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Prozess zum Beinstellen in Connewitz: Mit wenigen Kniffen zum Feindbild

Wenn sich in einem Gerichtsprozess herausstellt, dass ein Angeklagter nicht so ganz in das Feindbild passt, das die “Bild”-Medien ihrer Leserschaft präsentieren wollen, kennt die Redaktion ein paar Kniffe.

Ein 27-Jähriger stand am Mittwoch in Leipzig vor Gericht, weil er in der Silvesternacht einem Polizisten ein Bein gestellt hatte. Der Beamte fiel zu Boden und verletzte sich leicht an Arm und Knöchel. Der Angeklagte wurde wegen Angriffs auf und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte sowie Körperverletzung schuldig gesprochen — sechs Monate Haft auf Bewährung und 60 Stunden gemeinnützige Arbeit, so das Urteil. Der Prozess hat vor allem deswegen viel Aufmerksamkeit bekommen, weil das Beinstellen im Leipziger Stadtteil Connewitz passiert ist, wo es an dem Abend gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen mutmaßlichen Linksradikalen und der Polizei gab.

Kniff 1: Bei Bild.de schreibt der anonyme Autor, der Angeklagte sei nach wie vor uneinsichtig:

Wohl auch wegen der eindeutigen Beweislage hatte [A.] vor dem Urteilspruch ein Geständnis abgelegt. Einsicht zeigte der Mann jedoch nicht. Er rechtfertigte den Angriff auf die Polizei vielmehr: Er sei das erste Mal zu Silvester am Connewitzer Kreuz gewesen. Bevor er den Beamten angriff, habe er gesehen, wie Polizisten auf Zivilisten losgegangen seien.

Bei so gut wie allen anderen Medien klingt das völlig anders:

Der nicht vorbestrafte Angeklagte entschuldigte sich in der Verhandlung immer wieder. Er könne sich nicht erklären, warum er das Bein gestellt habe. “Das war eine riesengroße Dummheit”, sagte er.

… schreibt Süddeutsche.de.

“Ich weiß nicht, was mich da geritten hat. Das war ein riesengroßer Fehler”, sagte er.

… zitiert ihn die dpa.

An den Polizisten wendet er sich direkt: “Ich will mich auf jeden Fall entschuldigen, dass ich das getan habe.”

… steht bei taz.de. Und der MDR resümiert:

Der 27-jährige Straßenkünstler zeigte sich reumütig.

Auch Bild.de erwähnt die Entschuldigung in einem Halbsatz und schreibt, dass der Mann von einem riesengroßen Fehler “gestammelt” habe.

Anders als Bild.de behauptet, nutzte der Angeklagte es auch nicht als Rechtfertigung für seine Tat, dass er gesehen habe, “wie Polizisten auf Zivilisten losgegangen seien”: Die Frage des Richters, ob er dem Beamten deswegen das Bein gestellt hatte, verneinte der Angeklagte.

Kniff 2: Bild.de schreibt, die Staatsanwaltschaft sei davon überzeugt gewesen, dass der Mann in Connewitz “mitgemischt” habe:

Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft hatte der 27-Jährige mitgemischt, als an Silvester nach Mitternacht die Situation zwischen Linksradikalen und der Polizei eskalierte.

Die dpa schreibt hingegen:

Der 27-Jährige war eher eine Randfigur in dem gewalttätigen Geschehen auf dem Connewitzer Kreuz in dem als linksalternativ geltenden Stadtteil Leipzigs. Mit dem schwerwiegendsten Tatvorwurf aus der Silvesternacht — einem versuchten Mord an einem 38 Jahre alten Polizisten — hatte er laut Staatsanwaltschaft nichts zu tun.

Die Darstellung von Bild.de passt schon zeitlich nicht richtig. Bei taz.de steht:

Was der 27-Jährige sich hat zuschulden kommen lassen, geschah weit später als die Tat, die nun als Mordversuch gilt und über die jetzt alle reden. In dem Zusammenhang habe man A. nicht gesehen, bestätigen auch die zwei Polizeizeugen.

Und der MDR schreibt:

Zum Tatzeitpunkt gegen ein Uhr nachts war es wieder ruhiger am Connewitzer Kreuz. Auch sei der Angeklagte den Polizisten zuvor nicht aufgefallen. Daher sah das Gericht keinen Zusammenhang mit den Ausschreitungen in der Silvesternacht.

Kniff 3: Im Post in den Sozialen Netzwerken lässt die “Bild”-Redaktion es trotzdem so aussehen, als habe der Angeklagte mit jenen “Angriffen auf Polizisten” zu tun, über die seit Tagen heftig debattiert wird:

Screenshot eines Tweets der Bild-Redaktion - Angriffe auf Polizisten - Blitzprozess gegen ersten Silvester-Chaoten
(Der Augenbalken stammt von “Bild”, die restliche Unkenntlichmachung von uns.)

Kniff 4: In der Überschrift des Artikels schreibt Bild.de, dass der Angeklagte ein “mildes Urteil” bekommen habe:

Screenshot eines Tweets der Bild-Redaktion - Screenshot Bild.de - Angriffe auf Polizisten in Leipzig - Mildes Urteil im Blitzprozess gegen Silvester-Chaoten

Darüber lässt sich natürlich streiten. Man kann aber auch der Meinung sein, dass bei einem nicht vorbestraften, geständigen und reumütigen Täter sowie den überschaubaren Folgen der Körperverletzung ein halbes Jahr Gefängnis auf Bewährung plus 60 Stunden gemeinnützige Arbeit durchaus angemessen sind — wenn man nicht gerade versucht, auf Biegen und Brechen ein Feindbild zu bedienen.

Mit Dank an @RobertDaut und @Schuhbrahimovic für die Hinweise!

