1. “Wir werden nicht einer Meinung sein” (zeit.de, Ralf Heimann)
Nach Ansicht vieler Kritiker hat WDR-Intendant Tom Buhrow mit seiner übereilten Telefon-Intervention und der Bitte um Entschuldigung für den eigentlichen Skandal um das Satireliedchen von der Oma als “Umweltsau” gesorgt. Viele WDR-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter fühlten sich im Stich gelassen, hatten das Gefühl, ihr Chef sei ihnen in den Rücken gefallen. Nun fand in Köln eine Redaktionsversammlung statt, zu der 700 Leute kamen. Buhrow habe dort sein Verhalten in einer Weise verteidigt, die Zweifel daran aufkommen lasse, dass er verstanden hat, worum es bei der Sache geht.
Weiterer Lesehinweis zum Hintergrund: Aufgepasst, Ihr Umweltsäue! — warum die Vorwürfe gegen die WDR-Satire falsch sind (taz.de, Heiko Werning). Lesenswert auch die aktuelle Kolumne von Sascha Lobo zur Debattenkultur: Diagnose: Vorzeitiger Nachrichtenerguss (spiegel.de).
2. “Ibiza lebt” (sueddeutsche.de, Leila Al-Serori)
In Österreich wird ein erbitterter Kampf um die “Krone” geführt. Das Blatt mit einer Reichweite von 30 Prozent weckte bereits die Begehrlichkeiten des damaligen FPÖ-Politikers Heinz-Christian Strache, wie man im “Ibiza-Video” sehen und hören konnte. Nun versuche der Tiroler Immobilienmilliardär und Investor René Benko das Blatt zu übernehmen: “Eine weitere Parallele zu Ibiza bekommt der Machtkampf auch durch die Nähe René Benkos zum Kanzler: der Milliardär gehört dem engsten Zirkel rund um Sebastian Kurz an. Benko beteuert, dass es nicht um Politik, sondern nur ums Geschäft gehe.”
3. Ein Abschied vom Vermesser (taz.de, Steffen Grimberg)
Horst Röper, die “taz” nennt ihn den “King of Medienforschung”, geht in den Ruhestand. Der Journalist und Medienwissenschaftler leitete seit 1984 das Formatt-Institut (“Forschung Medien Aktuell Technologie Transfer”) und sei damit “das Gedächtnis der deutschen Zeitungslandschaft”. “taz”-Autor Steffen Grimberg in seiner Art Ruhestandslaudatio: “Und jetzt will der Mann, der sich als Einziger noch so richtig um all diese Fragen kümmert, in den Ruhestand gehen. Einfach so. Is nich, Horst. Wir brauchen dich!”
4. Happy new Leak! (deutschlandfunk.de, Samira El Quassil, Audio: 5:23 Minuten)
Die Firma Cambridge Analytica brachte es zu trauriger Berühmtheit, als 2018 bekannt wurde, dass ihre Datenanalysen für personalisierte Wahlwerbung auf dem illegalen Besitz von Informationen zu Millionen von Facebook-Profilen beruhten. In der Folge meldete das umstrittene Unternehmen Insolvenz an. Nun tauchen Tausende von neuen Dokumenten auf, die von einer Ex-Mitarbeiterin stammen sollen. Samira El Ouassil ordnet den Fall für den Deutschlandfunk neu ein.
5. Versöhnt in der Irritation (faz.net, Nina Rehfeld)
Aus dem us-amerikanischen Phoenix berichtet Nina Rehfeld über die Zwickmühle des TV-Senders Fox News: Einerseits fungiere er als Sprachrohr der Republikaner und Stichwortgeber des amtierenden Präsidenten Donald Trump. Andererseits habe Starmoderator und Publikumsliebling Tucker Carlson den Angriff auf den iranischen General Soleimani und die offizielle Begründung dafür scharf kritisiert.
Die “Bild”-Medien berichten seit einigen Tagen ausgiebig über einen Unfall in Südtirol, bei dem sieben Menschen starben, und der Fahrer stark alkoholisiert war. Dabei läuft sehr vieles sehr schief.
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Auf der heutigen “Bild”-Titelseite zeigt die Redaktion Fotos der Opfer und des Unfallfahrers:
Die Unkenntlichmachung bei drei der Opfer und beim Fahrer stammt von uns, die beim Opfer ganz rechts stammt von “Bild” (dazu später mehr). Das zweite Opferfoto von links, das “Bild” heute auf Seite 1 und auf Seite 3 unverpixelt zeigt und das auch bei Bild.de auf der Startseite unverpixelt zu sehen war, zeigt allerdings eine Frau, die mit dem Unfall rein gar nichts zu tun hat. Sie war nicht in Südtirol und vor allem: sie lebt.
Gestern Abend schrieb sie bei Facebook (nur für Freunde öffentlich zu sehen):
LIEBE BILD? Wie kann das passieren? Ich bin am Leben und es wird wahllos ein Bild vor gefühlt 8 Jahren ins Netz gestellt obwohl ich nicht betroffen bin? HABT IHR SIE NOCH ALLE? schlimm genug dass ihr mit der Story Kohle verdient!
Bild.de hat das Foto inzwischen ausgetauscht und zeigt nun zum selben Opfernamen ein unverpixeltes Foto einer anderen Frau. Im “Bild”-E-Paper war das Foto noch lange zu sehen. Inzwischen sind auch dort die Fotos auf der Titelseite und auf Seite 3 ausgetauscht. An Tankstellen, in Bäckereien und an Kiosken liegen hingegen weiter Hunderttausende “Bild”-Exemplare aus, auf deren Titelseiten eine lebende Frau mit unverpixeltem Foto für tot erklärt wird.
Wir haben bei “Bild”-Sprecher Christian Senft nachgefragt, wie es zu dem Fehler kommen konnte. Er hat uns bisher nicht geantwortet.
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Die “Bild”-Medien zeigen Fotos von vier weiteren Personen, bei denen es sich um Menschen handeln soll, die bei dem Unfall gestorben sind. Als Quellenangabe gibt die Redaktion für alle “PRIVAT” an, was nichts anderes heißen dürfte als: Bei Facebook oder Instagram per rechter Maustaste zusammengeklaubt.
Außerdem geht “Bild” sehr unterschiedlich bei der Unkenntlichmachung vor: Manche Fotos sind verpixelt, andere nicht. Bei den zwei Personen, die verpixelt sind, steht in den Bildunterschriften:
(Unkenntlichmachung durch uns.)
Eines der Fotos zeigt einen Mann, das andere eine Frau. Bei dem Mann ist die “Bild”-Redaktion ziemlich inkonsequent: Im Blatt ist sein Gesicht entsprechend der Bildunterschrift verpixelt, auf der Titelseite hingegen nicht — zumindest in der E-Paper-Ausgabe. Bei der gedruckten “Bild” ist sein Gesicht zumindest in Berlin auch auf der Titelseite verpixelt. Nachdem wir “Bild”-Sprecher Senft in unserer Mail auf die fehlende Verpixelung auf Seite 1 aufmerksam gemacht haben, hat die Redaktion es auch im E-Paper überall verpixelt.
Wir wollten von Christian Senft wissen, ob “Bild” und Bild.de bei den Eltern aller Opfer nachgefragt hat, ob diese mit einer Foto-Veröffentlichung — gepixelt oder ungepixelt — einverstanden sind. Er hat uns bisher nicht auf unsere Frage geantwortet.
Und wir haben Senft gefragt, ob “Bild” die Eltern und Familien, die in den Bildunterschriften erwähnt werden, vor der Veröffentlichung der Fotos gefragt hat, ob das verpixelte Zeigen ihres Kindes für sie in Ordnung ist — oder ob diese sich bei “Bild” melden mussten, nachdem die Redaktion die Fotos bereits unverpixelt veröffentlicht hatte, um wenigstens noch die Verpixelung zu erreichen.
