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Rücksicht – keiner hat das Wort gekannt

Mit “Stylebook” (“Powered by Bild.de”) versucht die Axel Springer AG, am Erfolg von Fashionblogs und Modewebsites teilzuhaben. Die Verlinkungen auf der Startseite von Bild.de dürften ordentlich Klicks bringen, zum Beispiel bei dieser Geschichte:

Iris, die elfjährige Tochter von Schauspieler Jude Law (39) und Sadie Frost (46), sorgte jetzt auf der Londoner Fashion Week für Entsetzen. Grund: Zu einer Show trug sie ein Kleid mit makaberen Sprüchen: “fall tot um”, “trink Gift”, “iss Schei***”. Mama Frost will von nichts gewusst haben, obwohl sie daneben saß.

Den Eltern des Kindes war das offenbar sehr unangenehm:

Iris’ Mutter, Schauspielerin Sadie Frost, schien nicht bemerkt zu haben, was für ein Kleid ihre Tochter anhatte. Sie twitterte:

“Ich scheine Leute aufgeregt zu haben. Ich bin selbst schockiert über das Kleid, das Iris trug. Es war ein Geschenk.”

Und:

Auch Iris’ Vater, Schauspieler Jude Law (39), reagierte. Laut “Daily Mail” soll er die Zeitung gebeten haben, in ihrer Berichterstattung Rücksicht zu nehmen. Er soll gebeten haben, Iris’ Gesicht auf den Fotos, auf denen sie das entsprechende Kleid trägt, zu pixeln. Die Zeitung kam der Aufforderung nach.

Tatsächlich hat die “Daily Mail” ihrer Berichterstattung folgenden Hinweis vorausgestellt:

HINWEIS: Es ist nicht die übliche Verfahrensweise von MailOnline, die Gesichter von Prominentenkindern zu anonymisieren, wenn diese in Begleitung ihrer Eltern öffentliche Veranstaltungen besuchen, wo sie erwarten müssen, fotografiert zu werden, wie etwa in der ersten Reihe bei einer Modenschau.

Trotzdem haben wir uns entschieden, Iris Laws Gesicht zu verpixeln, angesichts der für ein junges Mädchen peinlichen Art des Vorfalls, wir folgen damit einer höflichen Anfrage ihres Vaters, Jude Law.

(Übersetzung von uns.)

Aber das ist die “Daily Mail” in England.

Bei Axel Springer hingegen:

Keine Verpixelungen.

(Überschriftenerklärung.)

Mit Dank an Simon, Daniel, Anticlimbpaint und Leo.

Nachtrag, 18.45 Uhr: “Stylebook” hat die Fotos verpixelt und folgenden Hinweis in den Artikel eingefügt:

(Nachtrag der Redaktion, 16.30 Uhr: Sorry, lieber Jude Law, das ist uns zunächst durch die Lappen gegangen. Deiner Bitte kommen wir natürlich auch nach.)

Die Lümmel von der Bank

Es sieht nicht so aus, als ob sie sich bei “Welt Online” überhaupt Gedanken darüber hätten, ob sie die Angeklagten, die da im Ausland vor Gericht standen, anonymisieren sollten: Das Aufmacherfoto zeigt den Hauptangeklagten “beim Verlassen des Gerichts” bzw. beim nicht wirklich geglückten Versuch, sein Gesicht vor den Kameras zu verbergen. Unter dem Foto steht sein Name, der im Artikel noch weitere Male auftaucht, ebenso wie sein ehemaliger Arbeitgeber, sein Alter und die Namen, Altersangaben und Berufe der Mitangeklagten.

“Welt Online” schrieb im vergangenen August nicht über ein brutales Kapitalverbrechen, wo das Medium die identifizierende Berichterstattung noch mit dem immensen “öffentlichen Interesse” an dem Fall hätte rechtfertigen können, sondern über einen vergleichsweise unspektakulären Fall von “white collar crime” — Wirtschaftskriminalität, über die kaum ein anderes deutschsprachiges Medium berichtet hat.

Ein Leser des Artikels beschwerte sich beim Deutschen Presserat über die identifizierende Berichterstattung. Die Chefredaktion von “Welt Online” erklärte in ihrer Stellungnahme, “dass die Berichterstattung nicht die Intim-, Geheim- und Privatsphäre berühre, sondern allein die Sphären des Wirtschafts- und Berufslebens”. Die Berichterstattung betreffe “ausschließlich die Sozialsphäre”, in der das Persönlichkeitsrecht hinter dem Berichterstattungsinteresse der Öffentlichkeit (außer in Ausnahmefällen) zurückstehen müsse.

Die “Maßnahmen” des Presserates:

Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:

  • einen Hinweis
  • eine Missbilligung
  • eine Rüge.

Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.

Der Beschwerdeausschuss wollte sich dieser Meinung nicht anschließen: Zwar bestehe “ohne Zweifel” ein öffentliches Interesse daran, über die im Ausland erhobenen Vorwürfe gegen eine Frau und einen Mann aus Deutschland zu berichten. Im konkreten Fall finde die Berichterstattung jedoch ihre Grenzen in den Persönlichkeitsrechten der Angeklagten. Zur vollständigen und verständlichen Unterrichtung der Öffentlichkeit über die im Raum stehenden Vorwürfe seien die identifizierende Abbildung des Mannes und die Erwähnung beider Namen nicht notwendig gewesen. Mit Blick auf die Sozialsphäre und das persönliche Umfeld, welches die Angeklagten in Deutschland hätten, hätte “Welt Online” anonymisiert berichten müssen.

Insgesamt sah der Presserat den Verstoß gegen Ziffer 8 des Pressekodex durch “Welt Online” als so schwerwiegend an, dass er eine “Missbilligung” (s. Kasten) aussprach.

24. Dezember

Und – zack! – ist auch schon der 24. Dezember da. Der Heilige Abend, der Beginn des Weihnachtsfestes und das Ende unseres BILDblog-Adventskalenders 2011.

Zur Feier des Tages schmeißen wir ‘ne Runde:

BILDblog vom 24. Dezember 2011

Wie in den vergangenen Jahren auch, halten wir jetzt Winterschlaf.

Wir danken für die Aufmerksamkeit, die Mitarbeit und das Interesse und wünschen allen Lesern ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr!

