Wenn heute niemand aus der SPD-Führung Verantwortung für das Ergebnis bei der Europawahl übernimmt, und keiner der Parteioberen zurücktritt, könnte das daran liegen, dass sie im Willy-Brandt-Haus möglicherweise nur den “Tagesspiegel” lesen. Denn auf dessen heutiger Titelseite haben die Sozialdemokraten gestern starke 4,8 Prozentpunkte hinzugewonnen. Die Grünen sind hingegen große Verlierer:
Die linken, dickeren Säulen geben bei jeder Partei das Ergebnis der Hochrechnung des ZDF von gestern Abend um 22:25 Uhr an. Diese Werte stimmen soweit. Die rechten, schmaleren Säulen sollen das Ergebnis der Europawahl 2014 darstellen. Und da ist einiges falsch.
Die 27,3 Prozent von vor fünf Jahren, die der “Tagesspiegel” den Grünen zuschreibt, gehören eigentlich zur SPD. Und genauso andersherum: Die 10,7 Prozent, die laut “Tagesspiegel” die SPD 2014 erreicht hat, gehören zu den Grünen. Bei AfD, FDP und Linken ist das Durcheinander noch etwas größer: Die 7,4 Prozent aus 2014 gehören zur Linken, die 7,1 Prozent zur AfD und die 3,4 Prozent zur FDP. Die AfD hat im Vergleich zu 2014 also etwas stärker dazugewonnen als in der “Tagesspiegel”-Grafik angegeben, die FDP hat nicht Prozentpunkte verloren, sondern gewonnen, die Linken hingegen haben nicht gewonnen, sondern verloren.
Der Ursprung dieses multiplen Fehlers dürfte darin liegen, dass der “Tagesspiegel” in der Grafik nicht auf die sich ändernde Rangliste der Parteien reagiert hat. Zum Beispiel bei der FDP: Die war 2014 noch sechststärkste Kraft mit 3,4 Prozent. Während die Partei mit ihren 5,6 Prozent gestern auf Platz 5 vorrückte, hat die “Tagesspiegel”-Redaktion die 3,4 Prozent der FDP von 2014 auf Platz 6 stehen lassen — und so den Linken zugeordnet, die auf diesen Rang abgerutscht sind. Genauso lassen sich die falschen 2014-er-Werte von Grünen, SPD und AfD erklären.
Immerhin fängt die Überschrift auf der “Tagesspiegel”-Titelseite die fehlerhafte Grafik etwas ab: “Grüne jubeln, Groko stürzt ab”.
Weitere sich biegende Balken und falsche Torten gibt es in unserem Archiv.
Nachtrag, 17:28 Uhr: Ein BILDblog-Leser schreibt uns, dass auf der Titelseite seiner “Tagesspiegel”-Ausgabe eine korrekte Wahl-Grafik zu sehen sei.
Der Screenshot, den wir weiter oben verwenden, stammt aus der E-Paper-Version. Und auch bei der gedruckten Variante gibt es Exemplare mit der fehlerhaften Grafik.
Ein Twitter-User entdeckte Parallelen zwischen dem Kommentar des AfD-Vorsitzenden und einer Rede, die Adolf Hitler am 10. November 1933 vor Arbeitern in Berlin in Siemensstadt hielt.
Das Thema schaffte es heute sogar auf die Titelseite der Print-Ausgabe:
(…) Diese globalisierte Klasse sitzt in den international agierenden Unternehmen, in Organisationen wie der UN, in den Medien, Start-ups, Universitäten, NGOs, Stiftungen, in den Parteien und ihren Apparaten, und weil sie die Informationen kontrolliert, gibt sie kulturell und politisch den Takt vor. Ihre Mitglieder leben fast ausschließlich in Großstädten, sprechen fließend Englisch, und wenn sie zum Jobwechsel von Berlin nach London oder Singapur ziehen, finden sie überall ähnliche Appartements, Häuser, Restaurants, Geschäfte und Privatschulen.
Das hat zur Folge, dass die Bindung dieser neuen Elite an ihr jeweiliges Heimatland schwach ist. In einer abgehobenen Parallelgesellschaft fühlen sie sich als Weltbürger. Der Regen, der in ihren Heimatländern fällt, macht sie nicht nass. Sie träumen von der one world und der Weltrepublik. Da dieses Milieu ,sexy’ ist, hat es auch auf Teile der Gesellschaft großen Einfluss, denen der Zutritt dorthin versperrt bleibt.
Und Adolf Hitler hatte, wie der “Tagesspiegel” dokumentiert, 1933 vor Siemens-Arbeitern gesagt:
(…) Der Völkerstreit und der Haß untereinander, er wird gepflegt von ganz bestimmten Interessenten. Es ist eine kleine wurzellose internationale Clique, die die Völker gegeneinander hetzt, die nicht will, daß sie zur Ruhe kommen. Es sind das die Menschen, die überall und nirgends zuhause sind, sondern die heute in Berlin leben, morgen genauso in Brüssel sein können, übermorgen in Paris und dann wieder in Prag oder Wien oder in London, und die sich überall zu Hause fühlen. (Zuruf aus dem Publikum: “Juden!”)
Es sind die einzigen, die wirklich als internationale Elemente anzusprechen sind, weil sie überall ihre Geschäfte betätigen können, aber das Volk kann ihnen gar nicht nachfolgen, das Volk ist ja gekettet an seinen Boden, ist gekettet an seine Heimat, ist gebunden an die Lebensmöglichkeiten seines Staates, der Nation.
Nun kann man dort durchaus Ähnlichkeiten erkennen. Vielleicht hat Gauland aber gar nicht, wie der “Tagesspiegel” vermutet, bei Hitler abgeschrieben, sondern — beim “Tagesspiegel”.