Auch darauf hat Christian Senft nicht geantwortet. Es spricht aber vieles dafür, dass die Familien intervenieren mussten, damit die Fotos ihrer Kinder nachträglich verpixelt werden: Der oben bereits erwähnte Mann, dessen Foto die “Bild”-Medien “auf Wunsch der Eltern” verpixelt haben, war gestern Nachmittag noch ohne Unkenntlichmachung auf der Bild.de-Startseite zu sehen:
(Unkenntlichmachung durch uns.)
Entweder haben die Eltern sich umentschieden (erst unverpixelt in Ordnung, dann nur verpixelt in Ordnung). Oder die “Bild”-Redaktion hat einfach, ohne zu fragen, das Foto unverpixelt veröffentlicht, und die Eltern mussten aktiv werden.
Ganz ähnlich bei der Frau, deren Foto “Bild” “auf Wunsch der Familie” verpixelt hat: Anfangs war ein Foto, das sie zeigt, bei Bild.de verpixelt, dann nicht mehr und nun wieder.
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Wir haben “Bild”-Sprecher Senft gefragt, ob die Eltern und Familien der Opfer, deren Fotos nicht verpixelt sind, einer unverpixelten Veröffentlichung zugestimmt haben, oder ob sie sich bisher einfach nicht gegen die unverpixelte Veröffentlichung gewehrt haben. Auch darauf bekamen wir keine Antwort.
Die Veröffentlichung des Fotos der Frau, die “Bild” fälschlicherweise für tot erklärt hat, spricht dafür, dass die “Bild”-Medien niemanden vorher gefragt haben — denn wer stimmt schon einer (unverpixelten) Veröffentlichung zu, wenn man überhaupt nichts mit dem Fall zu tun hat?
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Viele Beiträge zum Thema hat Bild.de hinter die Paywall gestellt. So auch diesen “MIT VIDEO”:
(Unkenntlichmachung des Namens und der Person in der Mitte durch uns. Unkenntlichmachung der beiden Personen außen durch Bild.de.)
Nicht nur, dass die Redaktion sich private Videoaufnahmen einer verstorbenen Person besorgt — sie versucht dann auch noch, damit ein paar Abos zu verkaufen und Geld zu machen.
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Um an Informationen zu kommen, scheinen die “Bild”-Medien nicht nur die Profile der Opfer in den Sozialen Netzwerken zu durchforsten — offenbar behelligen sie auch deren Familien. Bei Reddit schreibt ein User:
Heute hab ich plötzlich eine Nachricht von einer Freundin bekommen, dass eines der Opfer der Bruder ihres Freundes ist. Ich kannte den verstorbenen Bruder nicht persönlich, aber dafür ihren Freund und war auch wenn ich nicht viel mit ihm zutun habe zutiefst geschockt.
Was mir allerdings dann erzählt wurde lässt mir echt den Kragen platzen. Anscheinend haben irgendwelche fuckig Reporter von der Bildzeitung wie auch immer herausgefunden, wo die Angehörigen des verstorbenen wohnen und noch am selben Tag angeschellt, die Familie bedrängt und nach einem Interview gefragt. Wie kann man so fucking dreist sein? Man kriegt die Nachricht von der Polizei, dass dein Sohn/Bruder gestorben ist und am selben Tag kommt die scheiß Bildzeitung zu dir nach Hause und fragt nach einem Interview, damit sie aus der Tragödie anderer Menschen Material für ihre scheiß Titelseite haben um Leute zu ködern ihre scheiß Zeitung zu kaufen?
Außerdem haben uns mehrere BILDblog-Leserinnen und -Leser geschrieben, dass sie Verwandte der Opfer kennen. Sie alle sagen, dass die Berichterstattung der “Bild”-Medien für die Familien nur schwer zu ertragen sei.
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Neben den Fotos der Opfer veröffentlichen “Bild” und Bild.de auch mehrere unverpixelte Fotos des Unfallfahrers. Online ist sein Gesicht seit mehreren Tagen durchgängig auf der Startseite zu sehen. Dass der Mann derzeit “als psychisch nicht stabil gilt”, berichten die “Bild”-Medien zwar; ein Grund, seine Fotos nur verpixelt zu zeigen, ist das für sie aber offensichtlich nicht. In einem Video zeigte Bild.de sogar eine unverpixelte Aufnahme, während ein Reporter erzählt, dass der Mann gerade in eine psychiatrische Einrichtung eingeliefert wurde.
Wir haben den “Bild”-Sprecher gefragt, ob die Redaktion eine Erlaubnis des Mannes hat, seine Fotos ohne Unkenntlichmachung zu zeigen. Christian Senft hat darauf nicht geantwortet.
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“Bild” und Bild.de hauen alles zu dem Fall raus, was sie in die Finger bekommen. Zwei Titelseiten sind zu dem Unfall in Südtirol schon erschienen, im Blatt zwei Doppelseiten, weit mehr als ein Dutzend Artikel bei Bild.de und dazu online mehrere Live-Sendungen. Es wirkt ein bisschen wie ein weiterer Probelauf für den geplanten “Bild”-TV-Sender: Wie groß können alle “Bild”-Kanäle auf einmal ein Thema machen?
Dafür sind 14 (!) Autorinnen und Autoren im Einsatz. Mit ihrer Arbeit sorgen sie dafür, dass Familien, die gerade einen geliebten Menschen verloren haben, sich in ihrer Trauer auch darum kümmern müssen, dass das Schicksal ihres Kindes, ihres Bruders oder ihrer Schwester nicht gnadenlos von einer Boulevardredaktion ausgeschlachtet wird.
Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!
Nachtrag, 8. Januar: Von “Bild”-Sprecher Christian Senft haben wir nach wie vor keine Antworten auf unsere Fragen bekommen. “DWDL” hat er heute allerdings geantwortet:
Gegenüber DWDL.de äußerte sich Springer-Sprecher Christian Senft am Mittwoch jedoch zu der Foto-Panne: “Aufgrund eines bedauerlichen Fehlers in der Herstellung ist bei der umfassenden Berichterstattung von ‘Bild’ zum tragischen Unfall in Südtirol in der gedruckten Zeitung ein falsches Foto für eines der Unfallopfer erschienen. Wir haben dafür bei der betroffenen Familie um Entschuldigung gebeten und das Foto online sowie im E-Paper sofort ausgetauscht. Insofern uns die Familien darum gebeten haben, wurden die Fotos der Opfer bei der Berichterstattung verpixelt.”
Eine Antwort auf die Frage, weshalb sich “Bild” überhaupt dazu entschlossen hat, Fotos der Opfer unverpixelt zu drucken, gab es nicht.
Nachtrag, 9. Januar: Für eine Bitte um Entschuldigung oder wenigstens eine Korrektur, dass die Redaktion eine falsche Person für tot erklärt hat, war in “Bild” bisher leider kein Platz.
Das “6 vor 9”-Jahr nähert sich dem Ende, die Feiertage stehen vor der Tür. Für viele von Euch die Gelegenheit, sich mit einem guten Buch aufs Sofa zurückzuziehen, Podcasts zu hören oder den Streamingdienst der Wahl leer zu “bingen”. Das Angebot ist riesig, doch was lohnt? In dieser Ausgabe der “6 vor 9” geht es um die besten Hör-, Lese- und Sehtipps aus den Redaktionen. Wir wünschen viel Spaß und eine unterhaltsame und/oder erkenntnisreiche Zeit!