Wir sehen uns im Januar 2012.

Mit Dank für die sachdienlichen Hinweise des Jahres 2011 an Achim S., Albrecht K., Alex A., Alexander B., Alexander H., altautonomer, Amelie, Amon T., Andi, Andi, Andre P., Andre S., André, Andreas G., Andreas K., Andreas L., Andreas N., Andreas R., Andreas Sch., Andreas T., Andreas, Anne, Anonym, Anonymous, Ares, Arne M., Arne P., Arno, Autoresponder, Axel Sch., B.W., Basti, Bastian B., Bastian K., Bastian, Bene, Benedikt, Benjamin M., Benjamin S., Benjamin T., Bernd A., Bernd H., Bernhard W., Bertolt, Birgit H., BJ, Bjoern S., Björn Sch., Björn, bono, Boris, Brainfucker, Bruder B., C., C.W., CaOs., Carapinha, Carsten B., Carsten H., Carsten Z., Cat D., Christian G., Christian H., Christian M., Christian N., Christian P., Christian S., Christian, Christiane P., Christina H., Christof K., Christoph A., Christoph E., Christoph G., Christoph S., Christoph T., Christoph W., Christoph, Clemens B., Clemens W., Conny S., Cornelius, D.N., Dan, Dani E., Daniel B., Daniel F., Daniel G., Daniel H., Daniel K., Daniel M., Daniel W., Daniel, Daniela B., David D., David H., David K., David P., David R., David, Dennis H., Dennis R., Dennis S., Dennis, DerPhi, Diana B., Diekmann, Dieter, Dimitrios P., Dirk T., Dirk, DJ, Dominik B., Dominik B., Dominik H., Dr. Nötigenfalls, E.K., egal, Elias P., Erik G., Erkan A., Eva, Fabian R., Fal H., Falke,Flo M., Flo, Florian B., Florian S., Frank H., Frank M., Frank Sch., Frank, Franky H., Frederik Sch., FreSch, Gabriel W., Gert M., Giovanni, H.K., H.N., Hainz M.,Hannes, Hanno B., Hans E., Hans K., Hans P., Hauke H., Heinz M., Helga B., Hendrik G., Hendrik, Henman, Henning, Henry W., Holger K., Horst B., Horst M., Horst W., I.M., Icke, Ilonka L., Irgendwer555, Ivo B., Jaanus, Jakob B., Jakob V., Jakob, Jan C., Jan D., Jan G., Jan H., Jan S., Jan T., Jan-Christoph K., Jan, Jan, Janek W., Janine K., Jens D., Jens G., Jens L., Jens Sch., Jens W., Jens, JJZ, Jo A., Joachim K., Joachim L., Jochen H., Joe, Johannes G., Johannes K., Johannes, John Doe, Jojo, Jonas I., Jonas, Jonathan O.,Jörg A., Jörg E., Jörg S., Josef N., Josef Sch., josspam, Juli, Julia M., Julian H., ,Jürgen H., Jürgen L., Jürgen N., Juri S., Kai H., Kai, Karl H., Karsten, Katharina, Kathrin G., Katrin Sch., Kevin R., KiB, Kieler, Kiki W., Klaus M., Klaus Sch., Konstantin K., Krischn, Kritiker123, Lars B., Lars H., Lars L., Lecra, Leo, Leo, Lieven R., Lina, Lothar Sch., Lothar Z., Lothar, Low87, Lukas K., Lukas M., Lukas, Lutz K., M. Sch., M.K., Machete04, Magnus G., Maik H., Marc, Marcel G., Marco G., Marco L., Marco S., Marco, Marcus M., Marcus W., Mareike H., Maria M., Mark K., Markus K., Markus L., Markus M., Markus S., Markus Sch., Markus T., Martin D., Martin E., Martin G., Martin H., Martin L., Martin R., Martin S., Martin Sch., Martin T., Martina Y., Matthias B., Matthias K., Matthias L., Matthias M., Matthias Sch., Matthias T., Matthias U., Matti, Maximilian K., Maximilian, MB, MCalavera, Michael B., Michael H., Michael H., Michael K., Michael L., Michael M., Michael R., Michael W., Michel V., Miguel T., miguel, Miguel, Mike W., Mithrandir, Moritz G., Moritz N., Moritz, Mr. X, Murry, Mutlu Y., Nico N., Nico S., Nicolas S., Nicole B., Nicole H., Niels, Niklas R., Nils K., Nils, noir, Nora T., Norbert E., Norbert P., Nordbergh, nothing, O. St., Oliver K., Patrick D., Patrick P., Patrick, Paul Z., Paulchen, Pekka R., Per K., Peter M., Peter S., Peter, Petra O., Petra S., Philip L., Philip Z., Philipp E., Philipp K., Philipp M., Philipp O., Philipp S., Philipp T., Philipp W., Ploegi, PM, Pottblogger, Ralf H., Ralf M., Raphael S., Rayko M., Rebecca, Reinhold, Rene W., Richard F., Richard S., Robert D., Robert L., Robert Sch., Robert W., Robin A., Roland W., Rolf M., Rolf, Roman S., Ronald F.,Ronald P., Rüdiger F., Sabine B., Sabrina T., Sanni, Sarah E., Sascha, Schreiberling, Sebastian A., Sebastian C., Sebastian K., Sebastian K., Sebastian L., Sebastian, Simon G., Simon G., Simon W., Simon, Simone, spot, spot, Stefan J., Stefan K., Stefan K., Stefan M., Stefan M., Stefan W., Stefan, Steffen F., Steffen K., Steffen M., Steffen S., Steffi, Stephan K., Stephan R., Stephan T., Stephan U., Stephanie H., stickytape, Sven G., Sven S., Svenja W., Takuro K., tharcel, Therese, Thomas A., Thomas B., Thomas D., Thomas F., Thomas G., Thomas H.,Thomas P., Thomas S., Thomas Sch., Thomas T., Thomas U., Thomas, Thorsten K., Till G., Tilman Sch., Tim G., Tim L., Tim W., Timo H., Timo Sch., Timo W., Timon S., Timon, Tino M., Tobias F., Tobias G., Tobias N., Tobias P., Tobias R., Tobias W., Tobias, Tom Z., Tom, Tomek, Torben I., Torben K., Torben S., Torsten B., Torsten B., Torsten R., Torsten S., Torsten, tuennes, Uwe R., V., Vincent M., Volker K., Webreporter, Widerspenst, Wolfgang, Yorrik B. — und alle anderen, auch die vielen, deren sachdienliche Hinweise wir nicht berücksichtigen konnten!

