Ewald Lienen, Technischer Direktor des FC St. Pauli, hat neulich einen Witz gemacht. Vor eineinhalb Wochen, bei einem Vortrag vor Firmenvertretern in Hamburg, wollte er die “Bedürftigkeit von Mitarbeitern nach Rückmeldung, nach Lob und Anerkennung” thematisieren, wie er später im Podcast “Der Sechzehner” erzählte (ab Minute 3:14). Im Publikum habe sich jemand als Fan des FC Bayern München “geoutet”. Dann habe er, Lienen, gesagt: “Schaut mal, er ist Bayern-Fan. Warum wird jemand aus Hamburg oder Umgebung Bayern-Fan? Unter Umständen um am Wochenende nicht das Risiko einzugehen, ein Misserfolgserlebnis zu haben. (…) Vielleicht muss er frühkindliche Deprivationen kompensieren.”
Ewald Lienen wird von diversen Medien so zitiert:
Das sind alles diese Leute, die ihre frühkindliche Deprivation durch ein wöchentliches Erfolgserlebnis kompensieren müssen. Der durchschnittliche Bayern-Fan braucht das. Du wirst FCB-Fan, weil du das Risiko nicht eingehen willst, wie beim HSV oder bei uns mal ein Spiel zu verlieren.
Welche Variante des Zitats stimmt — einzig bezogen auf die eine Person im Publikum oder allgemein bezogen auf den “durchschnittlichen Bayern-Fan” –, konnten wir nicht überprüfen. Der Veranstalter sagte uns auf Nachfrage, dass er leider keinen Mitschnitt von Lienens Auftritt habe.
Jedenfalls hätten sich alle, auch der angesprochene Bayern-Fan, totgelacht, erzählt Ewald Lienen im Podcast. Er habe das natürlich nicht ernst gemeint, wie er einige Tage später auf Facebook schrieb. Ein Witz, ein Lacher, damit hätte die Sache abgeschlossen sein können.
War sie aber nicht. Bild.de und die Hamburg-Ausgabe der “Bild”-Zeitung berichteten über den Witz, zwar mit Kontext, allerdings nur mit sehr wenig davon. Die “Bild”-Medien schrieben lediglich, Lienens Aussage sei “launig” gewesen. Online titelte die Redaktion:
Andere Medien stürzten sich auf das oben zitierte Lienen-Zitat, das “Bild” und Bild.de veröffentlicht hatten, so auch Merkur.de und tz.de aus München (beide veröffentlichten denselben Artikel desselben Autors). Die Redaktionen verzichteten im Text nun komplett auf irgendwelchen Kontext und schrieben in ihren Überschriften: “Ewald Lienen beleidigt FC-Bayern-Fans übel”. Auch Welt.de zog nach, etwas weniger boulevardesk, aber ebenfalls ohne irgendeinen Hinweis darauf, dass Ewald Lienen den Spruch nicht ernst meinte.
Zu diesem Zeitpunkt gab es in den Sozialen Netzwerken schon reichlich Wut der FC-Bayern-Fans. Und diese Wut wurde schnell analog. Beim Bundesligaspiel gegen RB Leipzig hielten sie ein Banner mit einer deutlichen Nachricht an Ewald Lienen, der auch mal den Münchner Stadtrivalen TSV 1860 trainiert hatte, hoch: “Und wem’s als Kind zu gut ging, wechselt zu ‘nem Scheißverein wie 1860! Halt’s Maul, Ewald!”
Dabei stand am Anfang nur ein etwas brachialer Witz. So schnell kann es gehen, wenn Redaktionen hauptsächlich Klicks jagen und Kontext dabei nur stört.
Bei Bild.de meinen sie, das Erfolgsgeheimnis von Fußballtrainer Jürgen Klopp und dem FC Liverpool entschlüsselt zu haben:
Und das funktioniere so:
Stark dank Basketball-Taktik!
Premier-League-Spitzenreiter FC Liverpool hat Einblicke in sein Erfolgsrezept gegeben. Der (sic) derzeit wohl beste Fußball-Team der Welt orientiert sich dabei an Basketball-Legende LeBron James (35).
Es gehe vor allem “darum, wie es möglich ist, über 90 Minuten den Power-Fußball von Trainer Jürgen Klopp (52) umzusetzen.” Die Antwort sei simpel: “mehr Pausen” — eben so, wie es Basketballer LeBron James mache:
So steht LeBron James im Herbst seiner Karriere zwar mehr Minuten auf dem Parkett als jemals zuvor. Aber der Superstar leistet sich mehr Pausen, das heißt, er jagt nicht mehr jedem Ball im Vollsprint hinterher, sondern nutzt seine Kraft clever. Er steht zwar länger auf dem Feld, bewegt sich aber weniger.
