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Darauf einen Absacker!

Als die Boeing 757 von United Airlines am Sonntag von Washington, D.C. nach London von der Startbahn abhob, ahnten die 50 Passagiere an Bord vermutlich noch nicht, dass sie Zeugen und Opfer einer Beinahe-Katastrophe werden würden, die in deutschen Medien so aufbereitet wurde:

Bild.de:

Flugzeug sackt 6000 Meter ab – Notlandung!

“Bild”:

“B.Z.”:

United-Jet sackt 6000 Meter ab: Notlandung

“Focus Online”:

United-Airlines-Maschine muss notlandenBoeing 757 stürzt 6000 Meter in die Tiefe...
United-Airlines-Maschine muss notlanden: Boeing 757 stürzt 6000 Meter in die Tiefe

“Berliner Kurier“:

Flug-Schock
Notlandung! Flugzeug fällt 6000 Meter in die Tiefe

Die deutschen Medien berufen sich dabei auf Artikel ihrer englischen Kollegen, denn zuvor hatten etwa die “Daily Mail” und der “Daily Mirror” über den Zwischenfall berichtet.

Hätten die Journalisten jedoch selbst ein wenig recherchiert (oder einfach mal in ihren zahlreichen Leserkommentaren nachgeschaut), wären sie schnell darauf gestoßen, dass das Flugzeug nicht “gestürzt”, “gefallen” oder “abgesackt” war, sondern die Piloten – weil es Probleme bei einem Triebwerk gab – aus Sicherheitsgründen bewusst niedriger geflogen sind.

Dementsprechend klingt die Version des “Aviation Herald” auch um einiges nüchterner:

Eine United Boeing 757-200, Kennzeichen N14118, Flug UA-130 von Washington Dulles, DC (USA) nach London Heathrow, EN (UK) mit 50 Passagieren und 9 Crew-Mitgliedern, war auf dem Weg auf Flugfläche 390 über den Atlantischen Ozean etwa 500 Nautische Meilen östlich von St. John’s, NL (Kanada), als die Crew über das Notfallmeldesystem erklärte, dass sie ein Triebwerk (RB211) abgeschaltet habe und auf Flugfläche 280 gesunken sei. Das Flugzeug kehrte um und steuerte St. John’s an, wo es etwa 130 Minuten später sicher auf Landebahn 29 landete.

Der Rest des Fluges wurde gestrichen.

Die Airline teilte mit, es sei ein technisches Problem mit einem Triebwerk aufgetreten. Als Vorsichtsmaßnahme sei das Triebwerk abgeschaltet worden. Die Passagiere wurden auf andere Flüge in Richtung London umgebucht.

(Übersetzung von uns).

Wie uns das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt auf Anfrage erklärte, ist es völlig normal, die Flughöhe zu reduzieren, wenn eines von zwei Triebwerken ausfällt oder abgeschaltet werden muss. Nur so kann in vielen Fällen der nächste Flughafen erreicht werden. Und das ist seit knapp 50 Jahren für zweistrahlige Flugzeuge wie die Boeing 757 sogar Vorschrift.

Davon abgesehen ist das Flugzeug laut “Aviation Herald” von Flugfläche 390 (etwa 39.000 Fuß/11.900 Meter) auf Flightlevel 280 (etwa 28.000 Fuß/8.500 Meter) gesunken – also nicht um 6.000 Meter, sondern um “nur” 3.400.

“Spiegel Online” immerhin hat die ursprüngliche Überschrift “Boeing sackt um 6.000 Meter ab” mittlerweile in “Triebwerksprobleme zwingen Boeing zum Umkehren” geändert.

Unter dem Artikel heißt es:

Anmerkung der Redaktion: In der ursprünglichen Meldung wurde der Eindruck erweckt, die Boeing sei nach einem Triebwerksausfall um 6000 Meter unkontrolliert abgesackt. Tatsächlich handelte es sich um ein kontrolliertes Manöver des Piloten. Wir bitten um Entschuldigung.

Mit Dank an Chris K., Stephan Sch. und Wolfgang.

Norden ist da, wo der Daumen links ist

Mit Wolkenkratzern ist es wie mit Journalisten: Es ist quasi unmöglich, einen zu finden, der nicht irgendeine Auszeichnung trägt.