Das miese Geschäft der “Bild am Sonntag”

Da waren sie bei “Bild am Sonntag” und Bild.de aber ziemlich empört:

Screenshot Bild.de - Becher, Tassen, Mützen - Das miese Geschäft mit Greta Thunberg

Irgendwelche Leute versuchen nämlich, mit den Image von Greta Thunberg Geld zu machen, indem sie deren Gesicht auf T-Shirts packen, Puppen der Klimaaktivistin herstellen oder Kaffeebecher mit Greta-Sprüchen bedrucken. “Bild am Sonntag” erklärt, dass man sich dagegen wehren kann, und dass Greta Thunberg das auch macht, indem sie “den Schutz ihres eigenen Namens beantragt” habe: “Einen entsprechenden Antrag hat ihr Anwalt beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) eingereicht.”

Zur Situation in Deutschland schreibt “BamS”:

In Deutschland hat jeder ein Recht am eigenen Bild und Namen. Wenn jemand anderes das kommerziell nutzt, kann man als Betroffener dagegen vorgehen.

Ein Markenrechtsexperte erklärt das noch mal genauer:

Der Frankfurter Markenrechtsexperte Eckart Haag (46) sagt: “Ich kann den Nutzer auffordern, das zu unterlassen und mir Auskunft zu erteilen, wie viele Tassen, T-Shirts oder Sonstiges er mit meinem Bild oder Namen verkauft hat. Wenn er das nicht tut, lasse ich per Gericht die Handlung stoppen.”

Im nächsten Schritt kann man Schadenersatz einklagen. Haag: “Das positive Image des Prominenten fördert den Absatz und steigern der (sic) Wert eines Gegenstandes erheblich. Dadurch kann ein erheblicher Teil des erzielten Gewinns eingefordert werden. 80 Prozent sind durchaus denkbar.”

Bei “Bild am Sonntag” kennen sie sich mit dem Thema aus: Im Oktober des vergangenen Jahres entschied das Oberlandesgericht Köln, dass die Redaktion ein Foto des Schauspielers Sascha Hehn in dessen früherer Rolle als “Traumschiff”-Kapitän nicht hätte verwenden dürfen. Im Blatt hatte sie mit diesem Foto, auf dem Hehn und zwei weitere Schauspieler zu sehen waren, für ihr “Urlaubslotto” geworben, bei dem die Leserinnen und Leser eine Kreuzfahrt gewinnen konnten, wenn sie eine kostenpflichtige Telefonnummer anriefen oder eine kostenpflichtige SMS schickten. Sascha Hehn hatte mit dem Gewinnspiel aber überhaupt nichts zu tun. Er hatte einer Verwendung des Fotos in diesem Zusammenhang nicht zugestimmt. Und er war auch nicht Teil des Gewinns — in “Bild am Sonntag” stand sogar, die Abgebildeten werde man auf der Kreuzfahrt “zwar nicht treffen. Aber wie auf dem echten TV-Traumschiff schippern Sie zu den schönsten Buchten und spannendsten Städten.”

Das Gericht schrieb dazu in einer Pressemitteilung (PDF):

Die Beliebtheit des Klägers als Traumschiff-Kapitän habe als “Garant” für eine Traumreise ersichtlich auch auf den Hauptgewinn abfärben sollen. Außerdem sei mit dem Bild des Klägers die Aufmerksamkeit der Leser auf die kostenpflichtigen Mehrwertdienstnummern gelenkt worden, mit denen eine gewisse Refinanzierung des Gewinnspiels erfolgt sei.

Das Urteil war zu dem Zeitpunkt, als die Pressemitteilung veröffentlich wurde, noch nicht rechtskräftig.

Die “Bild”-Medien wollen mit Greta Thunberg übrigens auch ein bisschen Geld verdienen, wenn auch auf etwas andere Weise: Den Artikel, der “das miese Geschäft” mit Thunberg anprangert, kann man nur mit einem “Bild plus”-Abo lesen:

Screenshot Bild.de - Greta-Shirts, Greta-Handyhüllen, Greta-Püppchen: kaum ein Souvenir, das es nicht von der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg gibt. Ihre Einwilligung gab sie nie. Lesen Sie mit BILDplus, was Greta jetzt dagegen unternimmt
(Draufklicken für größere Version.)

Mit Dank an @yanjulang für den Hinweis!

“Bild” berichtet über den Unfall in Südtirol: “HABT IHR SIE NOCH ALLE?”

Die “Bild”-Medien berichten seit einigen Tagen ausgiebig über einen Unfall in Südtirol, bei dem sieben Menschen starben, und der Fahrer stark alkoholisiert war. Dabei läuft sehr vieles sehr schief.

***

Auf der heutigen “Bild”-Titelseite zeigt die Redaktion Fotos der Opfer und des Unfallfahrers:

Ausriss Bild-Titelseite - Horror-Unfall in Südtirol - Die jungen Leben zerstörte der Totraser - Und dieses Auto machte er zur Waffe

Die Unkenntlichmachung bei drei der Opfer und beim Fahrer stammt von uns, die beim Opfer ganz rechts stammt von “Bild” (dazu später mehr). Das zweite Opferfoto von links, das “Bild” heute auf Seite 1 und auf Seite 3 unverpixelt zeigt und das auch bei Bild.de auf der Startseite unverpixelt zu sehen war, zeigt allerdings eine Frau, die mit dem Unfall rein gar nichts zu tun hat. Sie war nicht in Südtirol und vor allem: sie lebt.

Gestern Abend schrieb sie bei Facebook (nur für Freunde öffentlich zu sehen):

LIEBE BILD? Wie kann das passieren? Ich bin am Leben und es wird wahllos ein Bild vor gefühlt 8 Jahren ins Netz gestellt obwohl ich nicht betroffen bin? HABT IHR SIE NOCH ALLE? schlimm genug dass ihr mit der Story Kohle verdient!