Der veröffentlichte 2016 nämlich einen Gastbeitrag von Michael Seemann, in dem es hieß:
Diese neue globalisierte Klasse sitzt in den Medien, in den StartUps und NGOs, in den Parteien, und weil sie die Informationen kontrolliert (“liberal media”, “Lügenpresse”), gibt sie überall kulturell und politisch den Takt vor.
Gauland in der “FAZ”:
Diese globalisierte Klasse sitzt in den international agierenden Unternehmen, in Organisationen wie der UN, in den Medien, Start-ups, Universitäten, NGOs, Stiftungen, in den Parteien und ihren Apparaten, und weil sie die Informationen kontrolliert, gibt sie kulturell und politisch den Takt vor.
“Tagesspiegel” 2016:
Es ist eine Klasse, die fast ausschließlich in Großstädten lebt, die so flüssig Englisch spricht wie ihre Muttersprache, für die Europa kein abstraktes Etwas ist, sondern eine gelebte Realität, wenn sie zum Jobwechsel von Madrid nach Stockholm zieht.
Gauland:
Ihre Mitglieder leben fast ausschließlich in Großstädten, sprechen fließend Englisch, und wenn sie zum Jobwechsel von Berlin nach London oder Singapur ziehen, finden sie überall ähnliche Appartements, Häuser, Restaurants, Geschäfte und Privatschulen.
Nur der “Tagesspiegel” selbst scheint noch nichts bemerkt zu haben. Aber vielleicht bringt er’s ja morgen auf der Titelseite: Tagesspiegel verwechselt Tagesspiegel mit Hitler.
Mit Dank an Stefan S. und Alexander H. für die Hinweise!
Nachtrag, 11. Oktober: Im Interview mit t-online.de erzählt Michael Seemann, dass er sich sehr sicher sei, dass Alexander Gauland bei ihm abgeschrieben hat:
Der Beitrag von Herrn Gauland in der “FAZ” enthält mit leichten Abwandlungen eins zu eins Sätze aus meinem Text für den “Tagesspiegel”. Das sind eindeutige Plagiate. Wie ein Fingerabdruck. Das hat mich erschreckt.
Gauland hingegen lässt einen Sprecher ausrichten, dass er den Text von Seemann nicht gekannt habe.
So sieht die heutige Titelseite des “Tagesspiegel” aus:
Die Redaktion hat sich dazu entschlossen, auf der ersten und auf den drei folgenden Seiten große Fotos aus Syrien zu drucken, die das schreckliche Leid der Menschen dort zeigen. Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff schreibt dazu:
Manchmal sagt ein Bild mehr als tausend Worte. Darum zeigen wir heute viele Bilder: Damit sie uns sagen, was in Syrien geschieht. Wir hören davon, wir berichten darüber, so gut es geht, so gut wir können, wir kommentieren, was sein sollte — aber nichts ist authentischer als die Authentizität des Augenblicks.
Und, gerichtet an seine Leser:
Sie mögen einwenden, dass wir auf eine andere, durchdachte, reflektierte, intellektualisierte Ebene heben sollten, was dort, in Syrien, in Aleppo geschieht. Und Sie hätten recht mit dem Einwand. Aber das haben wir getan, Mal um Mal. Das werden wir auch weiter tun, vermutlich noch viele Male. Weil die Tragödie, steht zu befürchten, mit dem Fall von Aleppo nicht enden wird. Heute aber unterbrechen wir den Fluss der Nachrichten und Analysen, der Worte, der vielen tausend. Wir zeigen Bilder. Und das, was Menschen, die in diesen Bildern wohnten, der Welt geschrieben haben.
Casdorff beendet seinen Text mit dem Satz: “Wir hoffen, Sie verstehen. Die Bilder. Und uns.”
Es klingt nach einer Rechtfertigung, die eigentlich gar nicht nötig ist. Die Entscheidung der “Tagesspiegel”-Redaktion ist völlig legitim und in unseren Augen eine gute. Genauso gut finden wir beispielsweise auch, dass Bild.de heute morgen die Startseite für eine Stunde komplett der grausamen Situation in Aleppo gewidmet hat. Mediale Aufmerksamkeit für die Menschen in Aleppo und Kritik an den Gräueltaten des Assad-Regimes sind notwendig.
Was so gar keine glückliche Entscheidung des “Tagesspiegel” war: Eine — vermutlich schon länger geplante — Werbeaktion für heute nicht abzusagen. Denn so sieht die “Tagesspiegel”-Titelseite aus, wenn man sie in Berlin am Kiosk kauft:
Einem leidenden Jungen aus Aleppo einen dicken Aufkleber ins Gesicht zu pappen, der frohe Weihnachten wünscht und “15% Rabatt auf Schmuck und Uhren” im Onlineshop eines edlen Juweliers verspricht, ist so grotesk, dass es fast schon wieder ein treffender Kommentar zur aktuellen Lage in dieser Welt und zum Desinteresse vieler Menschen an der Situation in Syrien sein könnte. Leider ist es aber nur eine völlig deplatzierte Werbung.
Mit Dank an Joachim P. für den Hinweis!
Nachtrag, 16:59 Uhr: Der “Tagesspiegel” hatte sich heute morgen für den Fauxpas entschuldigt:
Nachtrag, 16. Dezember: Auf der Titelseite der heutigen Ausgabe hat sich die “Tagesspiegel”-Redaktion für die “Kombination von Titelbild und Werbung” entschuldigt:
Bundesjustizminister Heiko Maas und seine Frau haben sich getrennt. Der Anwalt der beiden hat die Trennung am vergangen Mittwoch bekanntgegeben, seitdem haben sie sich nicht mehr öffentlich geäußert.