Und das klingt ja wirklich “clever”, ist aber völlig falsch: In der laufenden NBA-Saison steht LeBron James nicht “länger auf dem Feld” und “mehr Minuten auf dem Parkett als jemals zuvor”, sondern mit aktuell 34,9 Minuten pro Spiel so wenig wie nie zuvor.
Nachtrag, 12:33 Uhr: Das nur der Vollständigkeit halber: Knapp 35 Minuten pro Spiel sind immer noch eine ganze Menge Spielzeit für einen Basketballer und mehr als bei vielen anderen, teils deutlich jüngeren Spielern. Aber es sind eben so wenige Minuten wie in keiner Saison zuvor für LeBron James.
Mit Dank an Christian M. für den Hinweis!
Nachtrag, 14:24 Uhr: Bild.de hat den Absatz mittlerweile so halb korrigiert. Dort steht nun:
So ist LeBron James im Herbst seiner Karriere immer noch einer der NBA-Stars mit der meisten Spielzeit. Sein Trick: Der Superstar leistet sich mehr Pausen, das heißt, er jagt nicht mehr jedem Ball im Vollsprint hinterher, sondern nutzt seine Kraft clever. Er steht zwar länger auf dem Feld, bewegt sich aber weniger.
Sollte die Redaktion mit “Er steht zwar länger auf dem Feld” meinen, dass LeBron James mehr Einsatzzeiten hat als zuvor, bleibt dieser Halbsatz weiterhin Unsinn.
Auf einen Hinweis zu der vorgenommenen Korrektur hat die Redaktion verzichtet.
Es gebe “Verbrechen, die sprachlos machen”, schrieben “Bild” und Bild.de vergangene Woche. Die Vergewaltigung einer 100-Jährigen gehöre dazu. Und dann erst das Urteil des Gerichts:
… titelte Bild.de auf der Startseite. In der Thüringen-Ausgabe der gedruckten “Bild” gab es ebenfalls einen größeren Artikel:
Und in der “Bild”-Bundesausgabe eine Meldung:
(Zu den unterschiedlichen Altersangaben: Bei der Tat war der Mann 18 Jahre alt, bei der Gerichtsverhandlung bereits 19.)
Damit es zu diesem vermeintlichen Justizskandal reicht, muss die “Bild”-Redaktion allerdings manche Details weglassen, andere überbetonen und noch ein bisschen Politik reinrühren.
Die Tat schildern “Bild” und Bild.de so:
Ein damals 18-jähriger Pflegehelfer, der für einen ambulanten Dienst arbeitete, hatte die Aufgabe, eine 100-Jährige in ihrer Wohnung zu betreuen. Als die Seniorin nach dem Baden aus der Wanne stieg, packte der Jugendliche die 100-Jährige, vergewaltigte sie!
“fiel er über sie her”, “packte der Jugendliche die 100-Jährige”, “vergewaltigte sie” — darunter stellt man sich beim Lesen fast unweigerlich einen erzwungenen Geschlechtsverkehr vor. Den gab es in diesem Fall allerdings nicht. Die “Ostthüringer Zeitung” berichtete ebenfalls über den Prozess am Amtsgericht Gera. Redakteur Tino Zippel beschreibt den Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Nachdem die Frau nackt aus der Badewanne gestiegen sei, habe der damals 18-Jährige sie abgetrocknet. Das habe er auch im Brust- und im Intimbereich getan. Dabei sei der Mann mit seinen Fingern in die Frau eingedrungen, was zu erheblichen Schmerzen bei der 100-Jährigen geführt habe. Bei “Focus Online” schreibt Reporter Göran Schattauer:
Im Fall der 100-jährigen Frau war der Angeklagte nach Informationen von FOCUS Online zur Tatzeit vollständig bekleidet und nicht sexuell erregt. (…)
Den Ermittlungen zufolge stand der 18-Jährige zunächst untätig im Bad herum. Dann bat ihn die Seniorin um Unterstützung. Schließlich habe er sie an den Brüsten und zwischen den Beinen abgetrocknet, so der Angeklagte. Vor Gericht gestand er, seine mit einem Handtuch bedeckten Finger in das Opfer eingeführt zu haben. Er habe noch nie eine Patientin abgetrocknet und sei von der Situation völlig überfordert gewesen. Eine sexuelle Motivation des jungen Mannes konnte in der Hauptverhandlung nicht festgestellt werden.
Um eine Vergewaltigung handelte es sich trotzdem. Denn die liegt laut Gesetz auch vor, wenn ein Täter “sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt (…), die dieses besonders erniedrigen, insbesondere wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind”.