Bild.de hat das Foto inzwischen ausgetauscht und zeigt nun zum selben Opfernamen ein unverpixeltes Foto einer anderen Frau. Im “Bild”-E-Paper war das Foto noch lange zu sehen. Inzwischen sind auch dort die Fotos auf der Titelseite und auf Seite 3 ausgetauscht. An Tankstellen, in Bäckereien und an Kiosken liegen hingegen weiter Hunderttausende “Bild”-Exemplare aus, auf deren Titelseiten eine lebende Frau mit unverpixeltem Foto für tot erklärt wird.

Wir haben bei “Bild”-Sprecher Christian Senft nachgefragt, wie es zu dem Fehler kommen konnte. Er hat uns bisher nicht geantwortet.

***

Die “Bild”-Medien zeigen Fotos von vier weiteren Personen, bei denen es sich um Menschen handeln soll, die bei dem Unfall gestorben sind. Als Quellenangabe gibt die Redaktion für alle “PRIVAT” an, was nichts anderes heißen dürfte als: Bei Facebook oder Instagram per rechter Maustaste zusammengeklaubt.

Außerdem geht “Bild” sehr unterschiedlich bei der Unkenntlichmachung vor: Manche Fotos sind verpixelt, andere nicht. Bei den zwei Personen, die verpixelt sind, steht in den Bildunterschriften:

Ausriss Bild-Zeitung - Auf Wunsch der Eltern hat Bild sein Foto verpixelt und Auf Wunsch der Familie hat Bild das Foto verpixelt
(Unkenntlichmachung durch uns.)

Eines der Fotos zeigt einen Mann, das andere eine Frau. Bei dem Mann ist die “Bild”-Redaktion ziemlich inkonsequent: Im Blatt ist sein Gesicht entsprechend der Bildunterschrift verpixelt, auf der Titelseite hingegen nicht — zumindest in der E-Paper-Ausgabe. Bei der gedruckten “Bild” ist sein Gesicht zumindest in Berlin auch auf der Titelseite verpixelt. Nachdem wir “Bild”-Sprecher Senft in unserer Mail auf die fehlende Verpixelung auf Seite 1 aufmerksam gemacht haben, hat die Redaktion es auch im E-Paper überall verpixelt.

Wir wollten von Christian Senft wissen, ob “Bild” und Bild.de bei den Eltern aller Opfer nachgefragt hat, ob diese mit einer Foto-Veröffentlichung — gepixelt oder ungepixelt — einverstanden sind. Er hat uns bisher nicht auf unsere Frage geantwortet.

Und wir haben Senft gefragt, ob “Bild” die Eltern und Familien, die in den Bildunterschriften erwähnt werden, vor der Veröffentlichung der Fotos gefragt hat, ob das verpixelte Zeigen ihres Kindes für sie in Ordnung ist — oder ob diese sich bei “Bild” melden mussten, nachdem die Redaktion die Fotos bereits unverpixelt veröffentlicht hatte, um wenigstens noch die Verpixelung zu erreichen.

Auch darauf hat Christian Senft nicht geantwortet. Es spricht aber vieles dafür, dass die Familien intervenieren mussten, damit die Fotos ihrer Kinder nachträglich verpixelt werden: Der oben bereits erwähnte Mann, dessen Foto die “Bild”-Medien “auf Wunsch der Eltern” verpixelt haben, war gestern Nachmittag noch ohne Unkenntlichmachung auf der Bild.de-Startseite zu sehen:

Screenshot Bild.de - Suff-Fahrer raste J. in den Tod
(Unkenntlichmachung durch uns.)

Entweder haben die Eltern sich umentschieden (erst unverpixelt in Ordnung, dann nur verpixelt in Ordnung). Oder die “Bild”-Redaktion hat einfach, ohne zu fragen, das Foto unverpixelt veröffentlicht, und die Eltern mussten aktiv werden.

Ganz ähnlich bei der Frau, deren Foto “Bild” “auf Wunsch der Familie” verpixelt hat: Anfangs war ein Foto, das sie zeigt, bei Bild.de verpixelt, dann nicht mehr und nun wieder.

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Wir haben “Bild”-Sprecher Senft gefragt, ob die Eltern und Familien der Opfer, deren Fotos nicht verpixelt sind, einer unverpixelten Veröffentlichung zugestimmt haben, oder ob sie sich bisher einfach nicht gegen die unverpixelte Veröffentlichung gewehrt haben. Auch darauf bekamen wir keine Antwort.

Die Veröffentlichung des Fotos der Frau, die “Bild” fälschlicherweise für tot erklärt hat, spricht dafür, dass die “Bild”-Medien niemanden vorher gefragt haben — denn wer stimmt schon einer (unverpixelten) Veröffentlichung zu, wenn man überhaupt nichts mit dem Fall zu tun hat?

***

Viele Beiträge zum Thema hat Bild.de hinter die Paywall gestellt. So auch diesen “MIT VIDEO”:

Screenshot Bild.de - Um 16.55 Uhr postete J. noch ein Video aus dem Hexenkessel - Knapp neun Stunden später war sie tot
(Unkenntlichmachung des Namens und der Person in der Mitte durch uns. Unkenntlichmachung der beiden Personen außen durch Bild.de.)

Nicht nur, dass die Redaktion sich private Videoaufnahmen einer verstorbenen Person besorgt — sie versucht dann auch noch, damit ein paar Abos zu verkaufen und Geld zu machen.

***

Um an Informationen zu kommen, scheinen die “Bild”-Medien nicht nur die Profile der Opfer in den Sozialen Netzwerken zu durchforsten — offenbar behelligen sie auch deren Familien. Bei Reddit schreibt ein User:

Heute hab ich plötzlich eine Nachricht von einer Freundin bekommen, dass eines der Opfer der Bruder ihres Freundes ist. Ich kannte den verstorbenen Bruder nicht persönlich, aber dafür ihren Freund und war auch wenn ich nicht viel mit ihm zutun habe zutiefst geschockt.