Neben ca. sieben Milliarden Journalistenpreisen gibt es auf der Erde auch ungefähr 828 verschiedene Ranglisten für das wirklich allerhöchste Hochhaus (mit und ohne Antenne auf dem Dach, mit und ohne Wohnungen im Gebäude, nach nutzbaren Etagen, nach Etagen insgesamt, …). Doch während die Journalisten den Hochhäusern reichlich egal sind, ist es umgekehrt anders. Und weil Journalisten auch Zahlen und Listen ganz besonders mögen, bauen sie gerne Artikel mit Bildergalerien, in denen dann Sätze wie dieser stehen:

Immer höher hinaus geht es, die durchschnittliche Höhe der zehn höchsten derzeit im Bau befindlichen Wolkenkratzer beträgt stolze 566 Meter.

Aber auch solche:

Neun der zukünftigen Top-10-Wolkenkratzer stehen in Asien. Besonders hoch hinaus möchte China: Dort werden derzeit sechs der zukünftig wahrscheinlich höchsten Wolkenkratzer errichtet, gefolgt von Südkorea, das zwei Wolkenkratzer bauen wird.

Die Nordhalbkugel wird nur einen einzigen Wolkenkratzer mit einer Höhe von über 500 Metern haben: das One World Trade Center in Lower Manhattan, New York (USA).

Als Nordhalbkugel bezeichnet man den Teil der Erde nördlich des Äquators. Die aktuell im Bau befindlichen Wolkenkratzer in China, Saudi-Arabien und Südkorea, die über 500 Meter hoch werden sollen, liegen damit ebenfalls alle auf der Nordhalbkugel.

Was Bild.de meint, ist die Westliche Hemisphäre, also der Teil der Welt westlich des Nullmeridians in Greenwich.

Mit Dank an Bernd M. und Anonym.

Presserat rügt Opferfoto

Es war eine dieser Überschriften, von der Boulevardjournalisten nachts träumen:

Banker von diesem Ketten-Cop zerhackt und gekocht

Die Geschichte allerdings auch: Das Opfer hatte seinen späteren Mörder im Internet kennengelernt. Die beiden Männer trafen sich zum Sex in der Wohnung des Täters, dabei kam das Opfer zu Tode. Der Täter zerstückelte sein Opfer und kochte dessen Kopf.

“Bild” druckte ein Porträtfoto des Opfers, daneben ein Bild des Täters.

Bild.de berichtete unter anderem so:

Der spektakuläre Berliner-Foltermord: Gruselig, wie im Kino-Schocker "Hannibal"

Die Parallelen zum Film “Hannibal” sahen dabei so aus:

Im Film muss das Opfer Teile seines Gehirns essen. Im realen Fall fanden die Ermittler den gekochten Kopf des Opfers in einem Topf.

Wollte der Mörder sein Opfer vielleicht verspeisen, zögerte aber dann doch? “Es liegen uns keine kannibalistischen Anzeichen vor”, sagt Justizsprecher Martin Steltner.

Ein Leser beschwerte sich beim Presserat. Die Veröffentlichung eines Fotos, auf dem das Opfer deutlich zu erkennen ist, sei im Zusammenhang mit den entwürdigenden Umständen seines Todes überflüssig. Er bemängelte weiter, dass auch der Täter eine Zeitlang auf der Startseite von BILD Online ungepixelt zu sehen war und dass seine HIV-Infektion erwähnt wurde.

Die “Bild”-Rechtsabteilung erwiderte, die Abbildung des Opfers stelle keinen Verstoß gegen Ziffer 8 des Pressekodex dar, da sie im öffentlichen Interesse sei. Der Beitrag befasse sich immerhin mit einem “spektakulären und aufsehenerregenden Kapitalverbrechen”.

Der Artikel sei eine “Folgeberichterstattung zu den Berichten über die polizeiliche Suche nach dem Vermissten”. Medien dürften laut Pressekodex vermisste Personen zeigen, wenn dies in Absprache mit den zuständigen Behörden erfolge. In diesem Vermisstenfall habe die Polizei das Foto im Rahmen eines Fahndungsaufrufs öffentlich gemacht, mit der erneuten Veröffentlichung sollte ein Bezug dazu hergestellt werden.