Lynchvorlage (2)

Im Juli hatte “Bild” groß über einen Mann berichtet, der ein siebenjähriges Mädchen in Thüringen sexuell missbraucht und getötet hatte. Im Rahmen ihrer Berichterstattung bezeichnete die Zeitung den geständigen mutmaßlichen Täter als “Schwein” und zitierte einen BKA-Beamten mit den Worten “Wenn er sich nicht selbst etwas antut, gäbe es im Knast genügend andere, die das gerne übernehmen würden.”

Wie um es den genügend Anderen im Knast einfacher zu machen, hatte “Bild” den Fall mit einem großen, unverfremdeten Foto des Mannes illustriert (BILDblog berichtete):

Das ist Mary-Janes Mörder: Er hat sie missbraucht, gewürgt und warf sie lebend in den Bach

Wir haben uns beim Deutschen Presserat über die Berichterstattung von “Bild” und Bild.de beschwert. Wie in solchen Fällen üblich nahm die Abteilung Verlagsrecht der Axel Springer AG dazu Stellung und erklärte unter anderem, es entspräche der ständigen Spruchpraxis des Deutschen Presserats, dass bei vorliegendem Geständnis auch identifizierend über Tatverdächtige berichtet werden dürfe. (Der Presserat merkt dazu an, dass sich das Justiziariat dabei “auf den einzigen Fall mit diesem Tenor” berufe.)

Die Bezeichnung “Schwein” drücke nach Ansicht der Axel Springer AG aus, was der “weitaus überwiegende Teil der Bevölkerung” über den Mann und die ihm zur Last gelegten Taten denke. Wer das Vertrauen und die Unterlegenheit eines Kindes ausnutze, um es sexuell zu misshandeln und es dann qualvoll umzubringen, sei nach herrschender Ansicht als “Schwein” zu bezeichnen. Auch die Einordnung als “beruflich und privat ein ewiger Verlierer” sei zulässig, da der mutmaßliche Täter sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich sein Leben nicht “auf die Reihe” bekommen habe, wie der Verlag weiter ausführte.

Den Abdruck des Fotos rechtfertigten die Springer-Juristen so:

Schon die Tatsache, dass jemand ein siebenjähriges Mädchen sexuell misshandele und sie danach ermorde, sei so außergewöhnlich, dass damit eine Fotoveröffentlichung gegen den Willen des Abgebildeten gerechtfertigt sei. Ein Großteil der deutschen Tagespresse haben über den Fall Mary-Jane berichtet.

Auszüge aus dem Pressekodex:

Ziffer 8 – Persönlichkeitsrechte

Die Presse achtet das Privatleben und die Intimsphäre des Menschen. Berührt jedoch das private Verhalten öffentliche Interessen, so kann es im Einzelfall in der Presse erörtert werden. Dabei ist zu prüfen, ob durch eine Veröffentlichung Persönlichkeitsrechte Unbeteiligter verletzt werden. Die Presse achtet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und gewährleistet den redaktionellen Datenschutz.

Richtlinie 8.1 – Nennung von Namen/Abbildungen

(1) Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle, Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren (s. auch Ziffer 13 des Pressekodex) veröffentlicht die Presse in der Regel keine Informationen in Wort und Bild, die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden. Mit Rücksicht auf ihre Zukunft genießen Kinder und Jugendliche einen besonderen Schutz. Immer ist zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abzuwägen. Sensationsbedürfnisse allein können ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht begründen.

Der Beschwerdeausschuss des Deutschen Presserats ließ sich von dieser Begründung nicht beeindrucken und kam zu der Überzeugung, dass die Beiträge von “Bild” und Bild.de die Persönlichkeitsrechte des Abgebildeten verletzten und damit gegen Ziffer 8 in Verbindung mit Richtlinie 8.1 (s. Kasten) des Pressekodex verstoße.

Die identifizierbare Abbildung des Täters ist aus Sicht des Beschwerdeausschusses “ethisch nicht vertretbar”. Ein Tatverdächtiger könne ausnahmsweise abgebildet werden, wenn dies im Interesse der Verbrechensaufklärung liege oder wenn das Verbrechen unter den Augen der Öffentlichkeit begangen werde. Eine solche Ausnahme sei im konkreten Fall aber nicht gegeben, “Bild” hätte auch ohne Abbildung der Person oder mit ausreichend unkenntlich gemachten Bildern umfassend über den Fall berichten können.

Einen Verstoß gegen Ziffer 1 des Pressekodex, die zur Achtung der Menschenwürde mahnt, konnte der Beschwerdeausschuss jedoch nicht feststellen. Durch die Verwendung der Bezeichnung “Schwein” werde deutlich, “dass die Tat von der Redaktion als Schweinerei verstanden werde”. Sie bringe mit “bildhafter Sprache” eine zulässige Bewertung zum Ausdruck.

Die “Maßnahmen” des Presserates:

Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:

  • einen Hinweis
  • eine Missbilligung
  • eine Rüge.

Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.

Die letzten Ausführungen sind bemerkenswert, hatte der Presserat den Begriff “Schwein” (anders als etwa den Begriff “Bestie”) oder “Dreckschwein” doch bisher meist als Verletzung der Menschenwürde angesehen.

Insgesamt wertete der Beschwerdeausschuss den Verstoß gegen Ziffer 8 aber als so schwerwiegend, dass er eine “Missbilligung” aussprach (s. Kasten). Nach § 15 Beschwerdeordnung besteht zwar keine Pflicht, Missbilligungen zu veröffentlichen. Als Ausdruck fairer Berichterstattung “empfiehlt” der Beschwerdeausschuss jedoch die Veröffentlichung.

Bild, Bild.de  etc.

Wo die wilden Kerle wohnen

Neben Euro-Rettung, Randalen in Griechenland, der Tochter von Nicolas Sarkozy und Carla Bruni und dem Tod von Muammar al-Gaddafi trieb “Bild” und Bild.de diese Woche vor allem eine Frage um:

Kannibalen-Insel: Fraß dieser Jäger den deutschen Urlauber?

