Kandidaten mitunter nachgerade, als hätten die Moderatoren sich nicht nur die Fragen, sondern auch gleich noch die richtigen Reaktionen notiert und stellten nun unwirsch fest, dass das Personal falsch antworte.”

3. “Der TV-Journalismus hat verloren”
(carta.info, Robin Meyer-Lucht)
Und auch Robin Meyer-Lucht sieht den Journalismus als Verlierer des Abends: “Das ‘Duell’ war nicht die Feier einer Fernsehkultur, wie es sich die Veranstalter erhofft hatten. Es war der Bankrott eines TV-Journalismus, der sich in den letzten Jahren zum dominanten Paradigma der Bewegtbild-Politikvermittlung hochgedient hat.”

4. “Der Krieg der Kameras”
(blogs.sueddeutsche.de/schaltzentrale, Johannes Boie)
Johannes Boie kritisiert die Veröffentlichung eines nicht-anonymisierten Videos (das kurzzeitig auch bei ihm zu sehen war, wie er in den Kommentaren zugibt): “Auf den Videos, die vor allem von Datenschutzaktivisten verbreitet werden, ist zum Beispiel keine Person anonymisiert. So sehr man den Polizisten beim Anblick der Schläge auch eine harte Bestrafung wünscht, hätte es nicht gereicht, den Ermittlungsbehörden die Gesichter des Polizisten zu zeigen?”

5. 5 Krisen-Thesen
(dirkvongehlen.de)
Dirk von Gehlen liefert fünf ausführliche Thesen zur Zeitungskrise: “1. Der Leser wird zum Nutzer, 2. Zeitungen sind viel mehr als bloße Mittler zwischen Anzeigenkunden und Lesern, 3. Erfolgreiche Zeitungen verkaufen nicht nur Nachrichten, 4. Es geht um Zugang, nicht um Content” und “5. Der aktive Rezipient wird zum (zahlenden) Mitglied.”

6. “Eleven Things I’d Do If I Ran a News Organization”
(mediactive.com, Dan Gillmor)
Und Dan Gillmor zählt 11 Dinge auf, die er tun würde, wenn er ein Nachrichtenunternehmen führen würde.

B.Z., Bild  etc.

Schock: Madonnas Bühnenkollabitis chronisch!

Vielleicht sollte Madonna mal was Herzhaftes essen. Schweinshaxe statt Algen etwa. Oder mit ihren 50 Jahren einfach kürzer treten.

Ja, vielleicht.

Unzählige Stunden hat Madonna schon in Fitness-Centern verbracht, um ihre Muskeln zu stählen und das Altern zu stoppen. Eine Fitness-Fanatikerin. Mit Diät-Wahn. Makrobiotisch, ihr Zauberwort. Kein Fleisch, keine Milch, kein Zucker. Kurz: Was schmeckt, ist verboten.

Naja, und?

Doch nun zahlt Madonna dafür Tribut.

Ach ja? Oh ja!

“Bild”, “B.Z”, “Basler Zeitung”, “Express”, “Bunte”, “Blick” und, ach, alle berichten, dass Madonna bei ihrem Konzert in Sofia zusammengebrochen (oder genauer: fast zusammengebrochen) sei. Sie haben das aus der britischen Boulevardzeitung “Sun”, und die hat nicht nur diverse anonyme “Insider”, sondern auch ein Beweis-Video, auf dem man sieht, wie sie nach hinten an einen ihrer Tänzer sinkt und erst, nachdem er sie besorgt geschüttelt hat, weitertanzt:

“Man könnte meinen, es gehört zur Choreographie”, heißt es am Anfang im Bild.de-Videobericht, aber anscheinend wollte niemand ernsthaft dieser abwegigen Möglichkeit nachgehen. Da das also ebenso auszuschließen ist wie die Möglichkeit, dass all diese professionellen Journalisten weltweit einfach irgendeinen Unsinn nachplappern, muss es wohl so sein, dass Madonna auf ihrer Tour jedesmal an derselben Stelle im Programm, wenn ein Michael-Jackson-Doppelgänger auftrat, ohnmächtig zusammengebrochen ist, fast so, dass man meinen könnte, es gehöre zur Choreographie:

Gegen den Wahnsinn der Medien dürfte allerdings auch eine Nahrungsumstellung von Algen auf Haxen nicht viel ausrichten.