Die zeitweise Veröffentlichung des ungepixelten Fotos des Täters auf der Startseite von Bild.de hingegen sei ein bedauerliches Versehen gewesen, für das sich die Redaktion entschuldige, erklärte die Rechtsabteilung.

Davon ab habe Bild.de den Täter aber auch zeigen dürfen: Das öffentliche Interesses überwiege das Persönlichkeitsrecht des Täters. Es handele sich um einen spektakulären Kriminalfall, bei dem sich der Ablauf und die beteiligten Personen von anderen Kriminalfällen unterscheiden würden (sic!). Selbst wenn man von einem Verstoß ausginge, wäre dieser nicht schwerwiegend, weil der Teaser nur kurz, nämlich zwischen 0.22 und 9.26 Uhr, zu sehen gewesen sei.

Außerdem liege auch noch eine Situation vor, für die Richtlinie 8.1 Abs. 4 sogar ausdrücklich eine Ausnahme von dem generellen Verbot der Abbildung von Tatverdächtigen vorsehe.

Diese Stelle im Pressekodex lautet übrigens:

Die Nennung des vollständigen Namens und/oder die Abbildung von Tatverdächtigen, die eines Kapitalverbrechens beschuldigt werden, ist ausnahmsweise dann gerechtfertigt, wenn dies im Interesse der Verbrechensaufklärung liegt und Haftbefehl beantragt ist oder wenn das Verbrechen unter den Augen der Öffentlichkeit begangen wird.

Ob sie sich nun auf die Verbrechensaufklärung berufen (der Täter hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ein Geständnis abgelegt, bei dem er von einem “Sex-Unfall” als Todesursache gesprochen hatte) oder auf die Öffentlichkeit (das Opfer kam in der Zweizimmerwohnung des Täters zu Tode), ließen die Springer-Juristen offenbar offen.

Die Erwähnung der HIV-Infektion des Täters stelle ebenfalls keinen Verstoß gegen den Pressekodex dar. Sie ermögliche dem Leser eine Erklärung, warum der Mann sexuelle Dienste im Internet angeboten habe und es zu einem Treffen mit dem Opfer gekommen sei. Die Angabe trage damit dazu bei, dem Leser ein umfassendes Bild von der Tat zu ermöglichen.

Der Beschwerdeausschuss des Presserats hingegen kam zu der Einschätzung, dass Bild.de gegen den Pressekodex, Ziffer 8, verstoßen habe. Danach haben Opfer von Straftaten Anspruch auf besonderen Schutz. Bild.de aber habe das Opfer identifizierbar dargestellt, auf einem unverfremdeten Foto gezeigt, seinen Geburtsort und seinen letzten Wohnorts genannt und den Mann so für einen erweiterten Personenkreis identifizierbar gemacht. Dazu habe es keinen Anlass gegeben.

Die “Maßnahmen” des Presserates:

Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:

  • einen Hinweis
  • eine Missbilligung
  • eine Rüge.

Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.

Der Umstand, dass es um einen zunächst vermissten Mann gehe, rechtfertige keinen späteren Gebrauch des Fahndungsfotos (eine Tatsache, die “Bild” und Bild.de nicht akzeptieren).

Dass der Täter zunächst unverpixelt gezeigt wurde, sei aus Sicht des Beschwerdeausschusses presseethisch ebenfalls nicht vertretbar. Da Bild.de jedoch zeitnah reagiert hat, falle das nicht ins Gewicht. Dass der Täter in der gedruckten “Bild” dauerhaft unverpixelt zu sehen war, ist in diesem Fall unerheblich, da sich die Beschwerde gegen einen konkreten Artikel von Bild.de richtete.

Die Einschätzung des Presserates endet mit dem Satz:

Bei ausreichender Anonymisierung ist auch die Erwähnung einer HIV-Infektion nicht zu beanstanden.

Gemeint ist womöglich: “… wäre auch die Erwähnung einer HIV-Infektion nicht zu beanstanden gewesen”.

Der Beschwerdeausschuss urteilte, Bild.de habe ohne überwiegendes öffentliches Interesse tief in die Privatsphäre des Opfers und seiner Angehörigen eingegriffen. Er sprach eine öffentliche Rüge aus und bat die Redaktion traditionell, “die Rüge gemäß Ziffer 16 Pressekodex zeitnah zu veröffentlichen”.

Bild.de ist dieser Bitte nachgekommen.