„Bild“ vermeldete das …
… am Mittwochabend online und wusste am Tag darauf in der Print-Ausgabe exklusive Details zu berichten:
Dass der Minister und seine Frau darum gebeten hatten, „ihre Privatsphäre strikt zu respektieren“, steht in dem Artikel natürlich nicht.
Am nächsten Tag ging es weiter, diesmal nannte “Bild” auch den Namen der angeblichen Affäre:
(Wir haben die Frau hier und in den folgenden Screenshots unkenntlich gemacht.)
Genüsslich gibt „Bild“-Reporter Michael Schacht in dem Artikel das „Getuschel“ wieder, das es im “Umfeld” der beiden gebe, und erklärt: „Wie die Ehe von SPD-Hoffnungsträger Maas zerbrach“.
Doch so eklig dieser Voyeurismus auch ist — rechtlich gesehen ist der Fall nicht ganz eindeutig. “Bild” greift zwar in die Privatsphäre der Betroffenen ein, doch das heißt nicht, dass sie vor Gericht automatisch Recht bekämen, sollten sie dagegen vorgehen.
Rechtsanwalt Ralf Höcker sagte 2014 in der „taz“ auf die Frage, ob es zulässig sei, über die Affäre eines Politikers zu berichten:
Das hängt vom Vorleben ab. Wer sein Privatleben schon vorher öffentlich macht, der muss auch später unangenehme Berichterstattung dulden. Man müsste also die Archive nach freiwilligen privaten Selbstveröffentlichungen (…) durchsuchen, um zu wissen, was er sich gefallen lassen muss.
Das entscheidende Kriterium ist, ob man selber in guten Zeiten seine Familie zum Gegenstand öffentlicher Wahrnehmung macht, die Frau präsentiert, Homestorys zulässt.
Im vergangenen Jahr trafen sich Heiko Maas und die Schauspielerin zum Doppel-Interview mit der “Bild am Sonntag”, um über ihre Freundschaft zu plaudern. Ob das genug “Homestory” ist, um auch über eine (angebliche) Affäre berichten zu dürfen, werden im Zweifel Gerichte entscheiden müssen.
Ob man alles machen muss, was man machen darf, ist eine andere Frage. Man könnte auch Privates einfach im Privaten lassen. Oder zumindest abwarten, bis sich die Betroffenen selbst zu Wort melden.
Eine ganze Reihe von Medien hat sich entschieden, nicht abzuwarten und stattdessen die Affärengerüchte der „Bild“-Zeitung nachzuplappern. Darunter natürlich Klatschmedien wie “Gala”, vip.de und stern.de:
Aber auch Medien wie der „Tagesspiegel“, die “WAZ” und das „Handelsblatt:
Die Gerüchte gingen ins Ausland …
… wurden zum Clickbait …
… und dienten selbst den Fremdenfeinden von „Politically Incorrect“ für was auch immer:
Am eifrigsten aber sind die Leute von „Bild“. Vergangenen Samstag gab’s die dritte Titelstory.
Heiko Maas hatte sich zwar immer noch nicht geäußert („WARUM SCHWEIGT DER MINISTER?“), und die Schauspielerin „ließ BILD über ihr Management wissen, dass es eine gemeinsame Erklärung geben werde“. Doch so lange wollte das Blatt nicht warten. Reporter Michael Schacht hatte sich ja ohnehin bereits im “Umfeld” der beiden umgehört, was ihm reichte, um das “Liebes-Wirrwarr” zu konstruieren und einen der schmierigsten “Bild”-Artikel seit Langem abzuliefern:
Die Schauspielerin ist maaslos verliebt. Er hat das Direktmandat für ihr Herz gewonnen.
Der Minister leidet, wie aus seinem Umfeld zu hören ist. Nicht nur seine Ehe ist zerbrochen, er weiß auch, dass jedes Wort zu viel nun politisch riskant wäre, jedes Wort zu wenig aber seine neue Liebe aufs Spiel setzt.
[Die Schauspielerin] ist eine selbstbewusste Frau. Sie kennt die Spielregeln auf Berlins glattem gesellschaftlichen Parkett, wo Macht und Glamour sich umarmen. Da muss man schweigen können. Aber geht das, wenn zwei Herzen so laut schlagen, dass es ganz Berlin hört?
Am nächsten Tag: nächste Titelstory.
Die Reporter hatten anscheinend vor dem Haus der Schauspielerin campiert; im Blatt zeigen sie ein Foto, auf dem sie gerade das Haus verlässt und zum Auto geht. Offenbar sind sie ihr auch weiter gefolgt (sie wissen zumindest, wohin sie dann gefahren ist).
Und sie bleiben dran. Heute der nächste Artikel.
Der nächste Akt in diesem „Boulevardtheater mit Starbesetzung“, wie es die „Bild am Sonntag“ nennt. Als wäre es bloß ein Spiel, eine weitere amüsante Aufführung auf dem „Klatsch-Parkett“ („Bild“).
Um dieses Spiel zu beenden, bleibt Maas und der Schauspielerin im Grunde nur, sich öffentlich dazu zu äußern oder sich juristisch dagegen zu wehren. In jedem Fall haben sie es mit einem verdammt unbequemen Gegner zu tun.
Anwalt Eisenberg sagte damals im Interview mit dem „Freitag“ noch:
Die Bild ist jedenfalls besonders rücksichtslos, und sie müssen überhaupt nicht aufs Geld achten. Wenn ein Politiker sich mit der Bild anlegt, hat er erst einmal schlechte Karten. Politiker haben ja in der Regel kein größeres einsetzbares Vermögen für eine Auseinandersetzung mit einem weltweit operierenden Konzern, der Milliardengewinne macht. Ich habe noch keinen einzigen Politiker gesehen, der in einer echten Krise das Geld hatte oder aufbringen wollte, der Bild Paroli zu bieten und die 80.000 Euro oder so Prozesskosten zu riskieren.