Mit Dank an lennet!

Bild  

Den Falschen zum Todesschützen gemacht

Nicht weniger als drei Autorenkürzel stehen unter dem “Bild”-Artikel über das Familiendrama, bei dem ein Mann am vergangenen Samstag in Sundern seine Frau auf offener Straße erschoss. Aber es waren entweder nicht genug — oder einfach zu viele “Bild”-Autoren beteiligt, um einen gravierenden Fehler zu verhindern: Den Täter mit seinem Bruder zu verwechseln.

“Bild” hat zwar den Nachnamen der Eheleute abgekürzt, aber sich — wie üblich — keine Mühe gemacht, die Beteiligten tatsächlich zu anonymisieren. Das Blatt nennt den ungewöhnlichen Vornamen des vermeintlichen Täters, schreibt, wo er arbeitet und zeigt ein Foto des Hauses der Familie.

Das ist in diesem Fall besonders dramatisch, denn die Namen sind nicht die von Täter und Opfer, sondern vom Bruder des Täters und seiner Frau. Auch die “Hintergründe” des Artikels basieren teilweise auf dem Leben des Bruders.

Man kann sich ausmalen, wie sehr das das Leid der überlebenden Verwandten vergrößert hat, dass sie in ihrer Situation nun auch noch als Täter und Todesopfer dargestellt wurden. Und das nur, weil eine große Boulevardzeitung nicht anonymisieren will und nicht recherchieren kann.

PS: Heute korrigiert sich “Bild” am Ende eines weiteren Artikels zum Thema:

Durch eine bedauerliche Namensverwechslung war der engagierte Trainer des Fußballvereins […] bei BILD.de als Täter und seine Frau als Opfer bezeichnet worden. Beide haben mit dem Verbrechen nichts zu tun.

Der Horror-Sturz-Horror

Nach dem 5:0-Auswärtssieg des FC St. Pauli bei Alemannia Aachen am Montagabend ist ein St.-Pauli-Fan sechs Meter in die Tiefe gestürzt. Er wurde in ein künstliches Koma versetzt und ist offenbar noch nicht außer Lebensgefahr.

Weil man sich vielleicht nicht so gut vorstellen kann, wie es aussieht, wenn ein Mensch gerade sechs Meter tief aufs Betonpflaster gefallen ist, oder einfach, weil Fotos des Opfers auf dem Markt waren, veröffentlichten Bild.de und Express.de Bilder, die den Fan in einer Blutlache zeigten. Bei Bild.de war er auf dem Bauch liegend von der Seite zu sehen, auf dem Foto bei Express.de lag er auf der Seite, die Tätowierungen auf seinem der Kamera zugekehrten Rücken waren gut zu sehen.

Beide Bilder sind inzwischen aus den Artikeln verschwunden, was unmittelbar mit dem zusammenhängen dürfte, was die “Aachener Nachrichten” gestern schrieben:

Die Alemannia stellt der Familie [des Mannes] nach Angaben von Pressesprecher Thorsten Pracht “einen renommierten Hamburger Medienanwalt” auf Vereinskosten zur Verfügung, der zunächst auf Unterlassung der Veröffentlichung der Bilder des gestürzten Mannes klagen soll, die im Internetauftritt von zwei Boulevardzeitungen zu sehen sind.

St. Pauli betet für diesen FanDas rigorose Vorgehen gegen die Konkurrenz hielt die “Hamburger Morgenpost” aber offensichtlich nicht davon ab, heute ein Drittel ihrer Titelseite mit dem gleichen Foto zu füllen, das Express.de verwendet hatte. Direkt darüber: Ein Foto des Mannes vor dem Unfall, darunter sein Spitzname.