1. Die Redaktion empfiehlt: 17 Hör- und Lesetipps (mediummagazin.de)
“Medium”, das Magazin für Journalistinnen und Journalisten, präsentiert zum Ende des Jahres 17 Hör- und Lesetipps. Im weitesten Sinne haben alle Empfehlungen etwas mit Medien zu tun, aber durchaus auf unterhaltsame Art und Weise. Der Blick auf die Zusammenstellung lohnt.
2. Hören, Sehen, Lesen – Tipps für die Feiertage (deutschlandfunknova.de, Daniel Fiene & Sebastian Pähler, Audio: 41:05 Minuten)
Die “Was mit Medien”-Podcaster Daniel Fiene und Sebastian Pähler haben ein Dutzend Medienmacher und Medienmacherinnen nach ihren Empfehlungen für die Feiertage gefragt: “Welche Podcast-Episoden lohnen sich? Welche Zeitschrift sollte man mal durchblättern? Welche Streaming-Serie eignet sich zum Bingen zwischen den Jahren?” Interessante Tipps von interessanten Leuten.
3. Lesen, schmökern, wälzen und – lauschen (tagesanzeiger.ch)
Das Ressort “Wissen” des Schweizer “Tagesanzeigers” empfiehlt 19 spannende Sachbücher. Die Themen sind breit gestreut: Von “mörderischen Bäumen und verheerenden Bränden” sowie den “Gesetzen der Physik als Gutenachtgeschichte” bis hin zum “Geheimnis der 100-Jährigen”.
4. Kinder- und Jugendbücher für den Gabentisch (deutschlandfunk.de, Ute Wegmann & Dina Netz & Tanya Lieske & Jan Drees, Audio: 24:36 Minuten)
Welche Kinder- und Jugendbücher eignen sich für den Gabentisch? Das Redaktionsteam der “Bücher für junge Leser” hat auf den letzten Drücker noch ein paar Geschenktipps zu Weihnachten. Wer es nicht mehr schafft, sich die Sendung anzuhören: Auf der oben verlinkten Webseite sind die Buchtipps samt Mini-Rezensionen übersichtlich aufgelistet.
Weiterer Lesetipp: “Diese Kinderbücher empfehlen SPIEGEL-Redakteure”.
5. SJ-Podcast: Die besten neuen Serien 2019, Trends, Tipps und mehr (serienjunkies.de, Audio: 1:31:29 Stunden)
Die “Serienjunkies” werfen in ihrem Podcast einen Blick auf die besten neuen Serien des vergangenen Jahres: “Was waren die neuen Top-Serien 2019? Welche Trends konnte man beobachten, was war besonders auffällig und wie wird es in der Welt der Serien weitergehen?”
6. Diese Filme lohnen sich bei Amazon und Netflix (spiegel.de, Oliver Kaever)
An den Feiertagen und zwischen den Jahren kann man endlich guten Gewissens vor dem Fernseher oder Laptop abhängen und einen Film nach dem anderen weggucken. Oliver Kaever hat sich bei Netflix und Amazon Prime nach geeignetem Futter umgeschaut.
Weiterer Lesetipp: Das sind die schlimm-besten Weihnachtsfilme zum Streamen (jetzt.de, Lena Mändlen) .
Im zurückliegenden Jahr haben wir hier im BILDblog wieder viel über Fehler geschrieben. Aber was genau sind das eigentlich: Fehler? Wie häufig passieren sie? Wie entstehen sie? Und was können Redaktionen gegen sie tun? Unser Autor Ralf Heimann hat sich in einer achtteiligen Serie mit all dem Falschen beschäftigt. Heute Teil 6: Storydenken.
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Im Jahr 1944 veröffentlichten die österreichischen Psychologen Fritz Heider und Marianne Simmel eine etwas mehr als eine Minute lange Animation, die zwei Dreiecke und einen Punkt zeigen. Die Formen bewegen sich innerhalb und außerhalb eines Rechtecks. Probandinnen und Probanden bekamen die Aufgaben, sich die Szene anzusehen und sie zu beschreiben.
Einige von ihnen schilderten eine Verfolgungsjagd, andere eine Eifersuchtsszene. In den Dreiecken und dem Punkt sahen sie häufig zwei Männer und ein Frau. Das Quadrat stellten sie sich als Haus vor. Sie machten sich Gedanken über die Motive der Figuren und über deren Gefühle. Einige Deutungen glichen einer Seifenoper. Nur: Einen Punkt, zwei Dreiecke und ein Rechteck sah so gut wie niemand. Die Beschreibungen hatten fast alle eine Gemeinsamkeit: Sie waren eine Geschichte.
Ungefähr so scheint der Mensch zu funktionieren. Wo er auch hinschaut, entdeckt er Sinn und Zusammenhänge. Das ist das Format, in dem das Gehirn Informationen speichert. Und in dieses Format konvertieren Menschen alles, was sie sehen und erleben.
Im Rückblick sieht fast alles so aus, als wäre es eine zwangsläufige Folge aus sich logisch auseinander ergebenden Ereignissen, obwohl vieles im Leben einfach durch Zufall passiert, und man bei einer genaueren Untersuchung feststellen würde: Es hat keinen Sinn. Diesen Fall lässt das Gehirn allerdings nur ungern zu. Wo es keinen Sinn erkennen kann, schließt es die Sinnlücke mit einer eigenen Konstruktion. Und das ist im Journalismus ein Problem, denn es führt zu einer Verzerrung, die als Story bias bekannt ist.
Menschen biegen sich die Dinge gern so zurecht, dass sie zu einer guten Geschichten werden. Sie unterschlagen Details, die nicht ins Bild passen. Sie konstruieren Zusammenhänge, wo keine sind. Diese Tendenz bewirkt, dass Gerüchte oft immer abenteuerlicher werden, weil neue Details hinzugedichtet werden, die aus dem Gerücht eine noch bessere Geschichte machen. Im Grunde beschreibt das Story bias ein Grundprinzip der “Bild”-Zeitung: Die Geschichte ist wichtiger als die Wahrheit.
Der Effekt führt auch dazu, dass Geschichten ohne schlechte Absicht so sehr vereinfacht werden, dass sie die Wirklichkeit kaum noch abbilden können. Eine Weltwirtschaftskrise oder ein Krieg zum Beispiel lassen sich wunderbar im Info-Grafik-Format erklären. Erst passierte dies, dann das, dann kam der nächste Schritt. So wird das Ereignis am Ende greifbar, aber es entsteht der falsche Eindruck, dass die Welt sich wie ein Domino-Spiel erklären lässt — und bei den gegebenen Ereignissen alles zwangsläufig so kommen musste.
Der Schriftsteller Rudolf Dobelli beschreibt das Story bias in seiner Kolumnensammlung “Die Kunst des klaren Denkens” an einem Beispiel: Eine Brücke stürzt ein und reißt einen Autofahrer mit in die Tiefe. Danach wird man die tragische Geschichte des Autofahrers lesen. Vielleicht war er auf dem Weg zu seiner Familie. Vielleicht kam er gerade von der Arbeit. Vielleicht wollte er in der Woche darauf heiraten.
Nur das, was eigentlich passiert ist, ist keine gute Geschichte. Die Brückenkonstruktion hat aus irgendeinem Grund nachgegeben, vielleicht durch eine komplizierte Kette aus unglücklichen Zufällen, die sich nicht zurückverfolgen lässt. Für Menschen sind aber vor allem die Menschen interessant.
Journalistinnen und Journalisten gehen zudem gern so vor, dass das Ergebnis schon vor der Recherche feststeht. Sie formulieren eine These und suchen dann nach den passenden Belegen. Im Januar 2019 musste der WDR einräumen, dass die Wirklichkeit sich doch etwas anders darstellte, als sie in einigen Dokumentationen der Reihe “Menschen hautnah” gezeigt wurde. Eine Autorin hatte Protagonisten für eine Doku aus einer Komparsen-Datenbank rekrutiert. Die Geschichte stimmte so nicht ganz. Es sollte alles etwas besser klingen, als es wirklich war.