Mir hat kürzlich ein Richter gesagt, der in dem anschließenden Urteil die Rechtswidrigkeit der Veröffentlichung feststellte: „Ihr kriegt den Deckel sowieso nicht mehr zu.“ Das ist genau das Kalkül: Wenn die Sache in der Welt ist, fragt niemand danach, ob die Medien berechtigt waren, sie in die Welt zu setzen. Sie ist dann nicht mehr rückholbar. Und genau darauf setzen die Medien.
Sie haben es womöglich mitbekommen: Jakob Augstein, Herausgeber der Wochenzeitung “Der Freitag”, sieht sich Antisemitismus-Vorwürfen ausgesetzt.
Die deutschen Medien schreiben dazu:
Das amerikanisch-jüdische Simon-Wiesenthal-Center (SWC) hat wieder einmal mit den jährlichen “Top Ten der Antisemiten und Israelkritikern” für Schlagzeilen gesorgt. (freitag.de)
Der Herausgeber der Berliner Wochenzeitung “Der Freitag”, Jakob Augstein, gehört nach Meinung des Simon-Wiesenthal-Zentrums in den USA zu den zehn derzeit wichtigsten Antisemiten.
(epd)
Das Simon Wiesenthal Center hatte Augstein auf Platz neun der Liste mit zehn Antisemiten für das Jahr 2012 gesetzt.
(Reuters)
Jakob Augstein auf die Liste der weltweit größten Antisemiten zu setzen ist ein Fehler des Wiesenthal-Zentrums, der fassungslos macht.
(“Neue Osnabrücker Zeitung”)
Die US-Menschenrechtsorganisation hatte Augstein wegen Israel-kritischer Äußerungen auf ihre Liste der zehn schlimmsten Antisemiten der Welt gesetzt.
(dpa)
Das weltweit angesehene Wiesenthal-Zentrum hatte Augstein auf Platz neun eines Rankings der schlimmsten Judenfeinde gesetzt.
(dapd)
Am vorvergangenen Donnerstag veröffentlichte das Simon Wiesenthal Center in Los Angeles seine aktuelle “Top Ten” der schlimmsten Antisemiten in aller Welt, die es seit 2010 immer gegen Jahresende gibt.
(“Der Spiegel”)
Der Journalist Jakob Augstein ist vom Wiesenthal Center unter die Top Ten der weltweit gefährlichsten antisemitischen und anti-israelischen Verleumder gewählt worden. (sueddeutsche.de)
Als einziger Deutscher steht “Freitag”-Herausgeber Jakob Augstein in der “Top 10” der Antisemiten und Israel-Verunglimpfer – in einer Reihe mit Holocaustleugnern wie Mahmoud Ahmadinedschad. (tagesspiegel.de)
Das Simon Wiesenthal Zentrum in Los Angeles hat vor Kurzem den deutschen Journalisten Jakob Augstein auf Platz 9 seiner jährlichen Liste der schlimmsten Antisemiten gesetzt. (tagesschau.de)
Eine “Liste der schlimmsten Antisemiten”, da kann man sich natürlich was drunter vorstellen — so ein bisschen in der Art der berühmt-berüchtigten “Ten Most Wanted” des FBI.
Allerdings gibt es diese Liste gar nicht.
Was das Simon Wiesenthal Center veröffentlicht hat (PDF), ist die “2012 Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs”, also die Top Ten der anti-semitischen bzw. anti-israelischen Verunglimpfungen im Jahr 2012.
Das erklärt auch, warum so wenige Personen und Organisationen, die 2011 (PDF) und 2010 (PDF) auf dieser Liste standen (u.a. Thilo Sarrazin, Lars von Trier, Oliver Stone, aber auch Yahoo!, Facebook und Twitter als Platzhalter für “social media”), in der 2012er Edition auftauchen: Sie sind im vergangenen Jahr einfach nicht mit Äußerungen aufgefallen, die das Simon Wiesenthal Center als anti-semitisch bzw. anti-israelisch eingestuft hat.
Dieser Unterschied ist nicht ganz unbedeutend. Harald Martenstein etwa, Dampfplauderer beim “Berliner Tagesspiegel”, schreibt (auch bei “6 vor 9” verlinkt):
Nicht die Neonazis sollen also Deutschlands schlimmste Judenhasser sein – nein, ein Journalist, der gegen Israels Regierung polemisiert. Wenn Jakob Augstein Deutschlands schlimmster Antisemit wäre, dann hieße dies, dass es in Deutschland keinen wirklich gefährlichen Antisemitismus mehr gibt. Eigentlich stellt das Wiesenthal-Zentrum Deutschland ein prima Zeugnis aus.
Dabei behauptet das Simon Wiesenthal Center mit seiner Liste gar nicht, dass Augstein “Deutschlands schlimmster Antisemit” sei und damit “schlimmer” als Neonazis. Es hält lediglich fünf Augstein-Zitate für derart anti-semitisch bzw. anti-israelisch, dass es diese auf Platz 9 der schlimmsten Verunglimpfungen gesetzt hat.
Über die Einschätzung dieser Zitate als anti-semitisch bzw. anti-israelisch kann man trefflich streiten. Aber es hülfe bei diesem Streit, wenn er auf der Grundlage dessen geführt würde, was das Simon Wiesenthal Center tatsächlich behauptet.