Unter dem gerügten Artikel steht nun:

Hinweis der Redaktion:

Der Deutsche Presserat hat BILD.de für diese Veröffentlichung eine Rüge erteilt, weil das Opfer namentlich genannt, im Foto abgebildet und Stationen seines Lebens erwähnt wurden. Diese weitgehende Identifizierbarkeit ist nach Auffassung des Deutschen Presserates nicht mehr vom öffentlichen Interesse an dem spektakulären Mordfall gedeckt. Es lägen keine besonderen Begleitumstände vor, in denen eine Identifizierung in Einzelfällen erlaubt sei. Auch die Tatsache, dass es hier um einen zunächst vermissten Mann geht, rechtfertigt nach Meinung des Deutschen Presserates weder die Veröffentlichung des Fahndungsfotos noch die Abbildung eines anderen Fotos.

Über dem Artikel prangt weiterhin das beanstandete unverpixelte Foto des Opfers.

Betongeflüster

Schauen Sie mal, was man so alles im Internet findet:

“Heilige Scheiße”, ruft der junge Mann im Video.

“Geiler Scheiß”, mögen die Leute bei Bild.de gedacht haben. Sie schnitten das Video neu zusammen und legten einen erläuternden Text darunter:

Das hält selbst der stärkste Bus nicht aus: Eine 2.500 Kilo schwere Betonplatte kracht mit voller Wucht auf das Fahrzeug, fallengelassen von einem Kran im Amsterdamer Stadtzentrum. Schrecksekunde für den Skater, der seinem filmenden Kumpel eigentlich nur seine neuesten Tricks zeigen wollte — doch dann passiert das! Verletzt wurde bei dem Unfall glücklicherweise niemand. Leidtragender nur der Bus, der jetzt mit einem Totalschaden dasteht.

Leidtragende sind allerdings auch die Besucher von Bild.de, denen die Redaktion dieses Video als Dokument eines echten Unfalls verkauft.

In Wahrheit handelt es sich – man hätte es ahnen können – um ein gestelltes Video, wie verschiedene belgische Webseiten seit heute Mittag berichten:

Dass eine Kamera bereitstand und dass der Skater Jaasir Linger Zeuge des Unfalls war, ist kein Zufall. Der ganze Film ist inszeniert. Er ist der Start einer Kampagne gegen die Unsicherheit auf Baustellen in den Niederlanden.

(Übersetzung von uns.)

Weiter heißt es in den Artikeln, dass die Macher der Kampagne jetzt Ärger mit der Verkehrsgesellschaft hätten: Die hatte den Bus abgeschrieben und verkauft, im Video ist aber noch ihr Logo zu sehen, das die Käufer hätten entfernen müssen.

Dass Bild.de wegen der Geschichte Ärger bekommt, ist eher unwahrscheinlich.

Mit Dank an “Mutti”.

Nachtrag, 16. Juli: Auch der Online-Video-Dienst “Zoom In” verkauft seinen Zuschauern den Unfall als echt — zumindest denen, die beim Off-Kommentar nicht sofort eingeschlafen sind. Zu sehen z.B. auf t-online.de.

Mit Dank an Sven K.

Wer ist hier der Chef?

Seit die Menschheit denken kann, wird sie von existenziellen Fragen gequält: “Was ist der Sinn des Lebens?”, “Gibt es ein Leben nach dem Tod?”, “Was ist in der Big-Mac-Sauce eigentlich drin?”, …

Immerhin auf eine dieser Fragen hat Bild.de die Antwort gefunden:

Millionen Hamburger-Fans wollten es schon immer mal wissen: Was ist in der Big-Mac-Sauce eigentlich drin? Nun erreichte diese Frage auch McDonald’s in Kanada — und die Antwort gibt es per Video im Netz: Der Chef persönlich steht in der Küche und erklärt, dass es eigentlich gar kein Geheimrezept ist, denn alles stehe schon lange im Internet.

Mal davon ab, dass die genaue Zusammensetzung der Sauce auch nach dem Betrachten des Videos ein Betriebsgeheimnis bleibt: Der Mann ist nicht “der Chef persönlich” — jedenfalls nicht das, was man in Deutschland gemeinhin unter dem Chef eines Unternehmens versteht.