Zum Urteil schreiben die “Bild”-Medien:
Der Vergewaltiger der 100-Jährigen wird keinen Knast von innen sehen. Er wurde wegen Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung eines Betreuungsverhältnisses zu einer Jugendstrafe von 22 Monaten verurteilt — auf Bewährung.
Zwar ergänzt die Redaktion noch, dass der heute 19-Jährige die Tat “im Prozess gestanden” habe, aber auch hier fehlen manche Details. Etwa dass der Täter für die gleiche Tat auf jeden Fall einen “Knast von innen” gesehen hätte, wäre er mindestens 21 Jahre alt gewesen. Das Gesetz sieht für eine Vergewaltigung eine “Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren” vor, die dann nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann.* Weil der Angeklagte mit 18 Jahren als Heranwachsender galt, wurde bei ihm allerdings das Jugendstrafrecht angewandt. Außerdem war er nicht vorbestraft und hat durch sein Geständnis dem Opfer eine Aussage vor Gericht erspart. Und es hätten “sich in der Hauptverhandlung keine Hinweise ergeben, wonach er zukünftig Sexualstraftaten oder andere Delikte begehen könnte. Der Angeklagte ist nicht mehr in einem Pflegeberuf tätig und hat dies auch künftig nicht vor”, so Göran Schattauer bei “Focus Online”. Der Mann sei einsichtig gewesen.
Die Artikel von “Bild” und Bild.de haben aber auch eine politische Ebene:
Richter am Jugendschöffengericht: Eugen Wagner, früherer Stadtrat der Grünen in Gera, der schon mal für Aufsehen sorgte, als er einen 73-jährigen Schwarzfahrer ohne Bewährung hinter Gitter steckte.
(Die Redaktion bekommt es nicht mal hin, den richtigen Nachnamen des Richters zu recherchieren.)
Die Richtung ist klar: Ein Grüner, der einen schwarzfahrenden Rentner in den Knast steckt, aber einen Vergewaltiger frei rumlaufen lässt.
Auch hier fehlt das eine oder andere Detail: Der damals 73-Jährige war notorischer Schwarzfahrer, mehrere Dutzend Mal wurde er ohne Ticket erwischt. Er war zuvor schon mehrfach verurteilt worden, auch auf Bewährung. Erst später stellte sich raus, dass der Mann an Demenz leidet. Bei dem Vergewaltigungsprozess gegen den Pflegehelfer kommt hinzu: Mit dem Urteil — ein Jahr und zehn Monate auf Bewährung plus 101 Arbeitsstunden sowie ein fünfseitiger Aufsatz über “Die sexuelle Selbstbestimmung der Frau”, den der Täter verfassen muss — lag das Gericht über den Forderungen von Jugendgerichtshilfe und Staatsanwaltschaft.
Der unvollständige Artikel, in denen die “Bild”-Redaktion geschickt Fakten wegließ, verfehlte seine Wirkung nicht: Der dazugehörige Post auf der “Bild”-Facebookseite wurde über 1200 Mal kommentiert, vor allem mit Wut auf den Richter und die deutsche Justiz:
Warum???? Wie kann das sein das er nicht hinter Gitter muss??? Es ist für mich unfassbar wie die Gerichte hier entscheiden… Ergibt keinen Sinn und schon garkeine Gerechtigkeit!! In Amerika wäre er jetzt ewig eingesessen! Hier?? Darf er frei herum spazieren
unsere Richter scheinen unfähig Recht zu sprechen..unfassbar
Manche Richter sollte man unverzüglich vom Dienst freistellen!
Was sind das für Richter, ich bin einfach sprachlos
Bei der Parteizugehörigkeit des Richters wundert mich das Urteil nicht.
Vor allem gibt es Urteile, die noch sprachloser machen !! Ist der Richter vielleicht krank, ganz vorsichtig gefragt
Und auch andere griffen den Beitrag auf. Beispielsweise Martin Sichert, Bundestagsabgeordneter der AfD, verlinkte ihn bei Facebook und schrieb dazu:
Skandalurteile deutscher Gerichte
Bewährung für Vergewaltigung
Gefängnis für Schwarzfahren
AfD-Ortsgruppen und -Kreisverbände, die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung, die Partei Die Republikaner sowie Dutzende Facebook-Seiten mit Namen wie “Baden-Württemberg Patrioten”, “Klartext für Deutschland – FREI statt bunt”, “NRW schaut nicht weg”, “Patrioten – BW Stuttgart” und “Mannheim / freiheitlich-patriotisch-traditionsbewusst” verbreiteten ebenfalls den Artikel.