Sie sind längst eine Art Medienfolklore: Berichte über wild gewordene Verfechter der “Political Correctness”, die uns alles nehmen wollen, was unsere abendländische Kultur einmal ausgemacht hat. Sie kommen häufig aus Großbritannien, wo eine hysterische Lügenpresse mit ihnen reaktionäre Kampagnen macht. Sie werden in Deutschland gern über Internetseiten wie das Polemikerportal “Die Achse des Guten” oder das islamfeindliche Blog “Politically Incorrect” verbreitet. Und landen am Ende zuverlässig in den vermeintlich seriösen deutschen Medien — selbst wenn die Unwahrheiten und Übertreibungen der Originalberichte zu diesem Zeitpunkt längst vollständig öffentlich dokumentiert sind.
Matthias Thibaut verbreitete gestern im Berliner “Tagesspiegel” die Mär, dass die BBC die traditionelle Bennennung der Zeitrechnung nach Christi Geburt abgeschafft habe. In der Online-Version seines Artikels heißt es schlicht und falsch:
Weil der Sender sein multiethnisches Publikum nicht verärgern will, soll künftig nur noch von vor oder nach der “gebräuchlichen Zeitrechnung” die Rede sein, statt von vor oder nach Christi.
Thibaut hat das in der “Daily Mail” gelesen, einer notorisch unzuverlässigen Quelle, insbesondere wenn es um die verhasste BBC geht, und unbesehen geglaubt.
Der kleine faktische Kern dieser Meldung ist, dass das Religions-Ressort der BBC-Internetseite die Bezeichnungen “BCE”/”CE” (“Before Common Era” / “Common Era”) als “religiös-neutrale Alternative” zu “BC”/”AD” (Vor Christus / Im Jahr des Herrn) verwendet, um nicht-christliche Besucher der Seiten nicht abzustoßen.
Ein BBC-Sprecher betonte auf Nachfrage des “Guardian”, dass “BC” und “AD” die Standard-Bezeichnungen im Programm blieben. Es stehe Einzelnen jedoch frei, davon abzuweichen.
Der “Tagesspiegel” hingegen behauptet, die BBC streiche Christus aus der Zeitrechnung, und sieht sich an schlimmste Dystopien erinnert:
George Orwell hatte bekanntlich die BBC im Sinn, als er in seinem Roman “1984” das “Ministerium für Wahrheit” beschrieb. Diesem Erbe scheint die “Auntie” nun alle Ehre zu machen.
Der BBC glaubt der Londoner “Tagesspiegel”-Korrespondent nicht, dafür aber der berüchtigten “Daily Mail”-Kolumnistin Melanie Phillips:
Melanie Phillips, eine jüdische, rechtskonservative Kommentatorin, erinnerte daran, dass in einigen Gemeinden Weihnachten bereits durch das Kunstwort “winterval” (Winterfestival) ersetzt wurde, um Nichtchristen nicht zu verletzen. “In diesem Klima ist es nicht frivol, zu fragen, wie lange es dauert, bis die Bibel verboten wird”.
Aber auch die “Winterval”-Sache ist eine Mär und Teil der Political-Correctness-Folklore. Die Stadt Birmingham führte 1997 das “Winterval” als Marketingidee ein, um zahlreiche Aktivitäten in den Wintermonaten gemeinsam zu bewerben. Zu diesem “Winterval” gehörten diverse Veranstaltungen, im Kern aber auch traditionelle Weihnachtsfeierlichkeiten, die auch genau so genannt wurden. Der “Guardian” zitierte den Stadtrat:
Über dem Rathaus war ein Banner mit den Worten “Merry Christmas”, es gab Weihnachtsbeleuchtung und Weihnachtsbäume auf den öffentlichen Plätzen, die normalen Weihnachtsgesänge von Schulchören, und der Bürgermeister verschickte Weihnachtskarten mit einer traditionellen Weihnachtsszene, in denen er allen Frohe Weihnachten wünschte.
(Übersetzung von uns.)
Obwohl das “Winterval” in keiner Hinsicht das traditionelle Weihnachtsfest ersetzt hat oder ersetzen sollte, wird es seit vielen Jahren und mit zunehmender Übertreibung von den Medien als Beleg für den Angriff der “Political Correctness” auf das Christentum interpretiert. Fanatiker wie Melanie Phillips sind dabei besonders aktiv, denk- und recherchefaule Journalisten wie Matthias Thibaut ihre willigen Handlanger.
Entsprechend endet sein Artikel:
Konservative werfen der BBC vor, sie spiegle mit ihrer Christenfeindlichkeit, ihrem Trend zu linken Labourpositionen und ihrer Europaphilie längst nicht mehr das britische Meinungsspektrum wieder. Kontroversen gab es, als die BBC eine Nachrichtensprecherin abmahnte, die an einer Halskette ein Kreuz trug. Zynische Kritiker halten es nur für eine Frage der Zeit, bis die erste Sprecherin mit Kopftuch auftaucht.
Ganz abgesehen davon, dass die BBC beteuert, die Nachrichtensprecherin nicht abgemahnt und kein Verbot solcher Symbole verhängt zu haben: Weil eine Christin aus Gründen religiöser Neutralität (angeblich) kein christliches Symbol tragen darf, wird demnächst eine Muslima ein muslimisches Symbol tragen?
Logisch ist das nicht. Aber angemessen furchteinflößend für Thibaut. Denn wenn es doch so käme und tatsächlich eine “Sprecherin mit Kopftuch in der BBC auftaucht”, wäre das für ihn zweifelsohne — der Untergang des Abendlandes.