Dass ein Beitrag schon vor der Recherche steht, ist keine Besonderheit der WDR-Doku-Reihe. Das zeigt zum Beispiel der Abschlussbericht über den Fall Relotius beim “Spiegel”. An einer Stelle zitiert das Autoren-Team aus einer inzwischen sehr bekannt gewordenen E-Mail. Der damalige Leiter des Gesellschaftsressorts, Matthias Geyer, gibt darin Anweisungen zu Aufbau und Inhalt einer Reportage:
Dort heißt es unter anderem: “Wir suchen nach einer Frau mit Kind. Sie kommt idealerweise aus einem absolut verschissenen Land (…) Sie setzt ihre Hoffnung auf ein neues, freies gutes Leben in USA (…) Es muss eine sein, die mithilfe eines Kojoten über die Grenze will (…) Die Figur für den zweiten Konflikt beschreibt Claas (…) Dieser Typ wird selbstverständlich Trump gewählt haben, ist schon heiß gelaufen, als Trump den Mauerbau an der Grenze ankündigt hat, und freut sich jetzt auf die Leute dieses Trecks, wie Obelix sich auf die Ankunft einer neuen Legion von Römern freut (…) Wenn ihr die richtigen Leute findet, wird das die Geschichte des Jahres.”
Wie die Geschichte aussehen soll, steht schon vor der Recherche fest. Das Ergebnis muss in die vorgegebene Form passen. Und wenn das der Fall ist, steht am Anfang der Recherche nicht die Frage: Wie ist es gewesen? Sondern: Woher bekomme ich das Personal?
In diesem Fall sollte die Story offenbar möglichst preiswürdig sein. In anderen Fällen konstruieren Journalistinnen und Journalisten, weil es schneller geht, als ergebnisoffen zu recherchieren — oder weil sie davon überzeugt sind, die Antwort eh schon zu haben.
Pressesprecher sagen, sie kennen das. Wenn sie von Journalistinnen und Journalisten angerufen werden, wüssten diese oft längst, was sie hören wollen. Sie bräuchten nur noch jemanden, der es sagt. Der Bundesverband deutscher Pressesprecher hat im Jahr 2015 eine Studie mit dem Titel “Thesenjournalismus statt ergebnisoffener Recherche?” veröffentlicht. Dazu hatte er über eintausend Pressesprecher befragt. Ein Ergebnis war:
Über alle Medien hinweg gehört es inzwischen zum journalistischen Standard, thesengeleitet zu recherchieren und Storys zuzuspitzen.
In der Zusammenfassung heißt es:
Probleme bereiten den Pressesprechern […] vor allem Situationen, in denen die Journalisten nicht bereit sind, ihre Ausgangseinschätzungen zu ändern — auch wenn sie in der Recherche neue Informationen bekommen, die die Storyline widerlegen.
Auch das ist nicht allein ein Problem von Journalistinnen und Journalisten. Wissenschaftler haben in verschiedenen Studien gezeigt, dass Menschen sogar dann an falschen Informationen festhalten, wenn sie sehen, dass sie falsch sind. Die Forscher sprechen von Belief perseverance oder Faktenresistenz.
In einem Experiment sollten 19 Probandinnen und Probanden, jeder von ihnen promoviert in einem naturwissenschaftlichen Fach, den Inhalt einer Kugel bestimmen. Sie erhielten eine manipulierte Formel. Dann gab man ihnen Kugeln. Sie berechneten den Inhalt erst mit der Formel, später füllten sie Wasser in die Kugeln, gossen es in eine Kiste und bestimmten das Volumen. Das errechnete Ergebnis stimmte nicht mit dem tatsächlichen überein. Dennoch hielten mit Ausnahme eines Wissenschaftlers alle an der falschen Formel fest.
Auch der Innsbrucker Psychologe Tobias Greitemeier untersuchte den Effekt in einem Experiment. Er ließ Probandinnen und Probanden einen wissenschaftlichen Artikel lesen. Einige informierte er im Anschluss darüber, dass die Daten gefälscht waren. Die übrigen bekamen diese Information nicht. Eine dritte Gruppe (Kontrollgruppe) las den Artikel nicht. In Befragungen zeigte sich, dass die Menschen, die über die Fälschung informiert wurden, ihre Meinung zwar korrigierten, aber auch danach weiterhin stärker von den Informationen beeinflusst waren als die Personen aus der Kontrollgruppe, die den Artikel gar nicht kannte. Im Abstract seiner Arbeit schreibt Greitemeier:
Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine Widerrufserklärung eines empirischen Artikels in einer wissenschaftlichen Zeitschrift nicht ausreicht, um sicherzustellen, dass die Leser des ursprünglichen Artikels nicht mehr an die Schlussfolgerungen des Artikels glauben.
Bei journalistischen Beiträgen ist das wahrscheinlich nicht anders.
Das Gehirn wirkt schon beim Sammeln von Informationen darauf hin, dass vorhandene Informationen begünstigt werden (Confirmation bias) und neue es schwerer haben. Ergeben sich Widersprüche (kognitive Dissonanzen), versucht das Gehirn, sie aufzulösen, indem es sie umdeutet. Jürgen Schaefer schreibt in einem “Geo”-Essay: “Wenn andere viel zu schnell mit ihrem Rad durch die Fußgängerzone fahren, halten wir das für ‘idiotisch’, bei uns selbst für ‘verwegen’.”
So formt die Wahrnehmung unsere Wirklichkeit. Und wie die Wirklichkeit aussehen wird, beeinflussen Journalistinnen und Journalisten mit ihrer Erwartung, die in ihrer These enthalten ist. Das passiert auch in der Wissenschaft, wo in der Regel viel gründlicher gearbeitet werden kann und mehr Zeit bleibt, alles noch einmal zu überdenken. Jürgen Schaefer berichtet von zwei Studien, in denen es um die Frage geht, ob es Herzpatienten hilft, wenn Unbekannte für sie beten:
Eine Studie ergab: Ja, es helfe. Die zweite kam zum gegenteiligen Ergebnis: Nein, es schade sogar. Das naheliegende Ergebnis — dass es weder hilft noch schadet — wollte keiner nachgewiesen haben: nicht spektakulär genug.
Auch hier ist es wahrscheinlich, dass diese Beobachtung nicht nur die Wissenschaft betrifft, sondern ebenso den Journalismus: Die Geschichte muss gut sein. Dann verbreitet sie sich — und mit ihr die inbegriffene Botschaft. Das ist das Prinzip, nach dem “Fake News” und Gerüchte funktionieren.
Eine Rolle spielt dabei, dass Geschichten von anderen Hirnregionen verarbeitet werden als Fakten. Und dass die Spiegelneuronen im Gehirn es möglich machen, sich in eine Geschichte hineinzuversetzen. So können Menschen von den Erfahrungen anderer lernen, ohne sie selbst gemacht zu haben. Und Geschichten finden sehr viel leichter Zugang zum Gehirn als sperrige Fakten, die beim Eingang auch noch kritisch überprüft werden.
Das ist das Erfolgsgeheimnis von Geschichten. Aber das macht sie gleichzeitig zu manipulativen Werkzeugen: Sie müssen nicht stimmen, damit Menschen sie glauben. Sie müssen vor allem plausibel klingen. Und wie das ausgehen kann, steht im Abschlussbericht zum Fall Relotius.