Der Fall des deutschen Abenteurers Stefan R., der in Französisch-Polynesien verschwunden war, inspirierte die Reporter dazu, jahrhundertealte Horrorgeschichten zu entstauben und neu aufzukochen.

Sebastian Brauns, freier Journalist aus Konstanz, hat sich die Geschichte und ihre Hintergründe für uns angesehen und einen Gastbeitrag verfasst:

Wir danken auch den vielen Lesern, die uns über die letzten Tage mit sachdienlichen Hinweisen zu dem Fall versorgt haben!

  

Gefundenes Fressen

— Ein Gastbeitrag von Sebastian Brauns

Aus dem Schicksal eines deutschen Urlaubers in Französisch Polynesien kochen Zeitungen aus aller Welt genüsslich ein Kannibalen-Süppchen. Im deutschen Raum ist besonders das Vorgehen von “Bild” ein Musterbeispiel an Sensationsgier, Geschmacklosigkeit und Perfidie.

Kannibalen-Insel: Fraß dieser Jäger den deutschen Urlauber?

“Bild” und Bild.de verbreiten dabei rassistisch geprägte Vorurteile gegenüber Bevölkerungsgruppen, die bereits im Zeitalter des Kolonialismus mit Hilfe perverser Klischees von Europäern unterdrückt, ausgebeutet und getötet wurden.

Ein kleiner Satz am Ende der ersten Meldung bei Bild.de am 14. Oktober bringt den Stein ins Rollen:

Französisch-Polynesien liegt im Pazifik, die bekannteste Insel ist Tahiti. In Französisch-Polynesien war Kannibalismus einst sehr verbreitet.

Obwohl die Ermittler noch völlig im Dunkeln tappen, kreiert Bild.de aus verbrannten menschlichen und tierischen Überresten auf einer Marquesas-Insel mitten im Pazifik und den Aussagen der verstörten Freundin des verschollenen deutschen Weltumseglers Stefan R. eine große Kannibalen-Story. Dabei ist die Schlussfolgerung rein logisch schon recht hanebüchen: Ein Feuer, Tierkadaver und eine menschliche Leiche sprechen ja eher nicht für Kannibalismus, sondern eher für den Versuch, die Spuren eines Verbrechens zu kaschieren bzw. restlos zu beseitigen.

Doch wie kommt Bild.de überhaupt auf die Kannibalismus-Idee? Romanautoren, Abenteurer und Kaufleute haben vor hunderten von Jahren von Kannibalen in der Südsee, der Karibik und Schwarzafrika geschrieben, die sie angeblich gesehen haben wollen. Für die Marquesas-Inseln waren das etwa der Abenteuer-Roman-Autor Herman Melville (“Moby Dick”) und der belgische Kaumann Jacques-Antoine Moerenhout. Handfeste Beweise wurden jedoch nie erbracht.

Erwiesen ist hingegen, dass die Entdecker der neuen Welt und deren Nachhut ihre Grusel-Erzählungen in Gestalt von sogenannter “Transamericana-Literatur” gewinnbringend auf dem europäischen Buchmarkt verkauft haben. Außerdem wurden die gewaltsame Kolonialisierung und Christianisierung durch die Europäer mit einer notwendigen Zivilisierung der “Wilden” gerechtfertigt. Neben Kannibalen wurde auch von zahlreichen anderen Fabelwesen, wie Amazonen oder Seeungeheuer berichtet, an die heute keiner mehr glaubt. Der noch aus der Antike stammende Mythos des Kannibalen hält sich jedoch hartnäckig, weil er im Bereich des unvorstellbar Vorstellbaren liegt.

“Bild” behauptet, die Polizei auf der Insel Nuku Hiva befürchte einen Kannibalen-Mord. In Wirklichkeit scheint es jedoch der Wille von “Bild” zu sein, einen Mord mit der Menschenfresserei zu verbinden:

WURDE DER DEUTSCHE ABENTEURER VON KANNIBALEN ERMORDET?

Die Polizei auf den Marquesas-Inseln (gehört zu Französisch Polynesien) befürchtet genau das!

Noch einmal wird die Gefahr vor etwaigen Kannibalen beschworen:

Die Staatsanwaltschaft ermittelt jetzt wegen Mordes. Beängstigend: In der Vergangenheit berichteten Forscher und Seefahrer immer wieder über Kannibalen auf den Marquesas-Inseln!

Namentlich nicht genannte Forscher und Seefahrer aus der “Vergangenheit” bleiben also weiterhin die einzigen Referenzen, die “Bild” zur Kannibalismus-These vorweisen kann.

Unterdessen hat Bild.de einiges über den mutmaßlichen Mörder des Abenteurers (bzw. für “Bild” natürlich den “mutmaßlichen Kannibalen”) in Erfahrung gebracht. Das Online-Portal nennt seinen Namen, zeigt sein Bild und berichtet, der Mann sei tätowiert, trage eine Sonnenbrille und habe ein freundliches Lächeln. Die “bange Frage” von Bild.de lautet nicht etwa: “Lebt Stefan R. noch?”, sondern “Ist er Kannibale und hat er sein Opfer gegessen?” und “Grinst uns hier ein Kannibale an?”

Weil sich keine Behörde finden lässt, welche die Kannibalismus-These von “Bild” und Bild.de bestätigen will, holen sich die Autoren stattdessen einen “Tattoo-Experten”: Den Betreiber eines Tattoo-Studios in Minden, der das Tattoo des “mutmaßlichen Kannibalen” erklären soll. Und der ist sich ganz sicher: “Es zeigt einen Kaioi-Krieger in seinem Kanu.”

“Bild” ergänzt:

Die Kaioi waren dafür bekannt, ihre Kriegsgegner zu fressen.

Doch “Bild” will sich nicht nur auf diese Expertise stützen und hat deshalb an deutschen Universitäten herum telefoniert, um der Frage nachzugehen:

Gibt es auf der Todesinsel noch heute Kannibalen?

Die Zeichnung entstammt dem französischen Abenteuer-Magazin “Journal des Voyages” aus dem Jahr 1878 und soll suggerieren: So war es damals und so könnte es auch heute wieder geschehen sein. “Menschenfresser verspeisen einen Seemann“.