Wenn Sie mal schauen wollen:

Fastfood für zuhause: McDonald

In der Bauchbinde des Videos steht zwar “executive chef”, aber das ist ein “falscher Freund”. Machen wir doch einfache eine kurze Reise durch verschiedene Sprachen, Jahrhunderte und Küchen:

Das französische “chef” (abgeleitet vom lateinischen “caput” = “Kopf”), das im 17. Jahrhundert ins Deutsche übernommen wurde, steht für einen Vorgesetzten oder Leiter einer Organisation. Der “chef de cuisine” ist entsprechend der “Leiter der Küche”. Dieser Begriff wurde im Englischen auf “chef” gekürzt, so dass “chef” dort nun sehr allgemein für “Koch” steht.

Dan Coudreaut, der Mann im Video, ist der “executive chef”, also der leitende Koch, von McDonald’s in Nordamerika. Er ist verantwortlich für die Entwicklung neuer Produkte und Rezepte.

Mit Dank an KiMasterLian und Andreas H.

Nachtrag, 13. Juli: Bild.de hat Dan Coudreaut im Text und in der Überschrift zum “Koch” gemacht, im Video ist er immer noch “Chef”. (In der URL war interessanterweise von Anfang an von einem “Koch” die Rede.)

Keine Lieder über Liebe

Als der damalige Bundespräsident Christian Wulff dem “Bild”-Chefredakteur auf die Mailbox quatschte, ließen sich Kai Diekmann und seine Redaktion nicht von einer Veröffentlichung eines geplanten Artikels über Wulffs private Hausfinanzierung abbringen. Nun ist es offenbar einigen rangniederen Politikern gelungen, einen auf den ersten Blick deutlich weniger brisanten Artikel, der bereits auf Bild.de erschienen war, wieder löschen zu lassen. Das behauptet zumindest der Bundestagsabgeordnete Diether Dehm.

Dehm ist nicht nur Politiker der Partei Die Linke, sondern auch Musiker, Komponist und Produzent. In dieser Funktion (und der des “Kondom-Erfinders”) hat ihn die “Bild”-Redakteurin Angi Baldauf anlässlich der Veröffentlichung seiner neuen CD “Grosse Liebe. Reloaded” für die Zeitung porträtiert. Ihr Artikel erschien am Samstagabend auf Bild.de:

Diether Dehm (62): Dieser Linke ist der erste Popstar im Bundestag. Hit-Schreiber, Sänger, Kondom-Erfinder — Der Abgeordnete Diether Dehm hat alle Hände voll zu tun.

Etwa 18 Stunden später war der Artikel wieder verschwunden, ist aber auf Dehms Internetpräsenz noch nachzulesen (PDF).

Es spricht wenig dafür, dass der Artikel bei Bild.de versehentlich veröffentlicht und dann wieder zurückgezogen wurde. Bild.de hatte ihn über den offiziellen Twitter-Account beworben:

So erregte der Artikel offenbar auch die Aufmerksamkeit der CDU-Abgeordneten Erika Steinbach, die sich öffentlich empörte:

Frau Steinbach und Herrn Dehm verbindet eine Jahrzehnte alte Feindschaft: 1990 hatte Steinbach behauptet, Dehm sei vor Jahren Stasi-Mitarbeiter gewesen. Dehm ließ diese Behauptung gerichtlich verbieten, doch 1996 tauchte eine Stasi-Akte auf, aus der hervorging, dass Dehm als von 1971 bis 1978 als Informeller Mitarbeiter die Staatssischerheit der DDR mit Informationen aus seinem Umfeld versorgt hatte. Es folgte eine längere Auseinandersetzung, die mit der Feststellung endete, dass Steinbach Dehm als “Stasispitzel” bezeichnen darf.

Dehm war von 1976 bis 1988 Manager des Liedermachers Wolf Biermann gewesen. Biermann hatte hinterher behauptet, Dehm habe sich ihm gegenüber 1988 als ehemaliger Stasi-Mitarbeiter offenbart, weswegen er ihn als seinen Manager entlassen habe.