Im Innenteil der “Morgenpost” findet sich dann ein Foto des Fanblocks, in dem das Opfer als einzige von etwa 50 Personen notdürftig anonymisiert wurde — und gleich daneben eine unverpixelte Nahaufnahme, die den Fan beim Feiern zeigt.

St. Pauli-Fan ringt mit dem Tod

Im Artikel unterhalb des Fotos erklärt die “Morgenpost”:

Gestern bat der Klub darum, die Profis nicht zu den Vorfällen zu befragen. Die MOPO kam dieser Bitte selbstverständlich nach.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

Nachtrag, 17:15 Uhr: Die Unterseite im Internetauftritt der “Hamburger Morgenpost”, auf der man sonst jeden Tag das aktuelle Titelbild in zweifacher Ausführung betrachten kann, sieht seit dem Nachmittag so aus:

Kein Titelbild bei der "Hamburger Morgenpost".

2. Nachtrag, 20. August: Auf ihrer Internetseite veröffentlicht die “Morgenpost” heute mehrere erboste Leserbriefe, in denen die Veröffentlichung des Fotos vom Unfallort scharf kritisiert wird.

Darüber schreibt die Redaktion:

Liebe Leser, das Titelfoto vom verunglückten St. Pauli-Fan […] löste bei den Anhängern teilweise heftige Reaktionen aus. Es war nicht unsere Absicht, Gefühle zu verletzen. Wir wünschen […] gute Besserung und seiner Familie viel Kraft. DIE REDAKTION

Gefühle wollte man also nicht verletzen — mit den Persönlichkeitsrechten sah es da offenbar etwas anders aus.

BKA? Da könnte ja jeder bitten!

Es war vielleicht die “erste Multimedia-Verbrecherjagd” und “eine der spektakulärsten Fahndungen in der Kriminalgeschichte”, wie “Bild” heute schreibt: Am Mittwoch hatte das BKA in der ZDF-Sendung “Aktenzeichen XY … ungelöst” und im Internet nach einem Mann gefahndet, dem mehrfacher schwerer sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen wird.

Da sich der Mann bei seinen Taten selbst gefilmt hatte und alle bisherigen Fahndungsmaßnahmen erfolglos waren, entschied man sich zur Veröffentlichung von Videos und Fotos.

Nach dem großen Medien-Echo hat sich der mutmaßliche Täter gestern gestellt, wie das BKA sofort vermeldete. Die Pressemitteilung enthielt einen weiteren Hinweis:

Wichtig:

Da mit der Identifizierung der Grund für die Öffentlichkeitsfahndung entfällt, werden die Medien gebeten, die veröffentlichten Videos, Bilder und Stimmproben nicht weiter zu verwenden und aus den Internetportalen zu entfernen.

Und so kamen die Medien dieser Bitte heute nach (alle gelben Flächen sind von uns):

Schlimmster Kinderschänder stellt sich: So zeigte sich das Dreckschwein im Internet
(“Bild”)

Dieses Bild stammt aus einem Film, den der Täter gedreht hat
(“Tagesspiegel”)

Der Täter filmt sich selbst
(“Süddeutsche Zeitung”)

Aber selbst Menschen, die der widerlichsten Verbrechen beschuldigt sind, haben Rechte. Der Rechtsanwalt Markus Kompa schreibt in seinem Blog:

Für eine Anprangerung in den Medien eines nicht verurteilten Täters gibt es keine Rechtsgrundlage. Die Regeln über die Art und Weise entsprechender Berichterstattung sind im Kodex des Deutschen Presserates hinreichend ersichtlich. Strafe ist Sache des Strafrichters.

(…) Was mich (…) stört, ist die unprofessionelle Gleichgültigkeit, die manche angeblich seriösen Medien an den Tag legen. Wenn es sich um ein sozial besonders geächtetes Delikt handelt, dann scheint man mit zweierlei Maß messen zu dürfen.