Das Dumme ist: Es gibt keine Alternative zur Geschichte. Auf keine andere Weise lassen sich Emotionen, Werte oder Erfahrungen so gut transportieren und so erfolgreich Sinn und Identität stiften. Kein anderes Format ist in der Lage, Menschen so zu berühren, sogar körperliche Reaktionen auszulösen. Menschen weinen im Kino, wenn sie Geschichten sehen, die im Grunde nichts mit ihrem eigenen Leben zu tun haben. Und in keinem anderen Format ist der Inhalt so lange haltbar. Je eindrucksvoller eine Geschichte ist, desto besser kann das Gehirn sie sich merken. Der Neurobiologe Gerald Hüther sagt:
Reine Information ist nur limitiert anknüpfbar. Wenn Sie sie aber in eine Geschichte verpacken, liefern Sie in deren Rahmen viele Anknüpfungspunkte an bereits vorhandene Gedächtnisinhalte. So kann man die Geschichte besser im Gedächtnis abspeichern und daraus dann die entscheidenden Aussagen ableiten. Dazu kommt: Jeder Lernprozess wird von Emotionen begleitet, bei der nackten Vermittlung von Fakten werden diese emotionalen Bereiche nicht angesprochen.
Den Effekt kennt jeder aus schockierenden oder auf andere Weise bewegenden Momenten. Die meisten Menschen, die den 11. September 2001 erlebt haben, können sich genau daran erinnern, wo sie waren, was sie gemacht haben und was sie um sich herum wahrgenommen haben, als die Flugzeuge ins Word Trade Center flogen. Es ist alles gespeichert, wie in einem Film. Es erscheint noch immer sehr real. Nur möglicherweise stimmt es nicht, weil die Erinnerung es mit den Jahren an einigen Stellen verformt hat.
Journalistinnen und Journalisten können das nicht verhindern. Aber sie können dem entgegenwirken, indem sie sich diese Effekte bewusst machen und sich nicht allein auf ihre Erinnerung verlassen, sondern ihre Recherchen so gut es geht dokumentieren, damit das Gehirn sich die Geschichte nicht zurechtformt. Sie können ihre Vermutungen immer wieder infrage stellen, indem sie nach Widersprüchen suchen — und Argumente sammeln, die für das Gegenteil sprechen.
Und wenn sie dann feststellen, dass diese Widersprüche sich im Beitrag nicht unterbringen lassen, weil die Geschichte dann nicht mehr funktionieren würde, sollten sie die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Geschichte so, wie sie es sich vorgestellt hatten, einfach nicht funktioniert.
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Teil 1 unserer “Kleinen Wissenschaft des Fehlers” gibt es hier, Teil 2 hier, Teil 3 hier, Teil 4 hier und Teil 5 hier. Oder alle Teile auf einmal hier.
Ein “Shitstorm” ist laut Duden ein “Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht”.
Bei “Bild” haben sie hingegen eine leicht andere, eigenwillige Definition, und die geht in etwa so: Um einen “Shitstorm” handelt es sich, wenn auf einen Witz bei Twitter weit über 200 Personen mit “Gefällt mir” reagieren, mehr als 30 Personen ihn per Retweet verbreiten und zwölf Personen auf den Tweet antworten, wobei die Antworten vor allem mit einem Daumen nach oben, lachenden Gesichtern, vielen Herzchen und Aussagen wie “Sehr schön … danke dafür :-)” oder “Herrlich” versehen sein müssen. Oder anders: Wir finden Linken-Politiker und Ministerpräsident Bodo Ramelow blöd, also lasst uns ihm mal einen “Shitstorm” andichten:
Shitstorm für MP Bodo Ramelow (Linke)!
Grund sei dieser “schräg formulierte Nachrichten-Mix des Politikers auf Twitter”:
Die Thüringen-Ausgabe der “Bild”-Zeitung schreibt über die Reaktionen:
Ein verärgerter User antwortete: “Bodo lass das, Witze kann nicht jeder, mach lieber ordentliche Politik!”
Andere fanden, dass sich der Beitrag wie ein Antrag auf Pensionierung lese, fragten beim MP sogar nach, ob er alkoholisiert gewesen sei.
1. Juan Moreno ist der Journalist des Jahres 2019 (mediummagazin.de)
Der vor allem durch die Causa Relotius bekannt gewordene freie Reporter Juan Moreno ist von einer rund 100-köpfigen Jury des “medium magazin” zum “Journalisten des Jahres” 2019 gewählt worden: “Moreno zeigte als Reporter die Hartnäckigkeit des gründlichen Rechercheurs und ehrlichen journalistischen Handwerkers. Zudem bewies er den Mut, für die Wahrheit persönlich viel aufs Spiel zu setzen, da ihm zunächst niemand glauben wollte. Die Folgen seiner Recherchen werden die Debatten über Qualitätsjournalismus weit über 2019 hinaus prägen.”
2. Ein Recht auf Sendezeit gibt es nicht (deutschlandfunk.de, Arno Frank)
Zum Ende des Jahres wird gerne nachgezählt, wie oft welche Politikerinnen und Politiker bei den großen politischen Talkshows der Öffentlich-Rechtlichen zu sehen waren. Begleitet von der Kritik, dass manche Parteien beziehungsweise deren Vertreterinnen und Vertreter zu kurz gekommen seien, wenn man die Sitzverteilung im Bundestag als Maßstab heranziehe. Eine Kritik, die Arno Frank nicht nachvollziehen kann: “Die Auswahl der Gäste erfolgt nicht nach demokratischem Proporz, sondern nach redaktionellen Erwägungen. Jede Sendung ist der Versuch, eine ergiebige Gesprächsrunde zu orchestrieren.”
3. “Projekt Herkules”: Springer-Chef Döpfner lockt “Bild”-Mitarbeiter mit Turbo-Prämie zum Ausscheiden (meedia.de, Gregory Lipinski)
Der Axel-Springer-Konzern will “die Kostenbasis durch strukturelle Anpassungen um insgesamt rund 50 Millionen Euro senken” und setzt vor allem beim Personal an. Möglichst viele “Bild”-Beschäftigte sollen mit Prämien dazu bewegt werden, freiwillig das Unternehmen zu verlassen. Eine Vorgehensweise, die man bei der “Welt” schon gewählt hatte.
4. Die Like-Fabrik (sueddeutsche.de, Svea Eckert & Simon Hurtz & Sören Müller-Hansen & Vanessa Wormer)
“SZ”, NDR und WDR liegt eine Liste mit Links zu knapp 90.000 Social-Media-Präsenzen vor, die von gekauften Likes des Like-Lieferanten “Paidlikes” profitierten. Wissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum hatten die unzureichend geschützten Daten der Website entnommen und zugänglich gemacht. Obwohl aus ihnen nicht ersichtlich wird, wer den Likekauf beauftragt und bezahlt hat, ermöglicht die Recherche interessante Einblicke in das Geschäftsmodell mit den gekauften “Gefällt mir”-Angaben und Herzen.
5. Polizisten können zwei Tage lang nicht twittern (netzpolitik.org, Marie Bröckling)
Auf Twitter wurden am Wochenende mehrere kleinere Polizei-Accounts zumindest zeitweise gesperrt. netzpolitik.org hat Ursachenforschung betrieben. Der Verdacht auf “Overblocking” liege nahe. Warum jedoch ausgerechnet die elf Polizei-Accounts betroffen waren, von denen die Sperrung bekannt wurde, sei unklar.
6. TikTok: Wir haben Videos von Polizeigewalt hochgeladen, dann wurden sie gelöscht (vice.com, Sebastian Meineck)
Kritischer Journalismus ist auf TikTok anscheinend nicht erwünscht, so eine mögliche Erkenntnis aus einem Experiment der “Vice”-Redaktion. Die fünf testweise hochgeladenen Videoaufnahmen von Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Zivilbevölkerung seien entweder gelöscht oder in ihrer Reichweite gedrosselt worden.