Von 2005 bis 2009 ist die Bevölkerung mit Migrationshintergrund durch Zuzug und Geburten um 715 000 angewachsen und die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund ist sterblichkeitsbedingt um 1,3 Millionen zurückgegangen.
Diese Aussage, die suggeriert, dass die Menschen ohne Migrationshintergrund aussterben, ist zumindest zweifelhaft, denn die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund steigt fast zwangsläufig. Immerhin zählt das Statistische Bundesamt auch diejenigen, bei denen ein Elternteil keinen Migrationshintergrund hat, zu den Personen mit Migrationshintergrund, falls der andere Elternteil Migrant ist oder die deutsche Staatsbürgerschaft nicht seit seiner Geburt besitzt. Nur wenn beide Eltern seit ihrer Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, können sie Kinder ohne Migrationshintergrund zeugen.
Außerdem sah das Gesetz bis vor zehn Jahren vor, dass Kinder von Ausländern die Staatsbürgerschaft der Eltern erhielten und somit Ausländer ohne eigene Migrationserfahrung waren. Deren Kinder haben somit auch Migrationshintergrund. Erst seit der Staatsangehörigkeitsreform im Jahr 2000 erhalten Kinder von Ausländern zusätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft.
So zynisch das klingt: Die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund geht nicht nur sterblichkeitsbedingt, sondern eben auch definitionsbedingt zurück.
Darüber findet sich nichts in den Medien, die über die neusten Zahlen des Statistischen Bundesamtes berichten. Dafür aber das:
Vergleicht man die beiden Artikel mit der Pressemitteilung, so stellt man fest, dass die einzige Eigenleistung offensichtlich darin bestand, in der Überschrift “Menschen mit Migrationshintergrund” in “Migranten” umzubenennen – vielleicht, weil dieses Wort griffiger und nicht so sperrig ist.
Das “Handelsblatt” glaubt unter der Überschrift “Etwa jeder fünfte Einwohner hat Migrationsgeschichte” in der Einleitung zu wissen:
Von 2005 bis 2009 war die Zahl der Migranten von 15,3 auf mehr als 16 Millionen gestiegen.
Und in einem Artikel im “Tagesspiegel” wird sogar munter hin- und hergewechselt:
Erstmals hat im vergangenen Jahr die Zahl der hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund mehr als 16 Millionen betragen. (…) Im (…) Vergleichsjahr 2005 gab es noch 15,3 Millionen Migranten; sie machten 18,6 Prozent der Bevölkerung aus. Der Migrantenanteil hat sich also in vier Jahren um einen Prozentpunkt nach oben verschoben.
(…)
Migrationshintergrund hat (…), wer nach 1950 ins Gebiet der heutigen Bundesrepublik kam (…)
Manchmal wäre es jedoch besser, sich an die Vorlage zu halten. In der Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts wird sehr genau erläutert, woraus sich die 16 Millionen mit Migrationshintergrund zusammensetzen – nämlich aus 10,6 Millionen Menschen, die nach 1950 zugewandert sind, also tatsächliche Migrationserfahrung haben, und weiteren 5,4 Millionen, die in Deutschland geboren wurden.
Nur bei der ersten Gruppe handelt es sich um Migranten, bei der zweiten hingegen um Personen, die deshalb als Menschen mit Migrationshintergrund definiert werden, weil wenigstens ein Elternteil zugewandert bzw. Ausländer ist oder als Ausländer geboren wurde (s.o.).
Die Überschrift bei Welt.de etwa hätte angesichts von 10,6 Millionen mit tatsächlicher Migrationserfahrung lauten müssen “Jeder achte ist Migrant” oder “Jeder fünfte hat Migrationshintergrund” und die auf sueddeutsche.de “Mehr Menschen mit Migrationshintergrund”, was eine schöne Alliteration gewesen wäre.
Andererseits: Wenn man eine Pressemitteilung korrekt wiedergäbe, wo bliebe da die Eigenleistung?
Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen KFN macht es Journalisten mit seinem jüngsten Forschungsbericht “Kinder und Jugendliche in Deutschland: Gewalterfahrungen, Integration und Medienkonsum” nicht leicht. Immerhin umfasst das unter Federführung von Institutsdirektor Prof. Dr. Christian Pfeiffer entstandene Mammutwerk, für das 45.000 Schülerinnen und Schüler befragt wurden, stolze 324 Seiten — und das ohne Such- und Kopierfunktion.
Da trifft es sich gut, dass das KFN — wie schon bei der kürzlich veröffentlichten Studie zur Polizeigewalt (BILDblog berichtete) — so freundlich war, auch eine zweiseitige Kurzzusammenfassung mit dem Titel “Religion, Integration und Delinquenz junger Menschen in Deutschland” zu erstellen. Dieser Kurzbericht konzentriert sich fast ausschließlich auf den Zusammenhang von Religiosität und Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen, der in der zugrunde liegenden Studie nur einen kleinen Teil ausmacht. Laut Pfeiffer liegt das daran, dass gerade zu diesem Aspekt neue Erkenntnisse gewonnen wurden.
Für junge Christen gilt, dass sie mit steigender Religiosität weniger Gewalttaten begehen. Bei jungen Migranten sinkt beispielsweise die Quote der Gewalttäter von 21,8 Prozent (nichtreligiöse Jugendliche) auf 12,4 Prozent (sehr religiöse Jugendliche) oder den Angehörigen sonstiger Religionen entsprechend von 26 Prozent auf 8,5 Prozent. Für junge Muslime geht dagegen die zunehmende Bindung an ihre Religion mit einem Anstieg der Gewalt einher. Die höchste Quote erreichen hier die “sehr religiösen” Jugendlichen mit 23,5 Prozent, die niedrigste die “etwas religiösen” mit 19,6 Prozent.