Zahlreiche Onlinemedien haben die Fahndungsfotos nach wie vor in ihren Archiven. Dass es durchaus möglich wäre, der Bitte des BKA nachzukommen und die Rechte des Beschuldigten zu respektieren, beweist u.a. “Spiegel Online”.

Für das “Dreckschwein” (aus dem online eine “Sex-Bestie” wurde) kann sich “Bild” wahrscheinlich schon mal auf Post vom Presserat einstellen, was die Zeitung sicher gelassen zur Kenntnis nehmen ignorieren wird.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

Nachtrag, 23:55 Uhr: Und so illustrierte “RTL Aktuell” den Fall heute um 18:45 Uhr, mehr als 24 Stunden nach der Mitteilung des BKA:

Alle haben ihm vertraut

Schäbige Verleger, Jessen im Remix

1. “Ein schäbiges Stück”

(dradio.de, Lars Reppesgaard)

Lars Reppesgaard nennt die Versuche der Verleger, andere dazu zu verpflichten, ihre wegbrechenden Einnahmen zu übernehmen, schäbig: “Es ist ein schäbiges Stück, das die Unternehmen hier inszenieren. Anders als die Musikindustrie, die mit ansehen musste, wie sie durch Tauschbörsen und Kopierschutzhacker wirklich enteignet wurde, haben sich die Zeitungs- und Zeitschriftenverlage freiwillig der Internetlogik unterworfen.”

2. “Betrug am Leser”

(carta.info, Gabriele Bärtels)

Die freie Journalistin Gabriele Bärtels nennt die Journalistenbranche “von innen verfault” und erzählt von ihren Erlebnissen mit Redaktionen: “Ich habe ja weitgehend aufgehört, für Frauenmagazine zu schreiben. Ich konnte es nicht länger ertragen, für die Psycho-Ressorts lebende Fallbeispiele zu suchen, die genau das aussagten, was die Redaktion hören wollte, wohin man die Fallbeispiele notfalls mit Suggestivfragen bringen musste.”

3. “Trends in der Online-Werbung”

(faz-community.faz.net/blogs/netzkonom, Holger Schmidt)

Die Werbung wandert ins Internet, Gewinner sind Social Networks und Suchmaschinen: “Ganz trüb sind die Erwartungen für die klassischen Medien: Gerade einmal 2 Prozent der Befragten erwarten bessere Resultate von der Werbung in Gelben Seiten und nur 4 Prozent trauen dies den Zeitungen zu.”

4. Verschwörungstheorien, Schlammschlachten, Schreihälse

(sueddeutsche.de, Christopher Schmidt)

Die Süddeutsche Zeitung hat sich mal wieder eine publizistische Website im Internet angesehen, nämlich nachtkritik.de: “Im Schutz der Anonymität wird in den Kommentarforen ein regelrechter Kulturkampf ausgetragen. Persönliche Diffamierungen werden von den Redakteuren konsequent herausgefiltert, dafür gedeihen hier die wildesten Verschwörungstheorien und finden Schlammschlachten statt, in denen sich die Schreihälse gerne auch gegenseitig an die Gurgel gehen. Daneben entspinnen sich aber immer wieder anspruchsvolle Debatten.”

5. “Die Rathauszocker”

(zeit.de, Roland Kirbach)

Deutsche Lokalpolitiker haben Teile der Infrastruktur an US-Investoren verkauft (zeit.de, 12. März 2009). In einem zweiten Artikel zum Phänomen Cross-Border-Leasing stellt Roland Kirbach fest, dass in der Sache kein Staatsanwalt ermittelt. Und dass die Städte “mit den Banken um Zinsen gewettet” haben.

6. “Das Internet befindet sich am Scheideweg”

(youtube.com, Video, 6:40 Minuten)

Schon einige Zeit online, aber weitgehend unbeachtet. Dabei könnte aus elektronischer Musik und der Stimme von Zeit-Feuilletonchef Jens Jessen ein neuer Club-Hit entstehen. Der dem Remix zugrunde liegende Videoblogeintrag erschien am 29. Mai 2009 auf zeit.de.

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