Was mir allerdings dann erzählt wurde lässt mir echt den Kragen platzen. Anscheinend haben irgendwelche fuckig Reporter von der Bildzeitung wie auch immer herausgefunden, wo die Angehörigen des verstorbenen wohnen und noch am selben Tag angeschellt, die Familie bedrängt und nach einem Interview gefragt. Wie kann man so fucking dreist sein? Man kriegt die Nachricht von der Polizei, dass dein Sohn/Bruder gestorben ist und am selben Tag kommt die scheiß Bildzeitung zu dir nach Hause und fragt nach einem Interview, damit sie aus der Tragödie anderer Menschen Material für ihre scheiß Titelseite haben um Leute zu ködern ihre scheiß Zeitung zu kaufen?

Außerdem haben uns mehrere BILDblog-Leserinnen und -Leser geschrieben, dass sie Verwandte der Opfer kennen. Sie alle sagen, dass die Berichterstattung der “Bild”-Medien für die Familien nur schwer zu ertragen sei.

***

Neben den Fotos der Opfer veröffentlichen “Bild” und Bild.de auch mehrere unverpixelte Fotos des Unfallfahrers. Online ist sein Gesicht seit mehreren Tagen durchgängig auf der Startseite zu sehen. Dass der Mann derzeit “als psychisch nicht stabil gilt”, berichten die “Bild”-Medien zwar; ein Grund, seine Fotos nur verpixelt zu zeigen, ist das für sie aber offensichtlich nicht. In einem Video zeigte Bild.de sogar eine unverpixelte Aufnahme, während ein Reporter erzählt, dass der Mann gerade in eine psychiatrische Einrichtung eingeliefert wurde.

Wir haben den “Bild”-Sprecher gefragt, ob die Redaktion eine Erlaubnis des Mannes hat, seine Fotos ohne Unkenntlichmachung zu zeigen. Christian Senft hat darauf nicht geantwortet.

***

“Bild” und Bild.de hauen alles zu dem Fall raus, was sie in die Finger bekommen. Zwei Titelseiten sind zu dem Unfall in Südtirol schon erschienen, im Blatt zwei Doppelseiten, weit mehr als ein Dutzend Artikel bei Bild.de und dazu online mehrere Live-Sendungen. Es wirkt ein bisschen wie ein weiterer Probelauf für den geplanten “Bild”-TV-Sender: Wie groß können alle “Bild”-Kanäle auf einmal ein Thema machen?

Dafür sind 14 (!) Autorinnen und Autoren im Einsatz. Mit ihrer Arbeit sorgen sie dafür, dass Familien, die gerade einen geliebten Menschen verloren haben, sich in ihrer Trauer auch darum kümmern müssen, dass das Schicksal ihres Kindes, ihres Bruders oder ihrer Schwester nicht gnadenlos von einer Boulevardredaktion ausgeschlachtet wird.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

Nachtrag, 8. Januar: Von “Bild”-Sprecher Christian Senft haben wir nach wie vor keine Antworten auf unsere Fragen bekommen. “DWDL” hat er heute allerdings geantwortet:

Gegenüber DWDL.de äußerte sich Springer-Sprecher Christian Senft am Mittwoch jedoch zu der Foto-Panne: “Aufgrund eines bedauerlichen Fehlers in der Herstellung ist bei der umfassenden Berichterstattung von ‘Bild’ zum tragischen Unfall in Südtirol in der gedruckten Zeitung ein falsches Foto für eines der Unfallopfer erschienen. Wir haben dafür bei der betroffenen Familie um Entschuldigung gebeten und das Foto online sowie im E-Paper sofort ausgetauscht. Insofern uns die Familien darum gebeten haben, wurden die Fotos der Opfer bei der Berichterstattung verpixelt.”

Eine Antwort auf die Frage, weshalb sich “Bild” überhaupt dazu entschlossen hat, Fotos der Opfer unverpixelt zu drucken, gab es nicht.

Nachtrag, 9. Januar: Für eine Bitte um Entschuldigung oder wenigstens eine Korrektur, dass die Redaktion eine falsche Person für tot erklärt hat, war in “Bild” bisher leider kein Platz.

Bild.de liefert “Terror”-Futter für Islamhasser und rechte Hetzer

+++ Messermann erschossen! Polizei verhindert Terror-Anschlag in Gelsenkirchen! +++

… schreibt der AfD-Bundestagsabgeordnete Johannes Huber.

++ Angreifer erschossen: Islamistischer Terror-Anschlag vereitelt! ++

… schreibt die AfD-Fraktion, die im nordrhein-westfälischen Landtag sitzt.

+++ Islamistischer Terror? Bewaffneter greift Polizeiwache an, ruft “Allahu akbar” und wird erschossen! +++

… schreibt der AfD-Landesverband Hessen.

Islamisch motivierter Anschlag konnte vereitelt werden!

… schreibt Pierre Jung, Sprecher des AfD-Kreisverbandes Hamm.

Polizei verhindert Terror-Anschlag!

… schreibt Dimitri Schulz, der für die AfD im hessischen Landtag sitzt.

Sie alle beziehen sich in ihren Facebook-Posts auf einen Artikel, der gestern Abend bei Bild.de erschienen ist. Darin geht es um einen Vorfall in Gelsenkirchen: Ein Mann soll sich einer Polizeiwache genähert und dabei mit einem Gegenstand, wohl einem Stock, auf einen Streifenwagen geschlagen haben. Zwei Polizisten, die vor der Wache standen, sollen ihn aufgefordert haben, dies zu unterlassen und stehenzubleiben. Der Mann soll auf sie zugegangen sein und in der anderen Hand ein Messer getragen haben. Daraufhin soll einer der Polizisten den Mann erschossen haben.