Die Wut und der Hass blieben nicht nur im Internet. Göran Schattauer schreibt:
Nach Informationen von FOCUS Online ging beim Amtsgericht Gera sogar eine Todesdrohung gegen den 56-jährigen, aus Bayern stammenden Juristen ein.
*Nachtrag, 12. Februar: Ein Leser weist uns darauf hin, dass durch Paragraph 56 des Strafgesetzbuchs durchaus die Möglichkeit besteht, dass auch eine Freiheitsstrafe, die genau zwei Jahre beträgt, unter besonderen Voraussetzungen zur Bewährung ausgesetzt werden kann.
Die “Bild”-Redaktion will selbstverständlich immer nur das Beste für ihre Leserschaft, vor allem wenn es sich um “Bild plus”-Abonnenten handelt. Und so gibt sie ihren zahlenden Kunden tolle Tipps zur Geldvermehrung:
Es seien sich ja “ohnehin alle einig”, das Ganze sei “mehr als wahrscheinlich” und berge “sehr, sehr wenig Risiko”:
Beim Hauptpreis “Bester Film” sind sich ohnehin alle einig …
Auch die Wettanbieter legen sich fest: Golden Globe-Gewinner “1917” wird sich die Trophäe holen. Mit einer durchschnittlichen Quote von 1,38 hat der Kriegsfilm nämlich den kleinsten Wert der in dieser Kategorie nominierten Titel.
Selbst wenn am Samstag Schalke gegen Paderborn spielt, ist die Quote höher. Heißt: Der Triumph von “1917” ist mehr als wahrscheinlich.
Sein Geld auf den Film zu setzen, lohnt sich trotz des kleinen Kontingents: Bei 100 Euro Einsatz winken immerhin 138 Euro Gewinn — bei sehr, sehr wenig Risiko.
Alternativ, wenn man “richtig absahnen will”, könne man auch “auf Quentin Tarantinos ‘Once Upon a Time… in Hollywood’ setzen. Die Quote von 8,25 sei “unschlagbar”.
Vergangene Nacht wurden die Oscars verliehen. Gewonnen in der Kategorie “Bester Film” hat weder “1917” noch “Once Upon a Time… in Hollywood”, sondern “Parasite” — und alle “Bild plus”-Kunden, die den Wett-Tipps der Redaktion gefolgt sind, haben verloren. (Die andere Wett-Empfehlung in dem Artikel war eigentlich keine: Auf Joaquin Phoenix in “Joker” und Renée Zellweger in “Judy” als bester Hauptdarsteller beziehungsweise beste Hauptdarstellerin müsse man gar nicht erst setzen — bei den niedrigen Quoten gebe “es nichts zu holen.” Phoenix und Zellweger haben dann auch tatsächlich gewonnen.)
Am Ende ihres Artikels hat die “Bild”-Redaktion noch einen Kasten platziert:
Nachtrag, 16:37 Uhr: Mehrere Leserinnen und Leser weisen uns auf zwei weitere Aspekte hin: Erstens ist der Vergleich mit der Wettquote für einen vermeintlich recht sicheren Sieg des FC Schalke 04 gegen den SC Paderborn etwas amüsant, denn auch Schalke gewann das Spiel nicht. Und zweitens ist die Aussage von Bild.de “Bei 100 Euro Einsatz winken immerhin 138 Euro Gewinn” streng genommen nicht ganz richtig: Es hätte zwar 138 Euro zurückgegeben, davon wären 100 Euro aber der Einsatz gewesen. Der Gewinn hätte also 38 Euro betragen.
Julian Reichelt will mit “Bild TV” “Deutschlands ersten User Generated Channel” aufbauen. Und dafür braucht seine Redaktion natürlich, um mal im Jargon zu bleiben, User Generated Content. Zum Beispiel, wenn sie in einer “Bild live”-Sendung über das Sturmtief Sabine und das damit verbundene “WETTER-CHAOS” berichten will:
Der Sturm kommt! Orkantief Sabine trifft am Sonntag auf den Norden Deutschlands — und fegt dann über das ganz Land!
Wenn Sabine wütet, kommt mit ihr Chaos: Abgedeckte Dächer, umgeknickte Bäume, zerstörte Fassaden — alles möglich. Sind Sie Augenzeuge? Haben Sie spektakuläre Fotos oder Videos aus dem Auge des Sturms? Dokumentieren Sie, wie das Orkantief bei Ihnen wirbelt, für BILD!
Greifen Sie zum Smartphone, fotografieren und/oder filmen Sie, was bei Ihnen vor Ort passiert. Sind Bäume umgestürzt oder Dächer abgedeckt? Sind Sie vielleicht sogar selbst Sturm-Opfer?