Ein Vorfall, der auch im Bild.de-Artikel thematisiert wurde:

Den Vorwurf seines ehemaligen Liedermacher-Mitstreiters Wolf Biermann, er habe ihn bei der Stasi verpfiffen, hält er triumphierend das Dokument der Stasi selbst entgegen. Danach hatte die Stasi versucht, ihn als 24-Jährigen anzuwerben. Als Dehm aber 1977 Biermanns Manager geworden war und in Ostberlin sein Protestflugblatt gegen dessen Ausbürgerung verteilt hatte, stempelte die Stasi den “Perspektiv-IM” zum DDR-Staatsfeind. Sogar mit Fahndungsbefehl, welcher heute eingerahmt neben den neun goldenen und vier Platin-LPs hängt.

Diether Dehm hält es dann auch für möglich, dass sich einige politische Gegner daran störten, “dass ausgerechnet ‘Bild’ das entlastende Dokument erwähnt”.

Beschwert haben sich offenbar einige, wenn auch niemand so öffentlich wie Erika Steinbach. Im vom Liedermacher Konstantin Wecker herausgegebenen Blog “Hinter den Schlagzeilen” heißt es:

Dann prasselte der Druck auf die Redaktion. Aus höchsten Kreisen von CDU, SPD, FDP usw.

Die Bildspitze wurde zur Ordnung gerufen. Zur herrschenden Ordnung.

Diether Dehm selbst erklärte uns auf Anfrage, ihm seien inzwischen Namen “aus den Fraktionsspitzen der drei Parteien” zu Ohren gekommen, die am Sonntag bei “Bild” “vorstellig geworden” sein sollen, um sich über die positive Berichterstattung über Dehm und seine neue CD zu beschweren.

Dass Bild.de den Artikel dann wieder offline genommen habe, sieht Dehm als Teil einer Kampagne gegen seine Partei, wie er uns schreibt:

Es ist nicht nur “Bild”, sondern das Gros der Verlagskonzerne, die LINKE nur skandalisiert in ihre Blätter lassen. Wir erleben gerade eine Auferstehung von Zensur a la McCarthy und Berlusconi, damit um Gotteswillen die Wut über die Zockerbanken in der Eurokrise nicht nach links geht.

Das treffe dann sogar seine “kleine, ziemlich unverdächtige Liebeslieder-CD”.

Die Pressestelle der Axel Springer AG antwortete auf unsere Anfrage, wir wüssten ja, dass der Verlag “zu Redaktionsinterna keine Auskunft” gebe. So sei es auch in diesem Fall.

Mit Dank an Nico R. und Rita B.

Zweierlei Maß sind voll

Die Axel Springer AG kämpft seit Jahren gegen eine “Kostenlos-Mentalität” im Internet.

Vor drei Jahren gehörte der Verlag zu den Unterzeichnern der sogenannten “Hamburger Erklärung”, in der es hieß:

Im Internet darf es keine rechtsfreien Zonen geben. Gesetzgeber und Regierung auf nationaler wie internationaler Ebene sollten die geistige Wertschöpfung von Urhebern und Werkmittlern besser schützen. Ungenehmigte Nutzung fremden geistigen Eigentums muss verboten bleiben.

In letzter Zeit trommelte Springer an vorderster Front für ein Leistungsschutzrecht, das schon das Zitieren kurzer Textpassagen im Internet kostenpflichtig machen soll.

* * *

Und damit zum Wetter: Am Wochenende gab es beinahe im gesamten Bundesgebiet Unwetter, die teils schwere Ausmaße ausnahmen. Der Deutsche Wetterdienst DWD zählte insgesamt mehr als 364.000 Blitze.

Bei wetterpool.de, einem nicht-kommerziellen Portal von Hobbymeteorologen, sah die Blitzkarte entsprechend beeindruckend aus:

Das dachten sich wohl auch die Leute von Bild.de, nahmen eine solche Blitzkarte, entfernten die Legende, zeichneten die deutschen Grenzen nach und stellten sie ins Internet:

Hier kracht es am Häufigsten — Der Blitzatlas

Das war offenbar nicht ganz mit dem Rausfeilen der Fahrgestellnummer bei einem gestohlenen Auto zu vergleichen, denn in der Bildunterschrift steht immerhin noch die (aus der Grafik retuschierte) Quelle:

Die Blitz-Karte von Wetterpool.de zeigt, wann und wo sich in Deutschland die Blitze entluden. Blau steht für Freitag, grün für Samstag, Gelb für die Nacht von Samstag auf Sonntag und Rot für den Sonntag

Andererseits haben uns die Betreiber von wetterpool.de geschrieben, das Vorgehen von Bild.de sei “weder erwünscht, noch erlaubt, geschweigedenn abgesprochen” gewesen.