Im zurückliegenden Jahr haben wir hier im BILDblog wieder viel über Fehler geschrieben. Aber was genau sind das eigentlich: Fehler? Wie häufig passieren sie? Wie entstehen sie? Und was können Redaktionen gegen sie tun? Unser Autor Ralf Heimann hat sich in einer achtteiligen Serie mit all dem Falschen beschäftigt. Heute Teil 3: der Bestätigungsfehler.
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Der Arzt und Naturwissenschaftler Samuel Morton vermaß Mitte des 19. Jahrhunderts mehrere Tausend Schädel und zog daraus Rückschlüsse auf die Intelligenz von Menschen. Er behauptete, Belege für die Überlegenheit der “weißen Rasse” gefunden zu haben. 140 Jahre später untersuchte der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould die Ergebnisse und urteilte, sie seien ein “Mischmasch aus Pfusch und Mogelei”.
Ulrich und Johannes Frey schildern das Beispiel in ihrem Buch “Fallstricke – die häufigsten Denkfehler in Alltag und Wissenschaft”. Interessant ist es vor allem wegen der Pointe: Gould selbst fand in den Daten keinerlei Beweise für die These, dass Menschen verschiedener “Rassen” unterschiedlich intelligent sein könnten. Mortons Fehler erklärte er nicht durch Vorsatz oder Unaufmerksamkeit, sondern durch “durchgängige, einseitige Verzerrungen”. Später stellte sich allerdings heraus: Fehlerfinder Gould war genau der gleiche Fehler unterlaufen. Auch er hatte sich durchgängig verrechnet. Er selbst führte das auf seine Erwartungshaltung zurück. In einer späteren Auflage seines Buchs schrieb er, der Fehler “veranschaulicht auf meine Kosten das Kardinalprinzip des Buches”.
Und es gibt noch eine Pointe, um die wir den Text nach der Veröffentlichung ergänzt haben (hier in kursiver Schrift – Danke an Marc U. für den Hinweis), denn möglicherweise ist die Tatsache, dass dieses Beispiel sich verbreitet hat, Ergebnis des gleichen Denkfehlers.
Für eine Studie aus dem Jahr 2011, die im Buch von Ulrich und Johannes Frey (3. Auflage, 2011) noch nicht erwähnt ist, haben Wissenschaftler die Schädelsammlung von Samuel Morton neu vermessen und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass seine Daten korrekt waren. Sie stellen zwar in Frage, dass seine Erwartungen die Messungen verzerrt haben. Doch in einem Beitrag für das Magazin “New Scientist”, der im gleichen Jahr erschien, schreiben David DeGusta and Jason E. Lewis, zwei der Wissenschaftler, die an der Untersuchung beteiligt waren: “Goulds Studie und seine Ansicht, dass die Wissenschaft unweigerlich voreingenommen ist, wurde zur Konsensversion in der Wissenschaftsforschung. Goulds Behauptungen wurden selten oder nie in Frage gestellt.”
Das zeigt, wie tückisch dieses Phänomen ist: Wenn etwas gut ins Bild passt, werden wir schnell unkritisch. So schwer wäre es nicht gewesen, die Studie aus dem Jahr 2011 zu finden. Sie ist verlinkt in Samuel Mortons Wikipedia-Eintrag.
Das zugrundeliegende Prinzip nennt sich Bestätigungsfehler (Confirmation bias). Menschen bevorzugen Informationen, die zu ihren Überzeugungen passen. In einem “Geo”-Essay beschreibt Jürgen Schaefer eine Untersuchung des Neurowissenschaftlers Kevin Dunbar, der diese Verzerrung in Gehirnscans sichtbar gemacht hat: Informationen, die zu den eigenen Überzeugung passen, dürfen den frontalen Kortex passieren, alle übrigen werden abgewiesen.
Das führt dazu, dass Menschen immer neue Belege dafür finden, was sie eh schon denken — und sich dieses Wissen verfestigt. Das Phänomen ist unter Journalistinnen und Journalisten bekannt, und genau das ist Teil des Problems. Menschen, die den Bestätigungsfehler kennen, denken, sie wären vor ihm sicher (Bias blind spot). Doch das ist nicht der Fall. Er wirkt auch dann, wenn man ihn kennt. Samuel Morton ist also nicht allein mit dieser Schwäche.
Der Bestätigungsfehler ist allgegenwärtig. In den USA haben Untersuchungen zu verzerrten Darstellungen im Journalismus (Media bias) gezeigt, dass liberale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Medien tendenziell eher ein Übergewicht von konservativen Positionen ausmachen, während konservative Forscherinnen und Forscher eine Verzerrung hin zu liberalen Ansichten erkennen können.
Der deutliche Effekt der Erwartungshaltung zeigt den großen Einfluss vorgefasster Meinungen auf neutrale Daten
… schreiben Ulrich und Johannes Frey. Die Erwartung beeinflusst das Ergebnis. So funktioniert auch der Placebo-Effekt.
Menschen scheinen zudem eine Präferenz für Vertrautes zu haben. Das beschreibt der Besitztumseffekt (Endowment-Effekt). Wir schätzen den Wert von Gegenständen höher ein, wenn wir sie besitzen. Es deutet einiges darauf hin, dass das bei Informationen ähnlich ist.
Wir bevorzugen vertraute Informationen. Eine vertraute Information wird von uns als “wahre Information” behandelt
… schreiben Frey und Frey. Wenn wir eine neue Information erhalten und diese einer schon vorhandenen widerspricht, legen wir an die neue Information einen höheren Maßstab an als an die uns bekannte. Wir erinnern uns auch länger an all das, was unsere Meinungen stützt. Tests zeigen, “dass jeder Mensch bestätigende Daten bis zu drei Mal häufiger im Gedächtnis behält als falsifizierende”, so Frey und Frey.
Das begünstigt die Tendenz, bei einer Meinung zu bleiben, obwohl längst einiges gegen sie spricht. Im Journalismus verstärkt es die Neigung, an Thesen festzuhalten, wenn schon vieles darauf hindeutet, dass sie so nicht zutreffen können.
Studien zeigen, dass es nicht einmal hilft, Menschen darauf hinzuweisen, dass eine Information falsch ist (Conservatism bias). Unbewusst halten sie trotzdem an ihr fest. Die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai-Thi Nguyen-Kim beschreibt in einem Video ein Experiment, in dem Probandinnen und Probanden Abschiedsbriefe vorgelegt werden. Sie sollen einschätzen, ob die Briefe echt oder gefälscht sind. Unabhängig davon, ob sie wirklich richtig liegen, bekommen einige von ihnen die Rückmeldung, dass sie ein sehr gutes Gespür haben, während man anderen signalisiert, dass sie so gut wie immer falsch lagen. Im Anschluss klären die Versuchsleiter die Teilnehmerinnen und Teilnehmer darüber auf, dass alles nur inszeniert war, und bitten sie, einzuschätzen, wie gut sie wirklich waren. Das Ergebnis ist: Die Probandinnen und Probanden mit den positiven Rückmeldungen halten ihre wirkliche Leistung für überdurchschnittlich gut, die übrigen glauben, sie hätten eher unterdurchschnittlich abgeschnitten.
Das lässt Rückschlüsse auf die journalistische Arbeit zu. Es ist zum Beispiel ein Hinweis darauf, dass falsche Informationen nicht vollkommen dadurch aus der Welt geschafft werden können, dass man sie richtigstellt. Menschen korrigieren ihr Denken nur sehr langsam.