Wer wollte nicht schon immer mal für ein bisschen “Bild”-Berühmtheit die Gefahr eingehen, von einem Ast erschlagen oder einem umherfliegenden Dachziegel getroffen zu werden? Von einer Bezahlung für die Fotos und Videos ist im Bild.de-Artikel nicht die Rede.
Weiter hinten im Text, nachdem die Redaktion bereits beschrieben hat, was man wie und mit welchen Angaben wohin senden soll, schickt sie noch eine Alibi-Warnung hinterher:
UND GANZ WICHTIG: BRINGEN SIE SICH BEI DEN AUFNAHMEN NICHT SELBST IN GEFAHR!
Schon klar: Man soll “zum Smartphone” greifen und fleißig “fotografieren und/oder filmen”. Man soll “für BILD” dokumentieren, “wie das Orkantief bei Ihnen wirbelt”. Man soll “aus dem Auge des Sturms”, mit dem “Chaos” komme, Material liefern, das “Bild” dann kostengünstig verwursten kann. Aber in Gefahr soll man sich bitte, bitte nicht bringen.
Mit Dank an Marcel und @doestrei für die Hinweise!
Heute ist Freitag, und damit läuft heute vermeintlich das Ultimatum des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ab, das dieser Syriens Machthaber Baschar al-Assad gestellt haben soll. Jedenfalls behaupten Bild.de und “Bild”-Redakteur Julian Röpcke so was:
Erneute Zuspitzung im Kampf um die syrische Provinz Idlib — letzte Rebellenhochburg gegen Assad und Heimat von mehr als drei Millionen Zivilisten.
Türkei-Präsident Recep Tayyip Erdogan stellte dem syrischen Diktator Baschar al-Assad am Mittwochmorgen ein Ultimatum von 48 Stunden: In dieser Frist soll der sich von allen belagerten türkischen “Observationspunkten” in der Region zurückzuziehen.
Die Türkei stellt der syrischen Regierungsarmee ein Ultimatum zum Rückzug in der Provinz Idlib hinter die türkischen Beobachtungsposten. Sollten sich die syrischen Soldaten nicht bis Ende des Monats hinter diese Linie zurückgezogen haben, werde die Türkei sie zurücktreiben, drohte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Mittwoch.
Noch bevor er seinen falschen Artikel bei Bild.de veröffentlichte, verbreitete Röpcke auch bei Twitter das falsche Ultimatum. MehrereLeutewiesen ihn auf den Fehler hin. Dennoch landete der heutige Freitag als vermeintliches Ultimatum in Röpckes Beitrag. Als dann die “Bild”-Politikredaktion diesen Beitrag bei Twitter verlinkte, wiesen erneut mehrereLeute auf den Fehler hin. Auch das brachte nichts.
Erst heute reagierte Julian Röpcke: Er löschte nach eigener Aussage “zwei Tweets”. Seinen Artikel bei Bild.de korrigierte er hingegen nicht — er steht nach wie vor falsch online.
Mit Dank an Luca für den Hinweis!
Nachtrag, 8. Februar: Bei Bild.de haben sie den Fehler korrigiert. In der Dachzeile steht nun: “ULTIMATUM GESTELLT”. Und im Artikel:
Türkei-Präsident Recep Tayyip Erdogan stellte dem syrischen Diktator Baschar al-Assad am Mittwochmorgen ein Ultimatum von drei Wochen: In dieser Frist soll der sich von allen belagerten türkischen “Observationspunkten” in der Region zurückzuziehen.
Am Ende des Beitrags gibt es einen Hinweis auf die Korrektur:
Nachtrag: In einer früheren Version des Artikels hatte es geheißen, ein Teil des Ultimatums beziehe sich auf Freitag, den 7. Februar. Dies ist nicht der Fall. Das Ultimatum Erdogans an Assad gilt vollumfänglich bis Ende Februar 2020.
Das ist eine ganz schön heftige Aussage, die “Bild”-Reporter Celal Çakar “Verkäufer Johan” auf der Messe “Jagd & Hund” entlockt haben soll:
Am Stand von “HHK Safaris” treffen die BILD-Reporter auf Berater Johan. Er macht ein Angebot für 18 Tage Safari in Simbabwe für 54 700 Dollar (knapp 50 000 Euro). Der Abschuss von Tieren kann dazu gebucht werden: Giraffe rund 2700 Euro, Zebra 1300 Euro, Löwe 36 400 Euro.
Braucht man einen Jagdschein?