Ob es sich dabei um einen “Terror-Anschlag” handelte, den die Polizisten vereitelten, ob es tatsächlich einen islamistischen Hintergrund gab, und ob der Mann wirklich “Allahu Akbar” rief — all das war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Bild.de-Beitrags alles andere als klar. Und dennoch titelte die Redaktion auf ihrer Startseite:

Screenshot Bild.de - Messer-Mann (37) erschossen - Polizei verhindert Terror-Anschlag in Gelsenkirchen

Sowas greifen die AfD-Abgeordneten, -Landesverbände und -Fraktionen genauso gern auf wie die Facebook-Gruppen “Unsere Heimat Deutschland”, “Deutschland – quo vadis”, “Frankfurt gegen Salafismus – Das Original”, “Patrioten des Vaterlands 5” und so weiter. Auch die NPD verbreitet den Bild.de-Artikel, der laut dem Analysetool CrowdTangle allein bei Facebook bisher mehr als 5000 Mal geteilt wurde.

Direkt zu Beginn ihres Textes schreiben die zwei “Bild”-Autoren Celal Çakar und Frank Schneider:

Die Polizei ist sich sicher: Diese feige Attacke war ein versuchter Terror-Anschlag auf Polizisten mitten in Deutschland!

Das ist gleich aus drei Gründen interessant: Erstens hat die Polizei nicht gesagt, dass sie “sicher” sei, dass es sich um einen “versuchten Terror-Anschlag auf Polizisten” handele. Der dpa sagte ein Sprecher, dass ein möglicher terroristischer Hintergrund Gegenstand der Ermittlungen sei. Und auch Zeugenaussagen, nach denen der Mann “Allahu Akbar” gerufen habe, und die erst die zwei “Bild”-Autoren ins Spiel brachten (“Zeugen schilderten BILD, der Mann habe stattdessen laut ‘Allahu Akbar’ (arabisch ‘Gott ist groß’) gerufen”), seien einem Polizeisprecher zufolge erstmal nur “Gerüchte”, die bislang nicht bestätigt seien.

Zweitens lautete dieser erste Satz des Bild.de-Artikels mal ziemlich anders. In einer früheren Version behaupteten Çakar und Schneider noch selbst, dass es sich um einen “Terroranschlag” handelt, und schoben nicht die Polizei als vermeintliche Quelle vor:

Die Polizei hat im Ruhrgebiet einen Terroranschlag verhindert!

Und drittens hat die Polizei inzwischen bekanntgegeben, dass sie nicht von einem terroristischen Hintergrund ausgehe.

Das ist inzwischen auch bei Bild.de angekommen. Die Überschrift hat die Redaktion klammheimlich geändert in:

Screenshot Bild.de - Messer-Mann (37) erschossen - Polizisten in Gelsenkirchen angegriffen

Und den ersten Satz genauso klammheimlich in:

Die Polizei ist sich sicher: Diese feige Attacke war ein versuchter Anschlag auf Polizisten mitten in Deutschland!

Einen Korrekturhinweis darauf, dass man mal etwas völlig anderes berichtet hat, gibt es nicht. Nur zur Erinnerung: Bild.de wird von einem Mann geleitet, der über sich selbst gern sagt, dass es ihm “grundsätzlich leicht” falle, “mich zu entschuldigen, wenn wir Fehler gemacht haben.”

Mit Dank an @MeiersKaettche für den Hinweis!

Bringt Julian Reichelt die Familien der TV-Köche in Gefahr?

Screenshot Bild.de - Deutschlands Topf-Verdiener - Wie viel unsere TV-Köche absahnen

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Bei dieser wortspielreichen Geschichte von “Bild” und Bild.de müssten bei Chefredakteur Julian Reichelt eigentlich alle Alarmglocken läuten. Denn nach dessen Logik bringt die öffentliche Schätzung des Gehalts einer Person ja deren Familie in Gefahr — zumindest sieht es Reichelt so, wenn es um ihn selbst geht. Bekanntermaßen wollte er nicht, dass sein Einkommen geschätzt wird, als das Medienmagazin “kress pro” zu Gehältern von Chefredakteuren recherchierte.

Allerdings scheint Julian Reichelt nur bei sich selbst so strikt sein zu wollen, auf jeden Fall nicht bei Fernsehköchen. Und so sind laut der Reicheltschen Logik nun Tim Mälzers, Frank Rosins und Jamie Olivers Familien in Gefahr.

Ein Glück, dass die “Bild”-Medien nur bei den dreien in der Lage waren, Gehalt beziehungsweise Vermögen zu recherchieren. Alle anderen Zahlen, die die Redaktion nennt, sind lediglich vage Schätzungen von Gagen. Die Familien der restlichen Fernsehköche, die sich “reich gekocht” haben, wie “Bild” schreibt, können also erstmal aufatmen.

Wen Julian Reichelt nach Julian-Reichelt-Logik sonst noch in Gefahr gebracht haben könnte:

Mit Dank an Tony und @8menschlich für die Hinweise!

Bei “Bild” ein Pop-Star

Bei “Bild” und Bild.de stört es sie, wie Jens Söring, der wegen Doppelmordes in den USA rechtskräftig verurteilte wurde, obwohl an seiner Schuld erhebliche Zweifel bestanden und bestehen, nach seiner Freilassung und der Abschiebung in Deutschland empfangen wurde. Söring sei …

Screenshot Bild.de - Ein Mörder, kein Pop-Star!

Es ist ein verstörendes Signal: Ein in den USA rechtmäßig verurteilter Doppelmörder wird in Deutschland empfangen wie ein Popstar.

kommentiert “Bild”-Redakteur Philip Fabian. Und es scheint, als hätte Fabian in den vergangenen Tagen nicht allzu häufig ins eigene Blatt geschaut oder Bild.de besucht. Dort weist die Redaktion zwar bei jeder Gelegenheit darauf hin, dass es sich bei Söring um einen “Doppelmörder” handelt, ansonsten aber berichtet sie über den Mann wie sie sonst nur über (Pop-)Stars berichtet.