Derartige Hefte sind zwar historische Quellen, aber mit deutlicher Vorsicht zu genießen. Sie geben lediglich Auskunft darüber, wie die “Neue Welt” aus europäischer Sicht beschaffen war. “Bild” knüpft nahtlos an dieses koloniale Weltbild an: Europäische Zivilisation und Fortschritt gegen niedere, triebhafte Wilde.

“Bild” versucht, die eigene antiquierte Weltsicht zu untermauern, indem sie zwei Wissenschaftler der Gegenwart zu Wort kommen lässt. Zuerst der “Kannibalismus-Experte” Dr. Gundolf Krüger:

“Eigentlich sind die Einwohner Polynesiens heute zum Großteil christianisiert und alphabetisiert und damit ein frommes und gebildetes Volk”, erklärt Kannibalismus-Experte Dr. Gundolf Krüger (61). Für ihn klingt der Tod des Deutschen nach einem wahnsinnigen Einzeltäter. Krüger: “Kannibalismus liegt außerhalb jeder Norm. Aber es ist gut möglich, dass sich der Täter von alten Ritualen leiten ließ.” So war es Tradition der “Kaioi” (Krieger), Feinde zu enthaupten und von ihren Extremitäten zu kosten. “Um sich ihr Mana, ihre Lebenskraft, einzuverleiben. Es ging aber nie um den Genuss des Fleisches”, erklärt Krüger.

Auf Anfrage von uns erklärt Krüger, “Bild” habe ihn in einer völlig falschen Weise wiedergegeben: Er habe dem Anrufer vom Axel-Springer-Verlag sehr differenziert erläutert, dass es außer literarischen Zeugnissen von Melville und der späteren Trivial-Literatur keine Beweise für Kannibalismus auf den Marquesas gebe. Außerdem habe er darauf hingewiesen, dass man bei diesem Thema sehr behutsam und mit größter Vorsicht vorgehen müsse.

Dr. Gundolf Krüger hat per E-Mail insgesamt drei Zitate freigegeben, die jedoch nie erschienen. “Ich bin im übrigen kein Kannibalismus-Experte, sondern Ethnologe mit dem Fachgebiet Ozeanien”, stellt Krüger klar.

Immerhin kommt dann die ausgewiesene Kannibalismus-Skeptikerin Annerose Menninger zu Wort, die “Bild” als Ethnologin bezeichnet, die aber eigentlich als Historikerin an der Bundeswehruniversität München lehrt:

Ethnologin Prof. Annerose Menninger (50) beschreibt ein anderes Ritual: “Es muss nicht sein, dass Stefan R. verspeist wurde. Möglicherweise ist das Opfer verunglückt und bei der Zeremonie am Feuer handelte es sich um ein Bestattungsritual, mit dem der angebliche Täter den Toten noch ehrte.”

Die als Gegenspielerin von Dr. Krüger aufgebaute Privatdozentin Menninger ist Spezialistin für die Frühe Neuzeit der Karibik, nicht für die Südsee und schon gar nicht für den aktuellen Fall. Sie erklärt uns auf Anfrage: “Ich ärgere mich sehr, dass Bild mich so zitiert, bzw. meine Argumentation kontextentfremdet – und dabei auch noch haarsträubend unlogisch wiedergegeben hat. Im Gegensatz zu Herrn Dr. Krüger habe ich nicht einmal Zitate freigegeben.” Die renommierte Dozentin berichtet, sie müsse sich seit der Veröffentlichung in “Bild” mit dem Unverständnis ihrer Fachkollegen herumschlagen.

Besser ergeht es da den Experten, die in einem anderen Artikel zu Rate gezogen werden: Sie haben einfach keine Namen.

Experten vermuten, dass einige nur deshalb sterben mussten, weil die Kannibalen Lust auf Menschenfleisch hatten. Das letzte bekannte Opfer auf Nuku Hiva soll ein etwa zehnjähriges Mädchen gewesen sein, das 1924 verspeist wurde. Jetzt offenbar ein neuer, schockierender Kannibalismus-Mord – ist Jäger (…) dem Todes-Kult verfallen, ein perverser Mörder, was steckt hinter dem Verbrechen?

Medien aus der ganzen Welt, vor allem aber aus Deutschland und Großbritannien, widmen sich der Geschichte, meist völlig undifferenziert. Am weitesten geht der Korrespondent des “Tagesspiegels” und der “Potsdamer Neuesten Nachrichten”, Alexander Hofmann. Keine Behörde hat den Kannibalismus bestätigt, aber:

Behörden bestätigen Kannibalismus

(Im Online-Auftritt des “Tagesspiegels” wurde die Überschrift inzwischen deutlich abgeschwächt. Dort lautet sie nun: “Deutscher von Kannibalen verspeist?”)

Die einheimische Bevölkerung und der mit den Ermittlungen betraute Staatsanwalt José Thorel versuchen unterdessen gegen diese diskriminierende Berichterstattung anzukämpfen:

“Kannibalismus, darüber will ich nichts hören. Das ist Wahnsinn. Ich sehe keine andere Grundlage, auf der wir von Kannibalismus sprechen könnten.

Für mich ist das kein Thema. Kannibalismus stand nie zur Debatte und ich verstehe nicht, wie die Presse dieses Thema so behandeln konnte.”

(Übersetzung von uns.)

“Survival International – Die Bewegung für indigene Völker” hat wegen der “beleidigenden und haarsträubenden” Berichte über Kannibalismus an einem deutschen Touristen im Südpazifik Beschwerde beim Presserat in Großbritannien eingereicht und zitiert dazu Benny Wenda, ein Mitglied der Ethnie der Lani in Papua:

Wir haben genug von diesen Geschichten. Sie beschreiben uns immer noch als Kannibalen, weil sie denken wir wären Wilde. Es ist als ob man Deutsche heute wegen ihrer Geschichte als Nazis bezeichnen würde. Oder Großbritannien ein Land nennen würde, in dem Hexen an Pfählen verbrannt, Kinder versklavt und Menschen öffentlich exekutiert werden. Es ist verrückter, rassistischer Journalismus.