Wir haben die Axel Springer AG, deren hundertprozentige Tochter Bild Digital für Bild.de verantwortlich ist, gestern Mittag mit diesen Vorwürfen konfrontiert. Falls sie zuträfen, wollten wir außerdem wissen, wie dieses Vorgehen mit der Haltung des Verlags in Sachen Urheberrecht im Internet vereinbaren ließe. Eine Antwort haben wir bisher nicht erhalten.

* * *

Noch eine bunte Meldung vom Sport: Seit der italienische Nationalstürmer Mario Balotelli nach seinem Tor zum 2:0 gegen Deutschland zum etwas unkonventionellen Jubel sein Trikot ausgezogen hatte, ist er die Hauptfigur eines sogenannten Mems, bei dem sein Foto digital in zahlreiche fremde Umgebungen verpflanzt wird.

Der Grafiker und Musiker Friedemann Weise veröffentlichte am Freitag diese Variante auf seiner Facebook-Seite:

Er war sehr überrascht, als er seine Bearbeitung gestern auf der Titelseite von “Bild” erblickte:

Nachtrag, 8. Juli: Bild.de hat die Blitzkarte von wetterpool.de entfernt. Friedemann Weise erklärte unterdessen bei Facebook, dass er lieber kein Geld von “Bild” möchte.

Enttäuschte Liebe

Bei jedem Fußballturnier ist es das Gleiche. Solange die deutsche Mannschaft gewinnt, sieht es in “Bild” so aus:

“Bild”, 9. Juni:

“Bild am Sonntag”, 10. Juni:

“Bild am Sonntag”, 10. Juni:

Bild.de, 11. Juni:

“Bild”, 14. Juni:

Bild.de, 14. Juni:

Bild.de, 14. Juni:

“Bild”, 15. Juni:

Bild.de, 16. Juni:

Bild.de, 16. Juni:

Bild.de, 19. Juni:

“Bild”, 23. Juni:

Bild.de, 23. Juni:

Sobald die deutsche Mannschaft aber rausfliegt, sieht es plötzlich so aus:

“Bild”, 29. Juni:
Neuer: 4, Hummels: 5, Badstuber: 5, Boateng: 4, Lahm: 5, Khedira: 4, Schweinsteiger: 6, Kroos: 5, Özil: 5, Podolski: 6, Gomez: 6

Bild.de, 29. Juni:

Bild.de, 29. Juni:

Bild.de, 29. Juni:

Bild.de, 29. Juni:

Bild.de, 29. Juni:

Bild.de, 29. Juni:

“Bild am Sonntag”, 1. Juli:

Bemerkenswert – aber kaum überraschend – auch dieser Dreiklang:

Bild.de, 29. Juni:

Bild.de, ein paar Stunden später:

Bild.de, 30. Juni:

Außerdem ließ es sich “Bild” nicht nehmen, die “Memmen” in Einzelkritiken noch ein bisschen deutlicher niederzumachen:

Dass die Kritik weder etwas mit Fußball zu tun haben noch in irgendeiner Weise mit der vorherigen Berichterstattung übereinstimmen muss, dürfte jetzt auch nicht mehr groß überraschen. (Den Spruch über Mario Gomez hat “Bild” sich übrigens nicht mal selbst ausgedacht.)

Und wie das so ist bei Profifußballern: Wenn einem die Argumente blöden Sprüche ausgehen, kann man ja immer noch auf deren Millionen-Gehältern rumreiten:

Man mag es kaum glauben, wie sehr ein deutscher Nationalspieler verwöhnt wird. (…)

Es ist eine Kuschel-Welt, in der unsere Nationalspieler beim DFB leben.

Als die deutschen Fußballer sich vor ein paar Tagen im Mannschaftshotel “gemütlich auf die Couch” lümmelten und im eigenen Heimkino einen “großen Kinospaß in 3D” anschauten, fand Bild.de das übrigens noch “megacool”.

Aber da war die Mannschaft ja auch noch im Turnier.

Siehe auch:

Mit Dank auch an die vielen, vielen Hinweisgeber!

Abwärtsjournalismus

Das mit dem Witze erklären ist ja immer so eine Sache. Wir versuchen’s trotzdem mal.