Verkäufer Johan: “Du musst halt schießen können und bezahlen. Wir fahren bei Leoparden auf 30 Meter ran, schießen dem Tier erst in die Beine, du kannst es dann erlegen.”
Dieses Zitat passte auch bestens in die Geschichte, die Çakar und dessen Kollegin Christina Drechsler von der Jagdmesse in Dortmund mitgebracht hatten:
Beim Deutschen Jagdverband haben sie sich über die Aussage von “Verkäufer Johan” ziemlich gewundert: “Als ich das Zitat gesehen habe, ist mir die Kinnlade auf den Tisch gefallen”, sagt uns Stephan Wunderlich, der beim Verband für die Auslandsjagd und den internationalen Artenschutz zuständig ist. Daher hat er bei Johan Bezuidenhout nachgefragt, ob er das, was in “Bild” und bei Bild.de steht, wirklich gesagt hat. Bezuidenhout antwortete, er habe so etwas nie gesagt. Der Reporter, mit dem er gesprochen hat, habe ihm die Worte im Mund umgedreht: “He put totally wrong information in the newspaper.”
Die Aussage, so wie sie in “Bild” steht, passe auch schon inhaltlich nicht, sagt Stephan Wunderlich: Niemand werde mit einem Auto an Leoparden herangefahren. “Die 30 Meter sind die Distanz beim Ansitz auf Leoparden.”
Wunderlichs Verband hat zu dem Zitat im “Bild”-Artikel eine Pressemitteilung herausgegeben:
Der Deutsche Jagdverband (DJV) und der Internationale Rat zur Erhaltung des Wildes und der Jagd (CIC) in Deutschland haben zwischenzeitlich den anerkannten Berufsjäger mit den Vorwürfen konfrontiert. Dieser ist schockiert: “Es stimmt, dass ich mich mit einem Journalisten der BILD unterhalten habe. Aber diese Behauptung ist eine Lüge. Der Journalist hat mich bewusst falsch zitiert. Sonst hätte er keine Story.” Für den tatsächlichen Wortlaut des geführten Interviews gibt es Zeugen. Demnach habe Johan Bezuidenhout auf Englisch gesagt, dass nach einem schlechten Treffer, etwa auf dem Vorderlauf, immer eine Nachsuche durchgeführt wird und diese erläutert. Dieses Vorgehen ist auch in Deutschland aus Tierschutzgründen Pflicht.
“Nicht mal, wenn jemand nicht so gut Englisch spricht, darf so ein Zitat daraus entstehen”, sagt Stephan Wunderlich: “Das ist rufschädigend.”
Die “Bild”-Geschichte wurde international von anderen Medien aufgegriffen, etwa in der Schweiz vom “Blick” und in England von der “Sun”.
Wir haben bei “Bild” nachgefragt, ob die Redaktion dabei bleibt, dass das veröffentlichte Zitat von Johan Bezuidenhout so gefallen ist. Sprecher Christian Senft antwortete: “ja.”
Aber Julian Reichelt hat laut Julian Reichelt natürlich etwas ganz, ganz Neues kreiert.
Schon im Oktober, bei der Ankündigung seiner TV-Pläne, erzählte der “Bild”-Chef diesen Unfug, dass er und seine Redaktion Dinge zeigen werden, über die andere Fernsehsender, vor allem die Öffentlich-Rechtlichen, gar nicht berichten würden:
Ich frage mich: Wo findet die Realität, die wir auf der Seite 2 von “Bild” abbilden, im Fernsehen statt? Etwa, dass Menschen, die 40 Jahre gearbeitet haben, jetzt Flaschen sammeln müssen.
Und:
Reichelt: Exklusive News zeigen und emotionale Geschichten erzählen. Man kann natürlich sagen, das bieten andere auch schon. Die Wahrheit ist: Die meisten Fernsehsender machen das, was wir uns vorstellen, eben nicht. Aus dem brennenden Amazonasgebiet, so wie wir zuletzt, sendet nicht jeder.
SPIEGEL: Vielleicht nicht mit acht Reportern wie “Bild”, aber etliche Sender haben durchaus direkt vor Ort berichtet.
Reichelt: Ja, aus dem Hotelzimmer. Aber nicht mit mehreren Teams, die im brennenden Regenwald stehen und mit Menschen reden, um die herum alles gerodet wird. Ich habe nicht das Gefühl, dass es diese menschliche Geschichte im Nachrichtenangebot gab.
Selbstverständlich standen Reporterinnen und Reporter verschiedener Fernsehsender “im brennenden Regenwald” und redeten “mit Menschen, um die herum alles gerodet wird.” Und selbstverständlich haben schon etliche Fernsehsender, auch und vor allem die Öffentlich-Rechtlichen, über Menschen berichtet, die “Flaschen sammeln müssen.” Aber was interessieren Julian Reichelt schon Fakten, wenn er da so ein “Gefühl” hat?