Bild.de hingegen versucht im Umkehrschluss, den Staatsanwalt bloßzustellen: Hier wird José Thorel als “Südsee-Staatsanwalt”, der abwiegeln würde, bezeichnet. Bild.de unterstellt dem Staatsanwalt, er sei “besorgt um den Ruf der Insel”.

Munter setzt Bild.de den mutmaßlichen Mord mit Kannibalismus gleich:

Auch der Staatsanwalt kann den schlimmen Verdacht nicht aus der Welt räumen. “Es ist wahr, dass wir Fleischstücke im Feuer gefunden haben. Die gefundenen Zähne stammen mit hoher Wahrscheinlichkeit von Stefan R.”, sagte Thorel.

Es bleibt also dabei: Bild.de meint, von einem verbrannten Körper auf einen kannibalistischen Akt schließen zu können.

Auch nachdem die trauernde Familie von Stefan R. dessen Tod auf seiner Homepage bekannt gegeben hat, gibt sich Bild.de nicht zufrieden, sondern stellt die mittlerweile fünf Tage alte, “furchtbare” Frage:

Die furchtbare Frage: Hat ein Kannibale den deutschen Weltumsegler getötet und Teile von ihm gegessen?

Dass diese Frage vornehmlich von westeuropäischen Medien gestellt wurde, verschweigt Bild.de elegant — es reden ja eh “alle” davon:

Seit dem Verschwinden des Urlaubers steht die Insel unter Schock. Der Täter ist auf der Flucht, und alle treibt die Frage um: Ist er wirklich ein Menschenfresser?

Als Bild.de heute von der DNA-Analyse berichtet, die ergeben hat, dass die Knochenreste und Zähne, die an einer Feuerstelle gefunden wurden, tatsächlich von Stefan R. stammen, da taucht der Kannibalismus-Vorwurf plötzlich mit keinem Wort mehr auf.

Sebastian Brauns ist freier Journalist. Im März dieses Jahres hat er für die “Zeit” über Kannibalismus-Mythen geschrieben.

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It really does not work

Dass die “Gewinner/Verlierer”-Rubrik in “Bild” nicht sehr faktenorientiert ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen.

Das ist heute nicht anders:

Fiese Attacke auf CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl (67): Internet-Hacker knackten gestern die Homepage des Politikers, legten die Adresse "uhl-csu.​de" für Stunden lahm, löschten alle Daten und verhöhnten ihn noch. Denn wenn man die kaputte Seite anklickte, erschien der böse Spruch "it works" – es funktioniert.  BILD meint: Pechvogel!

Dass “it works” – zu deutsch: “es funktioniert” – ein “böser Spruch” sein soll, hätte die Redakteure eigentlich misstrauisch machen müssen. Hätten sie dann noch auf Bild.de nachrecherchiert – ein Vorgehen, von dem wir sonst ausdrücklich abraten – hätten sie neben einem Screenshot der gehackten Homepage Uhls auch die Erklärung für die merkwürdige Kurzbotschaft gefunden:

Trotzdem ist auf der Webseite momentan nicht mehr zu sehen als der Satz "It Works" (engl. für "Es läuft").  Diesen Satz gibt ein Webserver nach der Neuinstallation aus, wenn alles funktioniert.

Mit Dank an Hanno B. und C.

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Bubi ist bloß Bengel

Am 3. Oktober kürte “Bild” einhundert junge Deutsche, denen “die Zukunft gehört”. Darunter: Ein 16-jähriger Jungunternehmer aus Sachsen-Anhalt. Der “gründete mit 15 seine eigene Firma, entwickelt Marketing- und Medienkonzepte”.

Keine zehn Tage später kam die Ernüchterung:

Er heißt (…), ist ein 16-jähriger Bubi aus Sachsen-Anhalt – und wurde vor einem halben Jahr mit angeblichen Millionenumsätzen seiner eigenen Firma zum Topstar der Wirtschaftsbranche.

Bejubelt in Fachmagazinen und im TV, auch in BILD gefeiert als einer von 100 Deutschen, denen die Zukunft gehört.

Alles nur heiße Luft? Ist der Bengel ein Hochstapler? Der Staatsanwalt ermittelt gegen den 16-Jährigen!

Die Enttäuschung wich schnell Geschäftigkeit, denn mit vermeintlichen Hochstaplern kennt sich die Zeitung natürlich aus.

Die Leipziger Regionalausgabe machte sich also an die Dekonstruktion der Überflieger-Geschichte:

Deutschlands jüngster Unternehmer. Zwei Jahre lang hielt er offenbar jeden zum Narren. Jetzt fällt sein Kartenhaus Stück für Stück zusammen.

Dabei erfuhren die Reporter so einiges:

Oma bezahlte die Büromiete. Der Schuldirektor bescheinigt (…) “mangelhafte Noten” und “Versetzungsgefahr”. Selbst die Schwester des smarten Vorzeige-Unternehmers, die mal für ihn arbeitete, schimpft: “Lassen Sie mich bloß mit diesem Kerl in Ruhe…”

Eine “geprellte Mitschülerin” (“Langes dunkles Haar, feurige Augen und eine Model-Figur”) “packte aus”:

“Er wollte, dass ich ihn rumkutschiere, weil ich schon einen Führerschein hatte”, erzählt Camilla. Und fügt hinzu: “Er schikanierte mich die ganze Zeit. Ich musste seine Kameras und Taschen schleppen. Sollte an seiner Seite sein, damit er gut rüberkommt. Er träumte von einem eigenen Film.”

Vieles an der angeblichen Erfolgsgeschichte (74 Mitarbeiter, “6,93 Millionen Euro Gewinn bei rund 13 Millionen Euro Umsatz im deutschsprachigen Raum”) ist zweifelhaft: Es liegen keine Eintragungen in den zuständigen Handelsregistern vor und auf der Facebookseite des angeblichen Pressesprechers (neben besagtem Jungunternehmer weitere 20 Freunde) lächelt einen ein Foto aus einer Bilddatenbank an.

Auszüge aus dem Pressekodex:

Richtlinie 8.1 – Nennung von Namen/Abbildungen

(1) Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle, Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren (s. auch Ziffer 13 des Pressekodex) veröffentlicht die Presse in der Regel keine Informationen in Wort und Bild, die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden. Mit Rücksicht auf ihre Zukunft genießen Kinder und Jugendliche einen besonderen Schutz. Immer ist zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abzuwägen. Sensationsbedürfnisse allein können ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht begründen.