Die “Bild”-Medien folgen Jens Söring bei jedem Schritt und dokumentieren alles. Sörings “ANKUNFT AM FLUGHAFEN”:

Screenshot Bild.de - Sörings Ankunft am Flughafen Frankfurt - Er blickte dreimal in den Himmel - Hach Gott, ist das schön

Sörings Begrüßungskomitee:

Screenshot Bild.de - Zwölf Jahre Kampf für Sörings Freiheit - In inniger Umarmung mit einem Doppelmörder

Sörings Zukunftspläne:

Screenshot Bild.de - Nach 33 Jahren US-Haft kehrt der Doppelmörder zurück - Sörings Pläne für sein Leben in Deutschland

Sörings Klamotten:

Screenshot Bild.de - Jens Söring nach 33 Jahren Knast wieder in Deutschland - Im Jogginganzug lässt sich der Doppelmörder durch Hamburg fahren

Sörings Schuhe:

Screenshot Bild.de - Doppelmörder Söring in Frankfurt gelandet - 33 Jahre im Knast waren Schnürsenkel verboten - In weißen Sneakern in die Freiheit

In “Bild” gab es eine ganze Söring-Seite:

Ausriss Bild-Zeitung - Übersicht über eine komplette Seite mit verschiedenen Artikeln über Jens Söring

Und bei Bild.de einen Livestream von der Landung in Frankfurt am Main (“BILD LIVE BEI DER LANDUNG VON JENS SÖRING”).

Außerdem hat die Redaktion eine Liste erstellt mit Erfindungen und Ereignissen, die Söring durch seine “33 Jahre hinter Gittern” verpasst habe:

Screenshot Bild.de - 33 Jahre hinter Gittern - Was Jens Söring im Knast alles verpasst hat

Darunter so prägende Sachen wie Matthias Reims Song “Verdammt, ich lieb’ dich” oder “DSDS und Dieter Bohlen”. Und wirklich Wichtiges wie die Terroranschläge vom 11. September 2001, von denen man aber natürlich auch im Gefängnis etwas mitbekommen kann. Außerdem habe Söring verpasst, dass “Deutschland vier Mal Fußballweltmeister” wurde, was einfach nur Blödsinn ist, weil Jens Söring beim ersten Weltmeistertitel 1954 überhaupt noch nicht geboren war und beim zweiten 1974 noch nicht im Gefängnis saß*.

Am beklopptesten aber ist der Bild.de-Artikel über Sörings Flug nach Deutschland:

Screenshot Bild.de - Doppelmörder Söring im Flugzeug nach Deutschland - Western, Huhn, Orangensaft - danach schlief er ein

Der Text hält, was die Überschrift befürchten lässt:

Die Maschine rüttelt heftig, beim Durchqueren einer Schlechtwetterfront gibt es Turbulenzen. Passagier Söring bleibt inzwischen gelassen — und er hat das Entertainment-System entdeckt, eine Stewardess gab ihm zuvor Ohrenstöpsel.

Wenige Reihen weiter erreicht eine weitere Flugbegleiterin den Deutschen: “Huhn oder Pasta?”, wird er gefragt. Er bestellt Huhn. Dazu einen Becher Orangensaft. Dann noch einen — und ist dann wieder vertieft in das Unterhaltungssystem. Später schläft er ein — der Film läuft noch.

Mittlerweile ist der Flieger in Frankfurt gelandet. Zuvor gab es Frühstück: Croissants und Joghurt. Söring greift zu.

Solche Nichtigkeiten, zumal in dieser Fülle, berichten die “Bild”-Medien nicht mal über die größten Pop-Stars.

Mit Dank an Oliver H., Christian G., Markus T., @J_MkHk, @moejevski und @spokenxD für die Hinweise!

*Korrektur, 17:11 Uhr: Bei den vier Weltmeistertiteln haben wir Blödsinn erzählt: Bild.de meint die zwei WM-Titel für die deutschen Fußballer und die zwei WM-Titel für die deutschen Fußballerinnen, während Jens Söring im Gefängnis saß. Damit ist “Deutschland vier Mal Fußballweltmeister” richtig. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

“Bild” lässt getöteten “GEZ-Mann” wegen offener Gebühren klingeln

In Köln ist am vergangenen Freitag ein Mann erstochen worden. Tatverdächtig ist ein anderer Mann, der inzwischen in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen wurde.

“Bild” berichtete am Samstag groß auf der Titelseite über den Fall. Die Redaktion zeigte ein unverpixeltes Foto des Opfers und schrieb dazu:

Ausriss Bild-Titelseite - Er klingelte wegen offener Gebühren - GEZ-Kassierer an Haustür erstochen!
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

Auch bei Bild.de war ein Foto des Mannes ohne jegliche Unkenntlichmachung auf der Startseite zu sehen. Dort war nicht von “GEZ-Kassierer”, sondern von “GEZ-Mann” die Rede:

Screenshot Bild.de - GEZ-Mann - Als er klingelte, stach der Killer zu

Nun gibt es die GEZ, die Gebühreneinzugszentrale der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, schon seit einigen Jahren nicht mehr, aber das nur nebenbei. Vermutlich meinen die “Bild”-Medien den Beitragsservice von ARD, ZDF und Deutschlandradio. Dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter klingeln allerdings nicht “wegen offener Gebühren” an Haustüren. Das erklärt auch ein Sprecher des Beitragsservice in den Artikeln von “Bild” und Bild.de — was die Redaktion bei ihrer Wahl von Überschrift und Dachzeile offenbar nicht sonderlich interessiert hat.