Der Bestätigungsfehler wirkt im Journalismus an vielen Stellen. Es fängt schon mit der Google-Recherche an. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen erzählt in seinem Buch “Die große Gereiztheit – Wege aus der kollektiven Erregung” von einer Untersuchung mit dem sperrigen Namen “Personal Web Search in the Age of Semantic Capitalism – Diagnosing the Mechanisms of Personalisation”. Forscher wollten herausfinden, wie der Google-Algorithmus die Recherche-Ergebnisse beeinflusst. Dazu legten sie Profile der Philosophen Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche und Michel Foucault an und trainierten Google jeweils mit Begriffen aus deren Büchern. Das Ergebnis:
Google personalisiert schon nach kurzer Zeit ziemlich radikal, vor allem jedoch im Feld der ersten zehn Suchergebnisse, die einem Nutzer angezeigt und aller Wahrscheinlichkeit nach geklickt werden. Im Durchschnitt waren 64 Prozent der Suchergebnisse spezifisch (…).
Personalisierte Suchergebnisse sind allerdings noch nicht einmal nötig, um Menschen zu den Ergebnissen zu führen, die sie suchen. Wer schon mal versucht hat, mithilfe von Google eine bestimmte Krankheit zu diagnostizieren, weiß: Mit so gut wie jedem Symptom lässt sich so gut wie jede Krankheit nachweisen. Und ungefähr so ist es bei der Recherche auch.
Das zeigt sich mitunter auch im Ergebnis. Die Medienwissenschafter Hans Mathias Kepplinger und Richard Lemke haben untersucht, wie Medien die Reaktorkatastrophe von Fukushima dargestellt haben (PDF). Eines ihrer Ergebnisse ist:
Je negativer sich Journalisten in den Meinungsformen äußerten, (…) desto eher kamen dort Politiker und Experten zu Wort, die die Kernenergie ablehnten und einen Ausstieg aus der Kernenergie verlangten.
Der Bestätigungsfehler wirkt natürlich auch beim Publikum, und das verstärkt den Effekt. Menschen sind zugänglicher für Nachrichten, die ihren Erwartungen entsprechen. Der Fehler ist eine Erklärung für den Erfolg von “Fake News”, Falschmeldungen oder falsch verstandenen Meldungen.
Das war zum Beispiel im April dieses Jahres zu beobachten, als die Nachricht “Die meisten Messerangreifer heißen Michael” aufgrund eines Missverständnisses die Runde machte. Die AfD hatte im saarländischen Landtag eine Anfrage gestellt, um zu erfahren, ob es auffällige Häufungen von bestimmten Vornamen bei Verdächtigen im Zusammenhang mit Messerattacken gibt. Es sah so aus, als hätte die Partei sich bei dem Versuch, ein rassistisches Vorurteil zu belegen, selbst entlarvt: Auf Platz 1 der Liste stand kein arabischer Name, sondern “Michael”. Viele teilten die Nachricht, weil sie wiederum AfD-Gegnern sehr gut ins Bild passte.
Später wies Stefan Niggemeier bei “Übermedien” darauf hin, dass es in der Liste nur um die Namen der deutschen Verdächtigen ging. Das stand zwar mitunter in den Meldungen. Aber viele hatten nur die Überschrift gelesen oder die Information ignoriert. Der Wunsch, die eigene Überzeugung bestätigt zu sehen, war stärker als der Zweifel.
Die Frage ist: Was kann man gegen den Bestätigungsfehler machen?
Zuallererst: sich bewusst machen, dass man ihm ausgeliefert ist. Sich zwingen, Dinge zu überprüfen, auch wenn sie offensichtlich erscheinen. Zweifeln. Der Philosoph und Publizist Daniel-Pascal Zorn schlägt vor:
Um der “Confirmation Bias” zu entgehen, muss man darauf achten, die eigene Vorannahme als Annahme und nicht schon als Tatsache zugrunde zu legen. Eine Annahme kann sich immer noch als falsch erweisen — eine Tatsache nicht mehr.
Für Journalistinnen und Journalisten bedeutet das: Sie sollten sich auch während ihrer Recherche immer wieder die Frage stellen: Stimmt meine These überhaupt? Kann es nicht auch anders sein? Und sie sollten bewusst auch nach Argumenten suchen, die gegen die Vermutung sprechen.
Immer wieder das eigene Handeln zu hinterfragen, schaltet den Bestätigungsfehler zwar nicht vollkommen aus, aber in vielen Fällen kann es Fehlschlüsse verhindern. Und für den Fall, dass der Bestätigungsfehler sich trotzdem durchsetzt, können Journalistinnen und Journalisten noch etwas anderes machen: offenlegen, was zu einer Verzerrung führen könnte. Kritische Verbindungen verraten. Dafür sorgen, dass Transparenz besteht.
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Teil 1 unserer “Kleinen Wissenschaft des Fehlers” gibt es hier. Und Teil 2 hier.
1. Jahresbilanz der Pressefreiheit (reporter-ohne-grenzen.de)
Zum Jahresende veröffentlicht Reporter ohne Grenzen die “Jahresbilanz der Pressefreiheit” (PDF). 2019 seien mindestens 49 Medienschaffende im Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet worden. Die gefährlichsten Länder für sie seien Syrien, Mexiko, Afghanistan, Pakistan und Somalia gewesen. 389 Medienschaffende hätten zum Stichtag 1. Dezember im Gefängnis gesessen, fast die Hälfte von ihnen in nur drei Ländern: China, Ägypten und Saudi-Arabien.
2. Ausufernde Jugendgewalt? (community.beck.de, Henning Ernst Müller)
Strafrechtsprofessor Henning Ernst Müller berichtet über eine gerade veröffentlichte kriminalstatistische Studie zur Jugendkriminalität. Sein Resümee: “Die Jugend ist in der vergangenen Dekade nicht gewalttätiger geworden, sondern Jugendgewalt ist — im Gegenteil — deutlich zurückgegangen. Derzeit spricht viel dafür, dass dieser Trend anhält, auch wenn die Utopie einer gewaltfreien Gesellschaft wohl eine bleiben wird.”
3. Ein koksender Koch im TV, ein Joke in einem Nebensatz, eine Abmahnung der Kanzlei Höcker – und warum ich vielleicht ein bisschen Unterstützung gebrauchen könnte (kraftfuttermischwerk.de, Ronny Kraak)
Blogger Ronny Kraak (“Kraftfuttermischwerk”) hat unangenehme Anwaltspost bekommen: Die in vielerlei Hinsicht bekannte Anwaltskanzlei Höcker hat ihm eine Abmahnung zukommen lassen, die er nicht unwidersprochen lassen will. Wenn da nicht die Sache mit dem Geld wäre: “Mein Problem: der Bums könnte mich am Ende um die 5000 Euro kosten, wenn ein Gericht dann halt für die Rechtsauffassung der Kanzlei Höcker entscheidet, was nicht sicher ist, denn mit dieser greifen auch die hin und wieder mal ins Klo. Auch mit anderen Dingen, aber um die soll es gerade nicht gehen.”
4. Unterwegs im Ausland: die Arbeit als Korrespondent/in (anchor.fm, Levin Kubeth, Audio: 1:15:40 Stunden)
Levin Kubeth unterhält sich im Medienpodcast “Unter Zwei” mit Fabian Reinbold, Washington-Korrespondent von t-online.de, und mit Karoline Meta Beisel, EU-Korrespondentin der “Süddeutschen Zeitung” in Brüssel. Es geht unter anderem um die Schwierigkeiten und Besonderheiten derartiger Auslandseinsätze, ihre Arbeitsabläufe und die Frage, wie es ist, in einem kleinen Team über ein ganzes Land zu berichten.