Richtlinie 8.4 – Erkrankungen

Körperliche und psychische Erkrankungen oder Schäden fallen grundsätzlich in die Geheimsphäre des Betroffenen. Mit Rücksicht auf ihn und seine Angehörigen soll die Presse in solchen Fällen auf Namensnennung und Bild verzichten und abwertende Bezeichnungen der Krankheit oder der Krankenanstalt, auch wenn sie im Volksmund anzutreffen sind, vermeiden. Auch Personen der Zeitgeschichte genießen über den Tod hinaus den Schutz vor diskriminierenden Enthüllungen.

Aber auch wenn alle jetzt erhobenen Vorwürfe gegen den Jungunternehmer zutreffen sollten, dürfte “Bild” nicht bei voller Namensnennung und Abbildung über ihn berichten — der Pressekodex sieht für jugendliche Verbrecher einen “besonderen Schutz” vor (s. Kasten).

Doch die Berichterstattung wird noch schwerwiegender:

Vom gefeierten Jungstar der Wirtschaftswelt zum Fall für den Psychiater!

[…] (16) aus Zerbst hält seit zwei Jahren als Unternehmer jeden zum Narren. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den Teenager. Nun soll ein Gerichtspsychiater den Gymnasiasten untersuchen, ob dieser vielleicht psychisch krank ist.

Sollte der junge Mann tatsächlich psychisch krank sein, hätte “Bild” noch weniger Rechte, derart über seinen Fall zu berichten (s. Kasten).

Aber nicht nur das:

Wie tickt ein Mensch, der in einer Scheinwelt lebt? Psychologe Thomas Kasten (47) erklärt: “Das deutet auf eine multiple Persönlichkeitsstörung hin. Liegt hier auch ein krankhafter Hang zum Lügen vor, spricht man vom Münchhausen-Syndrom.”

Das Münchhausen-Syndrom ist, wie es Wikipedia formuliert, “eine psychische Störung, bei der die Betroffenen körperliche Beschwerden erfinden bzw. selbst hervorrufen und meist plausibel und dramatisch präsentieren.” Aufmerksame Zuschauer der TV-Serie “Dr. House” könnten das wissen, ein Psychologe sollte es tun.

Wir haben bei Thomas Kasten angefragt, ob “Bild” ihn richtig zitiert hat, haben aber bislang keine Antwort erhalten.

Mit Dank an Ares, Frank und Björn.

Kochrezepte für den Suizid

Journalisten scheinen ziemlich morbide Menschen zu sein. Jedenfalls gibt es kaum ein Thema, an dem sie sich so sehr weiden können, wie an Selbsttötungen anderer Menschen. Da wird gezeigt, wie es aussieht, wenn eine Frau an den Ort kommt, an dem sich ihr Mann gerade das Leben genommen hat; da wird den jugendlichen Lesern erzählt, wie es (mutmaßlich) war, als sich eine 15-Jährige erhängte, “weil sie zu hübsch war”, und da wird generell alles getan, um Nachahmungstaten anzustacheln, die eine öffentliche Zurschaustellung von Selbstmorden erwiesenermaßen nach sich zieht.

Doch die echte Gefahr lauert nicht bei verantwortungslosen Journalisten in Fernseh- und Zeitungsredaktionen, die echte Gefahr lauert – natürlich – im Internet. Dort gibt es “ein Problem, bei dem staatliche Kontrolle an ihre Grenzen stößt”, wie die “Spiegel TV”-Moderatorin Maria Gresz im ihr eigenen staatstragenden Domina-Tonfall erklärt. In zahlreichen Selbstmordforen würden Ratschläge angeboten, “die in ihrer Ausführlichkeit an Bedienungsanleitungen erinnern”.

Vorwand für den nun folgenden Beitrag ist die Geschichte dreier junger Frauen, die sich über das Internet kennengelernt und zum gemeinsamen Suizid verabredet hatten. Der Fall in Niedersachsen hatte bundesweit für Schlagzeilen gesorgt — auch, weil die Polizei “ungewöhnlich ausführlich” über die Selbsttötungen informiert hatte, wie das NDR-Medienmagazin “Zapp” im August berichtet hatte.

Nun also “Spiegel TV”. Das RTL-Boulevardmagazin, produziert von der TV-Tochter des Nachrichtenmagazins “Der Spiegel”, hat die Mutter von Stefanie besucht, einem der drei Mädchen. “Spiegel TV” zeigt Bilder von der Trauerfeier, Bilder von der Stelle im Wald, an der sich die Drei töteten, und Bilder von der Mutter, die bei der Polizei abholen “darf”, “was ihre Tochter am Todestag bei sich trug”. Die Frau schüttelt den Kopf und murmelt, es seien so viele Fragen offen. “Welche”, fragt die Reporterin von außerhalb des Bildes und dann formuliert diese um Fassung ringende Frau ihre offenen Fragen für die Reporter und Zuschauer von “Spiegel TV” noch einmal aus: “Warum? Einfach nur warum?”

Eine ehemalige Mitschülerin zeigt den Reportern ein Kinderfoto von Stefanie — dabei haben die bei der Mutter doch längst eine viel ergiebigere Quelle aufgetan: Vor laufender Kamera blättert die Mutter in Stefanies Tagebuch, aus dem die Off-Sprecherin dann die vermeintlich todessehnsüchtigsten Sätze der damals 14-Jährigen zitiert, begleitet von dramatischer Musik.

Und dann zeigt “Spiegel TV”, wo man sich diese “Ratschläge, die in ihrer Ausführlichkeit an Bedienungsanleitungen erinnern”, holen kann:

Nur noch mal zum Mitdenken: Da gibt es also ein Forum, in dem ungehindert über die besten Methoden diskutiert wird, um aus dem Leben zu scheiden, und “Spiegel TV” hält es für eine Spitzenidee, dieses Forum mit bildschirmfüllender Internetadresse vor 2,3 Millionen Fernsehzuschauern nachgerade zu bewerben.