Mittlerweile gibt es zu “Hier spricht das Volk” erste Kritiken:
Verfangen also womöglich Rainer Wendts Es-ist-so-schlimm-wie-damals-bei-der-RAF-Warnungen vor linker Gewalt doch nicht? Ist die Sorge vor dem bösen Messerstecher vielleicht doch nicht so riesig? Gibt es vielleicht doch auch inhaltliche Gründe, warum die “Bild” innerhalb eines Jahres 10 Prozent ihrer Auflage verloren hat (und liegt es nicht nur daran, dass die Leute einfach immer weniger gedruckte Zeitungen lesen)? Tragen die “Bild”-Leser*innen vielleicht gar nicht so viel Angst und Hass und Wut in sich wie die “Bild”-Macher*innen?
Wenn die Diskutierenden in “Hier spricht das Volk” die normalen Menschen sind, wie Reichelt sagt, “ein Querschnitt durch unsere Gesellschaft, ein Querschnitt durch Deutschland”, dann bildet seine Zeitung diese Gesellschaft nicht mehr ab. Dann hat “Bild” den Großteil unserer Gesellschaft verloren. Dann bleibt ihr nur noch der Rand.
Reichelt fragt, ob die Bundestagsabgeordneten zu gut bezahlt werden, und die 15 [Talk-Gäste] antworten, es käme drauf an. Reichelt fragt, wer ein Messer mit sich führe — und es hat niemand eines dabei. Er fragt den anwesenden Polizisten mit dem sympathischen Vornamen Niels, wie es denn so sei mit der Messergewalt im Lande und bekommt zur Antwort, die sei nicht gestiegen. Das Volk der 15 fühlt sich auch nicht “unsicherer als früher”, und eine junge Frau sagt auf die Frage, ob sie sich denn noch nachts in die öffentlichen Verkehrsmittel traue: “Ja, sicher!” (…)
Die Antworten sind also vernünftiger als die Fragen. Darin liegt der konzeptionelle Fehler der Sendung: Das Volk kommt zu Wort, nachdem Julian Reichelt es ihm erteilt hat, um auf eine Frage zu antworten, die ihn interessiert und solange sie ihn interessiert — und das ist arg kurz.
Schnell lässt sich durchschauen, dass ein großer Teil der Fragen, die Julian Reichelt an das vermeintliche “Volk” richtet, in Wahrheit Suggestivfragen sind, die die Antwort bereits vorwegnehmen sollen — das erklärt vielleicht auch, weshalb den eigentlichen Antworten so wenig Platz eingeräumt wird, denn so recht drauf anspringen wollten die Diskutanten darauf nicht. Am Ende bleibt der Eindruck, als gehe es Julian Reichelt in erster Linie um Bestätigung der eigenen Ansichten. Bleibt die Bestätigung aus, folgt einfach das nächste Thema.
Dazu kommt, dass eine gute Diskussion schon alleine durch die Sitzordnung verhindert wird. Weil Reichelts Gesprächspartner in zwei Reihen hintereinander sitzen, bedarf es mitunter einer gewissen Gelenkigkeit, um mit dem Hintermann ins Gespräch zu kommen. Einzig Julian Reichelt hat alles gut im Blick. Er, der Chefredakteur, auf der einen Seite, die “ganz normalen Menschen” auf der anderen. Manchmal sagen Bilder mehr als tausend Worte.
Webasto beklagt Ausgrenzung von Mitarbeitern
Die Angst vor dem Coronavirus führt offenbar zur Ausgrenzung von Webasto-Mitarbeitern und deren Angehörigen. “Uns erreichen vermehrt Meldungen von Mitarbeitern, die nicht zur Risikogruppe gehören, dass sie und ihre Familien von Institutionen, Firmen oder Geschäften abgewiesen werden, wenn bekannt wird, dass sie bei Webasto arbeiten”, sagte der Vorstandsvorsitzende Holger Engelmann am Freitag. “Wir verstehen, dass die aktuelle Situation Menschen verunsichert und auch ängstigt, aber das ist eine enorme Belastung für die Familien unserer Mitarbeiter.”
Einer Sprecherin zufolge haben Mitarbeiter unter anderem davon berichtet, dass ihre Eltern oder Ehepartner von deren Arbeitgebern nach Hause geschickt worden seien. Kinder seien von Kindergärten nicht mehr angenommen worden. In einem Fall habe es zudem eine Autowerkstatt mit Verweis auf das Virus abgelehnt, das Auto eines Mitarbeiters zu reparieren.