Das Opfer war auch gar nicht bei der GEZ beziehungsweise dem Beitragsservice angestellt, sondern bei der Kämmerei der Stadt Köln. Auch das steht im Artikel der “Bild”-Medien. Die Stadtkämmerei schaut durchaus bei säumigen Beitragszahlerinnen und -zahlern vorbei. Doch der Einsatz, bei dem der Mann erstochen wurde, soll damit überhaupt nichts zu tun gehabt haben, wie man ebenfalls bei “Bild” und Bild.de nachlesen kann:

Nach BILD-Informationen aus der Behörde soll es bei [dem Tatverdächtigen] aber nicht um Rundfunkgebühren gegangen sein — was [das Opfer] dort kassieren wollte, teilte die Stadt nicht mit.

Der Einsatz des Mannes, der nicht für die GEZ/den Beitragsservice arbeitete, soll also rein gar nichts mit Gebühren der GEZ/des Beitragsservice zu tun gehabt haben, was die “Bild”-Redaktion auch alles wusste — und dennoch titelt sie: “Er klingelte wegen offener Gebühren – GEZ-Kassierer an Haustür erstochen!”

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

“Bild” spielt üblen Klimafehlpass

Irgendwas mit Geflüchteten, irgendwas gegen die Grünen — das landet bei “Bild” und Bild.de selbstverständlich auf der Titel- und Startseite:

Ausriss Bild-Titelseite - Heftige Kritik von anderen Parteien - Grüne wollen deutschen Pass für Klima-Flüchtlinge
Screenshot Bild.de-Startseite - Plan der Grünen - Klima-Flüchtlinge sollen deutschen Pass bekommen

Über den “PLAN DER GRÜNEN” schreiben Filipp Piatov, Karina Mössbauer und Peter Tiede:

Kann jeder Klima-Flüchtling bald Deutscher werden?

Dieser Grünen-Plan hat es in sich: Ganze Bevölkerungsgruppen sollen wegen des Klimawandels umsiedeln dürfen. Und zwar AUS der ganzen Welt IN die ganze Welt!

Es geht um sogenannte Klimapässe. Das “Bild”-Trio erklärt das folgendermaßen:

Klima-Flüchtlinge aus aller Welt sollen in Industrie-Länder auswandern dürfen. Auch nach Deutschland. Und bei Ankunft gleich den deutschen Pass bekommen. “Eine Staatsbürgerschaft im aufnehmenden Land kann eine Option sein”, sagte Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (64, Grüne) zum Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Natürlich verdrehen Piatov, Mössbauer und Tiede Claudia Roths “kann eine Option sein” direkt in “gleich den deutschen Pass bekommen”. Und sie verzichten darauf, einen ganz entscheidenden Satz Roths ebenfalls zu zitieren. Auf die Frage “Sollen die Betroffenen bei Ankunft in Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten?” antwortete die Grünen-Politikerin im Interview mit dem “Redaktionsnetzwerk Deutschland”:

Das internationale Recht fordert dazu auf, Staatenlosigkeit zu vermeiden. Genau solche Fragen müssen wir also dringend international diskutieren. Eine Staatsbürgerschaft im aufnehmenden Land kann eine Option sein.

(Hervorhebung durch uns.)

Es geht Claudia Roth bei ihrer Aussage zur Staatsbürgerschaft im aufnehmenden Land also nicht um “jeden Klima-Flüchtling”, wie “Bild” es ins Spiel bringt, sondern nur um die, bei denen eine Staatenlosigkeit droht. Ausführlicher wird das in einem Antrag der Bundestagsfraktion der Grünen (PDF) erklärt:

Auch muss sich die internationale Staatengemeinschaft darauf einigen, wie sie mit dem erwartbaren Verlust ganzer Staatsgebiete umzugehen gedenkt. Entsprechende Debatten und Verhandlungen bedürfen deutlich mehr Nachdruck. Wenn absehbar ist, dass beispielsweise Inselstaaten im Pazifik vollständig verschwinden, muss dringend festgelegt werden, welche völkerrechtlichen Folgen der Verlust des Territoriums für die Betroffenen, ihre Staatsangehörigkeit und ihren Schutzanspruch mit sich bringt. Es ist dafür Sorge zu tragen, dass Staatenlosigkeit de facto und de jure verhindert wird. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, Lösungen international voranzutreiben — etwa die Idee eines Klimapasses, dessen individueller Ansatz den Betroffenen ermöglicht, selbstbestimmt und frühzeitig über ihre Migration zu entscheiden.

Roth spricht in diesem Zusammenhang zum Beispiel von “den Bürgerinnen und Bürgern pazifischer Inselstaaten wie Tuvalu oder Kiribati”, “deren Land vollständig im Meer zu verschwinden droht”.

Das Ziel des “Grünen-Plans” ist übrigens auch nicht primär, dass Personen “AUS der ganzen Welt IN die ganze Welt”, etwa nach Deutschland, umsiedeln. Danach gefragt, ob es nicht erstmal darum gehen müsse, “dass Menschen in ihrer Heimat bleiben können”, antwortete Claudia Roth:

Unbedingt, das muss oberste Priorität haben

Und auf die Frage, ob die Menschen, die wegen des Klimawandels bereits heute umsiedeln oder fliehen müssen, “herkommen dürfen” sollen:

Die wenigsten wollen das. Natürlich will die Kaffeebäuerin aus dem Benin nicht nach Bamberg ins Anker-Zentrum. Wenn sie schon umsiedeln muss, dann wenigstens regional. Es geht also primär darum, Mechanismen und Lösungsansätze vor Ort zu unterstützen — in der afrikanischen Tschad-Region zum Beispiel, wo große Dürre herrscht, oder in Bangladesch, wo ganze Landstriche vom Meer verschluckt werden.