Dieser — wohlgemerkt relativ geringe — Anstieg der Gewaltbereitschaft betrifft ausschließlich “sehr religiöse” muslimische Jugendliche, nicht aber “etwas religiöse” oder “religiöse” (vgl. Tabelle KFN-Studie, S. 116). Er wird sowohl in der Langfassung als auch in der Kurzfassung der Studie nicht etwa mit der Religon, sondern mit anderen Faktoren wie der Akzeptanz gewaltlegitimierender Männlichkeitsnormen (“Machokultur”), der Zahl straffälliger Freunde oder der Nutzung gewalthaltiger Medien begründet.
In einem Artikel der “Süddeutschen Zeitung” mit dem sehr plakativen Titel “Die Faust zum Gebet”, dessen Inhalt über dpa und AFP seinen Weg in weitere Medien fand, wird KFN-Direktor Christian Pfeiffer dennoch so zitiert (alle folgenden Hervorhebungen von uns):
Selbst wenn man diese Faktoren herausrechnet, bleibt ein signifikanter Zusammenhang zwischen Religiosität und Gewaltbereitschaft.
Da könnte man glatt meinen, Herr Pfeiffer kennt seine eigene Studie nicht, denn was die Signifikanz angeht, kann man an mehreren Stellen (der für vielbeschäftigte Journalisten zu zeitaufwendigen Langfassung) das genaue Gegenteil lesen:
Das Modell III belegt ferner, dass diese erhöhte Gewaltbereitschaft weitestgehend auf andere Belastungsfaktoren zurückzuführen ist, wobei die vier bereits bekannten Faktoren einbezogen werden. Dies führt dazu, dass von der Zugehörigkeit zu einer Konfessionsgruppe kein Effekt mehr auf das Gewaltverhalten zu beobachten ist. (KFN-Studie, Seite 116)
(…) Mit stärkerer religiöser Bindung steigt die Gewaltbereitschaft tendenziell an. Da dieser Zusammenhang aber als nicht signifikant ausgewiesen wird, ist bei islamischen Jugendlichen von keinem unmittelbaren Zusammenhang (und damit auch nicht von einem Gewalt reduzierenden Zusammenhang) zwischen der Religiosität und der Gewaltdelinquenz auszugehen. (KFN-Studie, S. 118)
(…) Mit den hier dargestellten Forschungsergebnissen ist noch nicht ausreichend belegt, dass der Islam für die dargestellte Problematik direkt verantwortlich gemacht werden kann. Zur Klärung bedarf es tiefergehende Analysen (…). (KFN-Studie, S. 129)
Auf Anfrage von BILDblog sagte Pfeiffer dazu: “Die Formulierung im Text der SZ ist offenkundig die Folge davon, dass man meine Aussage aus Platzgründen verkürzt wiedergegeben hat.”
Dumm nur, dass die Kombination aus einer “verkürzten Aussage”, einer unsachlichen Überschrift und enormer Recherchefaulheit längst den Siegeszug durch die Medien angetreten hat und so auch zu einem gefundenen Fressen für islamfeindliche Seiten und Blogs wurde. Denn obwohl in der KFN-Studie kein signifikanter Zusammenhang zwischen Gewalttätigkeit und dem Islam festgestellt werden konnte, rauschte es im Blätterwald so:
Verzweifelt steht ein Mathematiklehrer vor seiner Klasse: “Wie oft soll ich Euch noch erklären, dass es keine kleinere und keine größere Hälfte gibt?”, fragt er erbost. “Aber warum sage ich Euch das – die größere Hälfte von Euch wird es eh nie verstehen!”
Was soll diese lahme Pointe an dieser Stelle? Nun: Vor zwei Wochen berichteten wir über die irreführenden Berichte nach der Wahl eines Republikaners in den US-Senat.
Doch zumindest die kleinere Hälfte der Journalisten hat immer noch nicht verstanden, dass die Partei des US-Präsidenten Obama damals zwar einen wichtigen Sitz im Senat verloren hat, aber immer noch über die weitaus größere Hälfte der Sitze in dem Parlament verfügt. Dass Obama zwar nicht mehr mit einer strategischen 60-Prozent-Mehrheit legislative Störmanöver der politischen Gegner von vornherein unterbinden kann, aber dennoch mit 59 von 100 Sitzen über eine komfortable absolute Mehrheit im US-Senat verfügt.
tagesschau.de berichtet über ein Treffen der radikalen Rechten:
Ins gleiche Horn stößt der “Tagesspiegel”, als er sich der US-Klimapolitik widmet:
Bei “20 Minuten” hat man sich immerhin erinnert, dass etwas Besonderes an der verlorenen Mehrheit war. Nur was das war, das hat man vergessen:
Aber warum sagen wir das — die kleinere Hälfte wird eh schreiben, was sie will.
Mit Dank auch an David K.
Nachtrag, 6. Februar: Tagesschau.de hat den Fehler inzwischen korrigiert.
Freitag nachmittag: Die Zusammensetzung des neuen Bundeskabinetts rauscht durch alle Medien. Es eilt. Damit die Kabinettsliste am Samstag auf den Titelseiten aller wichtigen Zeitungen stehen kann, müssen die Infos jetzt fließen. Schnell.
Und so meldet der Basisdienst der dpa in Hamburg um 16:51 Uhr:
Berlin (dpa) — Der niedersächsische Vize-Ministerpräsident Philipp Rösler (FDP) wird wahrscheinlich neuer Gesundheitsminister. Dies verlautete am Freitag aus Kreisen der Verhandlungsführer. Der 36-jährige Landeswirtschaftsminister aus Hannover wollte eigentlich nicht nach Berlin wechseln. Der studierte Augenarzt hat zusammen mit Ursula von der Leyen (CDU) den Gesundheitskompromiss der neuen schwarz-gelben Koalition ausgehandelt.