Diese Ausgrenzung ist natürlich völlig daneben. Gut, dass Bild.de dem Webasto-Vorstandsvorsitzenden die Möglichkeit gibt, deutlich zu sagen, dass diese Situation “eine enorme Belastung für die Familien unserer Mitarbeiter” sei.
Einen Tag später beantwortete “Bild” dann “DIE WICHTIGSTEN FRAGEN ZUM AUSBRUCH DER SEUCHE”. Darunter diese:
Anders als bei den Webasto-Angestellten, wies bei der Ausgrenzung “asiatisch aussehender Menschen” niemand darauf hin, dass dies für die Betroffenen “eine enorme Belastung” sei. Stattdessen lieferte ein “Angst- und Traumaforscher” eine Rechtfertigung:
Christian Lüdke, Angst- und Traumaforscher: “Aus fachlicher Sicht ist die Angst absolut nachvollziehbar. Wir Menschen haben ein gleichbleibendes Angstniveau. Was sich ändert, ist die Angstrichtung. Und durch die aktuellen Realängste vor dem Corona-Virus bedeutet das, dass sich unsere gesamte Aufmerksamkeit auf die Chinesen richtet.”
Lüdke weiter: “Angst ist eine Grundbefindlichkeit und muss ernst genommen werden. Sie lässt uns in einen Überlebensmodus schalten. Und sie hilft uns letztlich, mit schwierigen Situationen wie dieser klarzukommen.”
Das ist die komplette Antwort auf die Frage. Keine weitere Einordnung, kein Hinweis auf Rassismus. Bei “Bild” wird der Eindruck vermittelt, dass es völlig in Ordnung und sogar hilfreich wäre, um “mit schwierigen Situationen wie dieser klarzukommen”, wenn man Menschen nur aufgrund ihres Aussehens und ihrer (tatsächlichen oder vermeintlichen) Herkunft anders behandelt und Angst vor ihnen hat.
Beim “Tagesspiegel” beschreibt Marvin Ku den Rassismus, den er erlebt, “seit sich das Coronavirus ausbreitet”. Und auch der “Express” schreibt in seiner Sonntagsausgabe, “dass die ganz subjektive Sorge vor einer Ansteckung offenbar in generelle Ausgrenzung und Rassismus umschlagen kann” — was sich auf einen Fall bezieht, bei dem eine Frau mit ihrer Tochter fluchtartig einen Kölner Asia-Markt verlassen hat. Auf Seite 1 macht die Redaktion so auf das Thema aufmerksam:
Was bewirkt so eine Titelseite wohl (bei der Passanten, wenn sie am Kiosk vorbeigehen, nicht mal die Unterzeilen richtig sehen können): Dringt die Kritik an der falschen Angst durch? Oder befeuert sie sie?
Mit Dank an Barbara W. und Mario V. für die Hinweise!
Entgegen vereinzelt in den Medien verlautbarter Vermutungen haben Staatsanwaltschaft Dresden und Soko Epaulette keine Erkenntnisse dahingehend, dass tatverdächtige Personen mit dem Flix-Bus in Richtung Berlin geflohen sind. Die dahingehenden Veröffentlichungen finden in den Ermittlungen keinen Anhalt und entbehren aus Sicht der Ermittler jeglicher Grundlage.
Und woher stammen diese jeglichegrundlagenentbehrenden Veröffentlichungen, von denen die Staatsanwaltschaft spricht?
Es sind die “Bild”-Medien, die gestern Abend (Bild.de) beziehungsweise heute (“Bild”-Bundesausgabe und Dresden-Ausgabe der “Bild”-Zeitung) über “eine ganz neue Spur” berichten:
Etwa 1200 Hinweise zum Juwelen-Raub im Grünen Gewölbe sind bei der Soko „Epaulette“ (40 Ermittler) aufgelaufen. Ein entscheidender Hinweis war bislang nicht darunter.
Doch wie BILD erfuhr, verfolgen die Fahnder eine ganz neue Spur: Flohen die Täter im Flixbus nach Berlin?
Blöd nur, dass die Fahnder davon nichts wissen. Die Dresdner Staatsanwaltschaft schreibt dafür aber noch einmal etwas Allgemeines zur “spekulativen Medienberichterstattung”:
Spekulative Medienberichterstattung ist bei der Aufklärung jeder Straftat — zumal eines derart komplexen Falles — wenig hilfreich und kann Ermittlungen im Einzelfall erschweren oder gar vereiteln. Gleiches gilt für die frühzeitige Veröffentlichung eines werthaltigen Hinweises oder Ermittlungsansatzes.