Auch im Antrag der Grünen heißt es nicht etwa, dass bloß alle “Klima-Flüchtlinge” nach Deutschland kommen sollen, sondern: “den Betroffenen das Recht zu garantieren, innerhalb ihres Landes, in der Region und gegebenenfalls über die eigene Region hinaus umzusiedeln”.

Das “Redaktionsnetzwerk Deutschland” hat Claudia Roth noch gefragt, ob sie denn keine Sorge habe, mit ihren Forderungen “den migrationsfeindlichen Diskurs zu befeuern”. Roth sagte dazu:

Ich lasse mich in meiner Politik nicht von Angst leiten. Sonst hätten die Angstmacher längst gewonnen.

Der “Bild”-Artikel von heute zeigt, dass die Angstmacher es auf jeden Fall weiter versuchen.

“Bild”-Chef schafft “Weihnachten” ab

Wir wünschen entspannte und besinnliche Feiertage und ein erfolgreiches, gesundes Jahr 2020.

So lautet der Spruch in der Grußkarte von “Bild”, “Bild am Sonntag” und “B.Z.”, die die Medienjournalistin Ulrike Simon heute bei “Horizont” präsentiert. Aber fehlt da nicht was? Wo steckt denn “das wichtige Wort: Weihnachten”? Will Julian Reichelt, der als Chef der Chefredakteure für alle drei Blätter verantwortlich ist, etwa eines der zentralen christlichen Feste abschaffen?

Eigentlich wäre das alles nicht der Rede wert, wenn es für die “Bild”-Medien vor ziemlich genau einem Jahr nicht der Rede der Aufregung der Kampagne wert gewesen wäre, dass in einer Weihnachtskarte der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung Annette Widmann-Mauz das aus “Bild”-Sicht “wichtige Wort: Weihnachten” fehlte.

Mehrere Tage versuchten sie bei “Bild” und Bild.de, Widmann-Mauz fertigzumachen und aus dem Amt zu schreiben:

Collage mit Screenshots von Bild.de und Ausrissen aus der Bild-Zeitung - Peinliche Karte aus dem Kanzeramt - Integrations-Beauftragte schafft Weihnachten ab - Die peinliche Weihnachtskarte aus dem Kanzleramt - Integrationsbeauftragte drückt sich vor dem Wort Weihnachten - Kritik-Stum wegen beschämender Weihnachtskarte - Warum ist sie Integrationsministerin?

Filipp Piatov und Franz Solms-Laubach regten sich über die “peinliche Weihnachtskarte aus dem Kanzleramt” auf. Solms-Laubach kommentierte zusätzlich: “Instinktloser Unsinn!” Briefonkel Franz Josef Wagner schrieb an die “Liebe Integrationsministerin”. Und die Redaktion ließ den selbst initiierten “Kritik-Sturm wegen beschämender Weihnachts-Karte” über Widmann-Mauz ziehen. Es war eine typische “Bild”-Kampagne, in der Julian Reichelt und sein Team aus purer Lust auf Krawall eine Kleinigkeit zum großen Skandal aufbliesen. Und für alle ganz Rechten, die das Abendland untergehen sehen, war es ein gefundenes Fressen für Hass und Hetze.

Ulrike Simon schreibt bei “Horizont”, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Axel-Springer-Verlags das fehlende “Weihnachten” noch bemerkt haben sollen:

Glück gehabt, dass Bild den eigenen Faux-pas in diesem Jahr rechtzeitig erkannte. Pech, dass HORIZONT eine von mehreren tausend Karten vor dem Einstampfen retten konnte.

Mit Dank an Max für den Hinweis!

Die schaurige Theorie der Ermittler, die die Ermittler nicht bestätigen

Bei “Bild” und Bild.de gibt es zu Mordfällen nicht einfach irgendwelche Details aus Ermittlungsakten, sondern …

Screenshot Bild.de - Die schaurigen Details aus der Ermittlungsakte - Überführt eine Wohnungs-Anzeige Peggys Mörder?
(Unkenntlichmachung durch uns.)

Der Artikel zum Fall der 2001 verschwundenen, damals neunjährigen Peggy, deren unvollständiges Skelett erst 2016 in einem Wald gefunden wurde, befindet sich hinter der “Bild plus”-Paywall. Die Redaktion versucht, potenzielle Abonnentinnen und Abonnenten mit diesem Versprechen dahinter zu locken:

Erfahren Sie außerdem weitere Details aus den Ermittlungsakten und welche Theorie die Soko Peggy beschäftigt.

Zum Beispiel:

Doch die Ermittlungen laufen weiter, der Fokus liegt vor al­lem auf der Suche nach mög­lichen Trophäen — und den fehlenden Knochen ab dem 12. Brustwirbel abwärts. Die Theorie der Ermittler ist schaurig: Die Leiche könnte zur Vertuschung eines Sexu­aldeliktes zerteilt worden sein.

Und was sagen die Ermittler zu ihrer angeblichen “Theorie”?

Für offizielle Stellungnahmen zu dem Fall ist die Staatsanwaltschaft Bayreuth und dort der Leitende Oberstaatsanwalt Martin Dippold zuständig. Auf unsere Anfrage sagt er: “Die Aussage kommt nicht aus unserem Haus.”

Bliebe noch die Polizei. Der Journalist Thorsten Gütling hat für den Bayerischen Rundfunk beim zuständigen Polizeipräsidium Oberfranken nachgefragt. Von dort heiße es, dass “man bezweifle, dass die Bild-Zeitung über neue Erkenntnisse verfüge.” Also auch von der Polizei keine Bestätigung.

Wir haben auch bei “Bild”-Sprecher Christian Senft nachgefragt, woher die Informationen stammen und welche “Ermittler” genau gemeint sind. Senft antwortete uns, die Redaktion äußere sich grundsätzlich nicht zu Quellen und Recherchen.

Mit Dank an @KaiSteger und Justus F. für die Hinweise!

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