5. Roger Köppels seltsame Nähe zu den chinesischen Kommunisten (nzz.ch, Simon Hehli & Daniel Gerny)
Die “NZZ” berichtet über eine “bemerkenswerte Kooperation” der rechtslastigen Schweizer Wochenzeitung “Weltwoche” mit der chinesischen Botschaft. Der “NZZ” lägen Kopien von Mails vor, die darauf hindeuten würden, dass die “Weltwoche” für ihre chinafreundliche Berichterstattung mit Gegenleistungen belohnt werde: Die chinesische Botschaft habe chinesischen Firmen, die in der Schweiz tätig sind, die Übernahme der Kosten für Werbung in dem Blatt angeboten. Dabei gehe es um ganzseitige Anzeigen im Wert von jeweils über 10.000 Franken.
6. Gelbkehlchen (sueddeutsche.de, Maresa Sedlmeir)
Maresa Sedlmeir erzählt von einem Synchronauftrag für die “Simpsons”. Bei dem interessanten Blick hinter die Kulissen geht es auch um Kulturunterschiede hinsichtlich Wertschätzung und Bezahlung: Während in den USA die “Simpsons”-Sprecher und -Sprecherinnen gefeierte und hoch bezahlte Stars seien, könne in Deutschland keine der “Simpsons”-Stimmen ausschließlich von dieser Arbeit leben.
7. Fehlerforschung: Jeder zweite Artikel hat Mängel (bildblog.de, Ralf Heimann)
Ausnahmsweise ein (zusätzlicher) Link in eigener Sache: Im zurückliegenden Jahr haben wir hier im BILDblog viel über Fehler geschrieben. Aber was genau sind das eigentlich: Fehler? Wie häufig passieren sie? Wie entstehen sie? Und was können Redaktionen gegen sie tun? Unser Autor Ralf Heimann hat sich in einer achtteiligen Serie mit all dem Falschen beschäftigt. Hier Teil 1: die Fehlerforschung.
Im baden-württembergischen Gerlingen ist, hehe, in der Nacht zu Mittwoch ein Auto, prust, in eine Hauswand gekracht, und, gleich kommt die Pointe, am Steuer saß, zwinkerzwinker, eine Frau!
Oder wie “Bild” schlagzeilt:
Ja, doch, die “Bild”-Redaktion bewegt sich noch immer auf dem Niveau von eigentlich längst eingemotteten Stammtischkloppern wie “Frau am Steuer, das wird teuer”: Es sei “keine Bombe” gewesen, die dort am Unfallort eingeschlagen ist, …
sondern ein BMW. Mit einer Frau (26) am Steuer, morgens um 4 Uhr.
In den 43 Zeilen, die der Artikel aus der Stuttgart-Ausgabe der “Bild”-Zeitung umfasst, war zwar Platz für eine Beschreibung der “großen Steinbrocken”, die nun “auf dem schönen, weißem Ledersofa liegen”, und für den Hinweis, dass die Fahrerin “in einer Linkskurve (…) die Kontrolle über ihren Wagen” verlor; die wahrscheinlichen Unfallursachen passten aber leider nicht mehr hinein. Neben zu hoher Geschwindigkeit dürfte das vor allem Alkohol gewesen sein. Das zuständige Polizeipräsidium Ludwigsburg schreibt in seiner Pressemitteilung jedenfalls:
Vermutlich infolge von Alkoholeinwirkung und nicht angepasster Geschwindigkeit ist die 26-jährige Fahrerin (…) von der Fahrbahn abgekommen (…)
Bei der Autofahrerin stellten Polizeibeamte Anzeichen von Alkoholeinwirkung fest und veranlassten die Entnahme einer Blutprobe.
Bei “Bild” machen sie daraus lieber: Unfallursache: Frau.
1. Apokalyptische Writer (uebermedien.de, Samira El Ouassil)
Samira El Ouassil kommentiert auf “Übermedien” den Weltuntergangs-Alarmismus vieler Medien angesichts des SPD-Mitgliederentscheids: “Der seltsam passiv-aggressive Sound der Stücke ist um keinen defätistischen Superlativ verlegen und klingt stellenweise, als sei man eingeschnappt darüber, dass die Wahl anders ausging, als vorhergesagt; kompensatorisch musste sie ins Katastropheske hinabgeschrieben werden.” (Dass der Text nicht, wie vorgesehen, hinter die Paywall gepackt wurde, ist übrigens der Vergesslichkeit eines der “Übermedien”-Verantwortlichen zu verdanken.)
2. TikToks Obergrenze für Behinderungen (netzpolitik.org, Chris Köver & Markus Reuter)
netzpolitik.org hat die Moderationsregeln des aus China stammenden Sozialen Videonetzwerks TikTok eingesehen und dabei allerlei besorgniserregende Besonderheiten festgestellt (Teil 1, Teil 2). Im aktuellen Beitrag geht es um den Umgang mit “Bildern von Subjekten, die hochgradig verwundbar für Cyberbullying sind” wegen ihrer “physischen oder mentalen Verfassung”. Der Versuch, Mobbing zu bekämpfen, habe bei TikTok bedeutet, dass man Videos von Menschen mit Behinderungen, aber auch Videos von queeren und dicken Nutzern und Nutzerinnen weniger oft angezeigt beziehungsweise sie “versteckt” habe.
3. “Wilde Kerle”, zahme Zahlen: Warum Sparer Kai Diekmanns “Zukunftsfonds” links liegen lassen (meedia.de, Gregory Lipinski)
Mehr als 20 Milliarden Euro wollten Ex-“Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann und sein Geschäftspartner für ihren “Zukunftsfonds” einsammeln. Nach zwei Jahren sind es gerade mal 12 Millionen geworden. Eines von Diekmanns weiteren Projekten ist das Online-Finanzmagazin “Zaster”, das unabhängig vom “Zukunftsfonds” sein soll, es aber irgendwie doch nicht so ganz zu sein scheint.
4. Reporter entlassen (buzzfeed.com/de, Pascale Müller)
Wie “BuzzFeed News” berichtet, habe der Berliner “Tagesspiegel” einem Reporter gekündigt, dem mehrere Frauen vorgeworfen hatten, sie bedrängt, gestalkt und sexuell belästigt zu haben. Der Reporter soll über Jahre hinweg seine Stellung gegenüber Praktikantinnen, Volontärinnen und freien Journalistinnen ausgenutzt haben. Zum Hintergrund siehe auch: Ein Reporter des “Tagesspiegel” soll Kolleginnen bedrängt, gestalkt und sexuell belästigt haben (buzzfeed.com, Pascale Müller).
5. Wir fragen die Parteimitgliedschaft nicht ab. (planet-interview.de, Jakob Buhre)
Jakob Buhre von “Planet Interview” hat sich am Rand der ARD-Pressekonferenz mit dem ARD-Rundfunkratsvorsitzenden Lorenz Wolf unterhalten und ihn in bewährter Hartnäckigkeit dazu befragt, was es mit den Parteibüchern in den Rundfunkräten auf sich hat. Buhre hat dazu auch eine Liste erstellt (PDF), die zeigt, von welchen Mitgliedern des Rundfunkrats die Sender NDR und BR die Parteimitgliedschaft transparent machen und von welchen nicht.
6. Taub für die falschen Töne (faz.net, Harald Staun)
“FAZ”-Redakteur Harald Staun hat sich die für den Reporterpreis nominierten Arbeiten angesehen, den ersten Reporterpreis der Post-Relotius-Ära. Staun will gar nicht glauben, “wie taub die Jury immer noch für die falschen Töne ist, die sich schon von Ferne anhören wie das Detailgeklingel, welches Claas Relotius so perfekt beherrschte, bis in die Satzmelodie hinein”. Mittlerweile wurde der Reporterpreis vergeben, unter anderem an den “lautesten Text dieses Jahres”.