Um 17:50 Uhr folgt das Portrait des bundespolitischen Newcomers:
Der bisherige Landtagsfraktionschef in Hannover hatte erst im Februar das Amt des Wirtschaftsministers in einer CDU/FDP-Koalition im Land übernommen. In dem Ressort ist er der jüngste in Deutschland. Dabei machte sich der Augenarzt und Vater von Zwillingen als Krisenmanager einen Namen. Vorher war Wirtschaft nicht unbedingt sein Steckenpferd.
In dieses bunte Potpourri an Funktionen hat sich leider ein faules Ei eingeschlichten: Rösler ist kein Augenarzt. Der Irrtum ist so verbreitet, dass der Jung-Politiker auf seiner Webseite sogar einen eigenen Abschnitt zu seinem Lebenslauf hinzugefügt hat:
Bald entdeckt man bei dpa den Fehler und schickt um 18:27 Uhr eine Berichtigung hinterher:
(Berichtigung: Arzt statt Augenarzt im dritten Absatz)
Doch zu spät. Die Information hat sich bereits im Medienkreislauf festgefressen:
… und in vielen weiteren Medien findet man den falschen Beruf. “Spiegel Online” hat sich eine besondere Variante einfallen lassen — man bezieht Teile des Lebenslaufs über Twitter:
Hm?
Landwirtschaftsminister ist Rösler übrigens auch nicht, obwohl zahlreiche Online-Medien das dank dpa in einem Bildtext verbreiten. Gemeint ist: Landeswirtschaftsminister. Komisches Wort aber auch.
Um 21:35 Uhr kehrt die Information überraschend auch wieder zu dpa zurück, wo man Röslers Heimatzeitung, die “Hannoversche Allgemeine Zeitung”, zitiert, die es erstaunlicherweise auch nicht besser weiß:
Man tritt ihm nicht zu nahe, wenn man festhält, dass die Herkunft aus Niedersachsen ihm geholfen hat. Zuvor hatte die FDP für Justiz eine Frau aus Bayern und für Wirtschaft einen Mann aus Rheinland-Pfalz nominiert. Immerhin: Rösler ist gelernter Augenarzt. Als er noch im Facharztzentrum der Bundeswehr in Hannover arbeitete, ließ er sich freilich nicht träumen, mal Bundesgesundheitsminister zu werden.
Ein einmaliger Ausrutscher? Mitnichten. Schon vor vier Tagen hatte die dpa ein kurzes Portrait der niedersächsischen Wirtschaftsministers gebracht:
In dem Ressort ist er der jüngste in Deutschland. Dabei machte sich der Augenarzt und Vater von Zwillingen als Krisenmanager einen Namen. Vorher war Wirtschaftskompetenz nicht unbedingt sein Steckenpferd. Rösler, Lakritz-Liebhaber und Hobby-Bauchredner, gilt als scharfzüngiger Schnellredner, der charmant aber auch verbindlich im Ton auftritt.
Und drei Wochen zuvor stellte die “Welt” Rösler als künftigen Wirtschaftsminister vor:
Geht das Wirtschaftsressort an die FDP, könnten die Liberalen eines ihrer größten Talente zum Zuge kommen lassen: Philipp Rösler (36), der seit Anfang 2009 dieses Ressort in Niedersachsen führt. Das von deutschen Eltern adoptierte Waisenkind aus Vietnam ist gelernter Augenarzt.
Die Reihe ließe sich noch lange weiter fortsetzen — mehr als sechs Jahre lang. Am 15. Februar 2003 meldete der Berliner “Tagesspiegel” anscheinend als erster den falschen Beruf des damaligen Fraktionsvorsitzenden:
McAllister kommt aus Bad Bederkesa im Landkreis Cuxhaven, ist in seiner Heimatstadt verwurzelt, war dort Bürgermeister und Schützenkönig. (…) Hinzu kommt der neue Fraktionschef der FDP, der erst 29 Jahre alte Augenarzt Philipp Rösler.
Am 23. Februar desselben Jahres legte die “Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung” noch eins drauf:
Philipp Rösler tritt leise auf. Er führt die Fraktion der FDP in Niedersachsen, die es nach neun Jahren wieder in den Landtag schaffte. 29 Jahre ist er alt, verheiratet mit einer jungliberalen Ärztin. Rösler ist promovierter Augenarzt und nach zehn Jahren als Zeitsoldat im Rang eines Stabsarztes. Nie der beste, aber immer der fröhlichste Mediziner sei er gewesen, sagt Rösler.
Gesundheitsminister bleibt man vier — mit viel Glück sogar acht Jahre lang. Eines jedoch wird Philipp Rösler wohl immer bleiben: Augenarzt.
Mit Dank an Patti!
Nachtrag 26. Oktober, 11:20 Uhr: Während Redaktionen wie “Spiegel Online” und “Zeit.de” ihre Artikel von dem Fehler bereinigen, beharrt “Bild.de” am Sonntag abend immer noch auf der Bezeichnung “promovierter Augenarzt”.
Tatsächlich hat Rösler über ein Thema aus der Herzchirurgie promoviert und bis 2003 als Sanitätsoffizier der Bundeswehr gearbeitet. Parallel verlief die Politikerkarriere und dabei verlief sich die begonnene Weiterbildung zum Augenarzt. Soviel zum Biografischen. Jeder wird in den nächsten Tagen allüberall nahezu alles über Rösler lesen können, seine ungewöhnliche Biografie reizt schließlich jeden Journalisten zu einer Story.