Dieses Video wurde am Montag bei YouTube eingestellt:

Österreichische Polizisten, die eine Rolltreppe hinunterfahren — wie bizarr!

oe24.at, die Online-Ausgabe der Boulevard-Zeitung “Österreich”, schrieb dann auch gestern Abend:

Das ganze Land lacht über ein Polizei-Video. Cops beim Rolltreppen-Training – über 50.000 haben’s angeschaut.

(Wir haben sicherheitshalber mal nachgeschaut: Österreich hat 8,4 Millionen Einwohner. Die Formulierung “das ganze Land” ist dort offenbar auch nicht wörtlich zu verstehen.)

Etwas hilflos haben die Redakteure auch noch einen Begleittext drumherum gestrickt:

Es ist das lustigste Video der Woche, das ganze Land lacht über die jungen Kieberer aus Linz. Zu sehen ist der Hit auf YouTube: Das spektakuläre “Rolltreppen-Training” der Polizei.

Entstanden ist der Streifen am Linzer Hauptbahnhof. Untertitel: “Inhalte des Trainings: Sicheres Benutzen einer Rolltreppe (Verwendung des Handlaufs!)”.

Pärchenweise düsen die Uniformierten eine große Rolltreppe hinunter, kraxeln gleich daneben zu Fuß die Stiegen wieder hinauf.

Mehr als 50.000 Österreicher haben sich das Polizei-Video inzwischen angeschaut.

Dort haben die Leute von Bild.de dann das Video entdeckt, bei YouTube heruntergeladen und mit Zeitlupen, pathetischer Musik und “lustigen” Kommentaren versehen:

Wie der beeindruckende Film zeigt, beherrschen die Beamten diese schwierige Aufgabe wie aus dem Effeff. Souverän, zügig, aber ohne Hektik erreichen alle Teilnehmer ohne Verletzungen sicher festen Boden.

Der Urheber, der das Video bei YouTube hochgeladen hatte, wird mit keinem Wort verlinkt. Dafür hat Bild.de aus den “mehr als 50.000” Zuschauern (inzwischen sind’s etwas mehr als 60.000) “mehr als 500 000 Menschen” gemacht.

Viel mehr weiß auch Bild.de nicht zu berichten. Was ein bisschen schade ist, denn so viel Mühe hätten sie sich gar nicht machen brauchen: Die Leute von nachrichten.at, dem Online-Portal der oberösterreichischen Zeitung “OÖNachrichten”, hatten bereits am Dienstagvormittag ein klein wenig recherchiert und Folgendes herausgefunden:

In einem aktuellen YouTube-Video ist zu sehen, wie Linzer Polizisten scheinbar das Rolltreppenfahren üben. Bei der Aktion handelt es sich aber um ein Abschlussvideo von fertig ausgebildeten Polizeischülern. [..]

“Die Idee dahinter war, dass sie als Zivilisten hinaufgehen, und dann als fertig ausgebildete Polizisten wieder hinunterfahren”, sagt Polizei-Pressesprecherin Simone Mayr. Das Aktion war eigentlich als private Feier gedacht und sollte als Erinnerung auf Video festgehalten werden. […] Eine Rolltreppen-Ausbildung für die Linzer Polizisten gibt es selbstverständlich nicht, bestätigt Mayr. Solche Trainings sind auch in Zukunft nicht geplant.

Mit Dank an Klaus.

Nachtrag, 30. Juni: Bild.de hat den Artikel dahingehend überarbeitet, dass jetzt von “mehr als 50 000 Menschen” die Rede ist.

Auch als Orakel unbrauchbar

Die EM-Halbfinals 2012 sind vorbei, Deutschland ist (wieder einmal) gegen Italien ausgeschieden.

Das macht die großspurigen “Witze” mancher Boulevardmedien im Nachhinein natürlich noch ein bisschen peinlicher:

“Hamburger Morgenpost”, gestern:
11 Gründe, warum wir heute Abend Italien wegputzen: Pizza End-Statione

“Abendzeitung”, gestern:
Arrivederci, Italia!

Bild.de, gestern:
Wir wünschen schon jetzt eine gute Heimreise

Und erst letzten Samstag hatte “Bild” noch groß verkündet:
Uns stoppt keiner mehr!

Mit Dank auch an C.

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