Man muss wohl Mitarbeiter von “Spiegel TV” sein, um dann folgende Überleitung zu ersinnen oder zu verstehen: “Ein ähnliches Internetforum betreibt auch Rebekka von Fintel. Diskussionen über Suizidmethoden sind hier jedoch verboten — wer konkrete Pläne äußert, wird sofort kontaktiert.”

Doch zurück zum Internetforum, in dem “Selbstmordmethoden aller Art” diskutiert werden, “wie andernorts Kochrezepte”:

Die Off-Sprecherin erklärt: “Ein perfider Plan, den Stefanie tatsächlich umsetzt: Sie kauft sich ein Zelt, baut es probehalber in ihrem Zimmer auf und macht ein Foto davon.” Und weil es dieses Foto gibt, muss “Spiegel TV” es natürlich zeigen.

Die Familie des zweiten Opfers war offensichtlich nicht so kooperationsbereit wie die von Stefanie. Macht nichts, dann zeigt “Spiegel TV” halt ein anonymisiertes Foto und filmt ein bisschen auf Facebook herum.

Der Taxifahrer, der die drei Mädchen in dem Glauben gefahren hatte, dass sie Zelten wollten, erzählt, den Dreien seien ihre Pläne nicht anzumerken gewesen. “Spiegel TV” zeigt ein paar Bäume und nennt den Namen der Ortschaft, zu dem der Wald gehört, in dem die Mädchen “die Anleitungen aus dem Internet” “minutiös ausgeführt” haben. Wie minutiös, das erklärt ein Polizist noch einmal minutiös. Wie andernorts Kochrezepte halt.

Mit melodramatischer Musik und den Worten, den Angehörigen bleibe nur die Trauer und absolute Ratlosigkeit, endet der Beitrag. Maria Gresz kommt wieder ins Bild und sagt:

Gegen den Betreiber der Seite […] können deutsche Behörden übrigens nur schwer vorgehen, eben weil er seinen Sitz auf den Bahamas, sprich: im Ausland, hat.

Ihr nächster Satz, im gleichen Atemzug, lautet dann:

Von einem vollkommenen Kontrollverlust könnte man mittlerweile auch bei den russischen Autofahrern sprechen.

Es steht zu befürchten, dass das “auch”, auch wenn es sonst überhaupt keinen Sinn ergibt, nicht selbstkritisch gemeint ist.
 

Wie Medien über Suizide berichten sollten, um Nachahmungstaten zu vermeiden:

  • Sie sollten jede Bewertung von Suiziden als heroisch, romantisch oder tragisch vermeiden, um möglichen Nachahmern keine post-mortalen Gratifikationen in Form von Anerkennung, Verehrung oder Mitleid in Aussicht zu stellen.
  • Sie sollten weder den Namen der Suizidenten noch sein Alter und sein Geschlecht angeben, um eine Zielgruppen-Identifizierung auszuschließen.
  • Sie sollten die Suizidmethode und – besonders bei spektakulären Fällen – den Ort des Suizides nicht erwähnen, um die konkrete Imitation unmöglich zu machen.
  • Sie sollten vor allem keine Informationen über die Motivation, die äußeren und inneren Ursachen des Suizides andeuten, um so jede Identifikations-Möglichkeit und Motivations-Brücke mit den entsprechenden Lebensumständen und Problemen des Suizidenten vermeiden.

(Quelle: psychosoziale-gesundheit.net)

Mit Dank an Kai H.

Pedalisten, Oettinger, Neven DuMont

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Die ‘Sächsische Zeitung’ und das Internet – oder: die verlorene Ehre eines Lehrers”
(flurfunk-dresden.de, owy)
“In den sozialen Netzwerken beobachten die Lehrer anonym das Internet-Verhalten ihrer Schüler” steht in einem Artikel in der “Sächsischen Zeitung”. “Wohl kaum. Völliger Unsinn, genaugenommen. Man drehe das mal weiter: Was wäre eigentlich los, würden sich Journalisten anonym mit Pseudonym in soziale Netzwerke einschleichen – und die Leser beobachten?! Ohgottohgottohgott!”

2. “Spiegel der Gesellschaft?”
(weltraumer.de)
“Spiegel Online” beleuchtet den Konflikt zwischen “Pedalisten” und “Blechfreunden”, zufällig das aktuelle Thema der Printausgabe, mit einer Klickstrecke, die aus Zitaten aus verschiedenen Foren besteht: “Im Internet wird über alles und jedes diskutiert, gestritten und geschimpft. Daraus Beweise für ein gesamtgesellschaftliches Phänomen zu stricken, ist schon arg windig und fragwürdig.”

3. “Autobrände: Gegensätzliche Medienstrategien”
(ndr.de, Video, 4:50 Minuten)
Wie die Medien, darunter “Bild” und “Spiegel”, mit den derzeit häufigen Fahrzeug-Brandstiftungen in Berlin umgehen.

4. “‘Bild’-Idee: Oettinger holt Flagge wieder ein”
(ftd.de, Peter Ehrlich)
Ein Vorstoß von Günther Oettinger forderte, dass “Flaggen von Euro-Staaten, die auf Hilfskredite angewiesen sind, künftig vor den Brüsseler Institutionen auf halbmast wehen” sollen. Ein irischer Journalist wollte wissen, woher diese Idee kommt. “Darüber habe Oettinger vorher mit der Chefredaktion der Zeitung gesprochen. So also bringt ‘Bild’ Ideen in die Welt.”

5. “Zeigst du noch Haltung oder buckelst du schon?”
(christundwelt.de, Wolfram Weimer)
TV-Talkshows “laufen dem Parlament den Rang ab”, beobachtet Wolfram Weimer: “Das Koordinatensystem unserer Willensbildung verschiebt sich derartig ins Mediale, dass veritable Minister achselzuckend erklären: Eine Illner-Sendung ist heute wichtiger als zehn Bundestagsdebatten. Wenn die Welt des Inszenatorischen aber so wichtig wird, mutiert das Mediensystem dann nicht zu einer Derivate-Szene des Politischen?”

6. “Vom Kampf darum verstanden zu werden”
(fr-online.de, Arno Widmann)
Der zweite Roman des Printverlegers Alfred Neven DuMont nennt sich “Vaters Rückkehr”, “ein Buch über einen Vater-Sohn-Konflikt aus der Sicht des Sohnes. Das ist mehr als interessant.”

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