Anfängerfehler

Kai Diekmann ist seit heute “Bild”-Blogger.

Unter kai-diekmann.de zeigt der Chefredakteur lustige Videos, gibt Einblicke in sein Leben, zitiert Kritiker, verlinkt auf BILDblog, brüstet sich zum ungefähr einundvierzigtausendachthundertachtundneunzigsten Mal damit, der “taz” die höchste Auflage ihrer Geschichte beschert zu haben (Einzelverkauf: 41.898), veröffentlicht ein Gerichtsprotokoll über seinen Intimfeind, den Berliner Rechtsanwalt Jony Eisenberg, sowie einen unfassbar dämlichen Brief der RTL-Moderatorin Inka Bause, in dem sie sich bei ihm entschuldigt, dass sie sich beim Presserat über “Bild” beschwert hat. Diekmann (oder sein Ghostwriter) tritt dabei so grandios großkotzig auf, dass es schon wieder bescheiden wirkt, und erweckt geschickt den Eindruck, er sei vielfacher Landesmeister in den Disziplinien Selbstkritik und Selbstironie.

Das ist gelegentlich unterhaltsam, aber natürlich: Quark.

Da ist zum Beispiel die berühmte Bolzenschneider-Geschichte aus dem Januar 2001. Kai Diekmann war erst vier Wochen zuvor Chefredakteur geworden, als “Bild” ein Foto des Grünen-Politikers Jürgen Trittin veröffentlichte, das auf einer Demonstration in Göttingen 1994 entstanden war und ihn laut “Bild”-Beschriftung inmitten von Bolzenschneider und Schlagstock zeigte.

In Wahrheit handelte es sich, wie die Zeitung zwei Tage später einräumen musste, bei den vermeintlichen Waffen bloß um ein Seil und einen Handschuh, Diekmann musste sich entschuldigen, und “Bild” wurde vom Presserat gerügt.

Obwohl die Geschichte so peinlich ist, erzählt Diekmann sie immer wieder gern, und zwar ungefähr so, wie auch jetzt in seinem ersten Blogeintrag:

An einem Sonntag Ende Januar 2001 waren wir im Vorabexemplar des “Focus” auf ein altes Foto von Jürgen Trittin gestoßen. (…) Die Originalbilder [von der Demonstration] stammten aus dem Fernsehen. Wir konnten sie nicht besorgen, deshalb scannten wir das Foto aus der Zeitschrift ab und druckten es aus. Die Redaktion arbeitete also mit Kopien von Kopien — in entsprechender Qualität. (…)

Jemand hatte die Gegenstände auf den schlechten Fotos als Schlagstock und Bolzenschneider “erkannt” und das mit Fragezeichen auf einem Ausdruck vermerkt. Auf dem Weg durch die Redaktionsinstanzen ging das Fragezeichen irgendwo verschütt — und plötzlich stand die Vermutung als angebliche Tatsache im Blatt. (…)

Mir blieb nur, mich sofort bei [Trittin] zu entschuldigen — was er mir allerdings nicht sehr leicht machte. Er ließ mich drei Tage warten, bevor er meinen Anruf entgegennahm…

PS: Enttäuscht hat mich bei dieser Geschichte vor allem eines: Dass einige Kollegen mir tatsächlich eine Kampagne unterstellten. Liebe Leute — glaubt ihr ernsthaft, ich würde solche Anfängerfehler machen?!

Da möchte man Diekmann natürlich sofort gratulieren, dass er so offen mit seinen Fehlern (oder jedenfalls einem davon) umgeht und die unangenehme Wahrheit scheinbar nicht verschweigt. Doch was Diekmann erzählt, ist höchstens die Hälfte der Geschichte.

Hinzuzufügen wäre zum Beispiel noch, wie die Menschen damals auf den für Diekman so “enttäuschenden” Gedanken gekommen waren, er führe eine Kampagne gegen die rot-grüne Regierung im Allgemeinen und den Umweltminister im Besonderen. Am 23. Januar 2001, nur sechs Tage vor der “Bolzenschneider”-Sache, hatte “Bild” Trittin zum Beispiel mit dem 1977 veröffentlichten “Mescalero-Nachruf” in Verbindung gebracht, in dem “klammheimliche Freude” über die Ermordung von Siegfried Buback geäußert wurde, und geschrieben:

“Trittin gehörte damals zur linken Szene der Universitätsstadt, saß in der Studentenvertretung AStA, deren Zeitschrift den ‘Nachruf’ veröffentlichte.”

Trittin aber war damals nicht Mitglied des Göttinger AStA und hatte mit der Publikation und dem Brief nichts zu tun. Auch für diese falsche Behauptung wurde “Bild” später vom Presserat gerügt.

Auch die bewegende Schilderung, wie der entschuldigungswillige “Bild”-Chef tagelang von Trittin hingehalten wurde, erscheint in einem anderen Licht, wenn man eine andere Version der Abläufe kennt, wie sie die “Berliner Zeitung” damals veröffentlichte:

Am Dienstagmorgen [dem Tag nach der “Bolzenschneider”-Veröffentlichung] rief Jürgen Trittin den “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann persönlich an. Um sich zu beschweren. Diekmann, so stellt es Trittins Sprecher dar, habe zunächst mit Gegenfragen geantwortet. “Warum waren Sie denn überhaupt auf der Demonstration?” Trittin sagte, das beantworte er gerne, aber zunächst wolle er über das Bild reden. Das Gespräch sei von Diekmann mit der Bemerkung beendet worden: “Wenn da etwas falsch ist, werden wir es richtig stellen.” Trittin habe gesagt, dass er darum dann auch sehr bitte.

Und es gibt noch ein Detail, das in Diekmanns Schilderung des damaligen “handwerklichen Fehlers” regelmäßig fehlt: Das Foto in “Bild” unterschied sich nicht nur durch die schlechtere Qualität von dem Foto im “Focus”. Dass das Seil wie ein Schlagstock wirken konnte, lag auch daran, dass das Foto an den Rändern beschnitten wurde. Das “Bild”-Foto war nicht nur eine schlechte Kopie, sondern auch ein kleinerer Ausschnitt aus dem “Focus”-Abdruck des Sat.1-Originals.

Und jetzt kommt das Erstaunliche: Kai Diekmann hat das geleugnet. Im Jahr 2005 forderte er von der “Zeit” eine Gegendarstellung, in der es heißen sollte, “Bild” habe “niemals ein Foto so beschnitten”, dass ein Seil als Schlagstock angesehen werden konnte: Der Fehler von “Bild” habe darauf beruht, “dass allein aufgrund der schlechten Bildqualität eine verfälschende Bildunterschrift zugeordnet wurde”.

Diekmann ging vorübergehend sogar so weit, gegenüber der Pressekammer des Landgerichts Hamburg im August 2005 in einer eidesstattlichen Versicherung über das beschnittene Foto zu behaupten:

“Das Foto (…) ist in keiner Weise ‘beschnitten’ worden.”

Komisch. Die wirklich lustigen Sachen stehen gar nicht in Diekmanns neuem Spaßblog.

PS: Anders als “Kai Diekmann” behauptet (und “Welt Online” unbesehen glaubt, siehe links) ist das hier gezeigte Motiv nicht auf BILDblog zu finden. Diese “Schmähung” stammt nicht von uns, sondern vom Pantoffelpunk.

Nachtrag, 17.20 Uhr. Ist korrigiert.

Matthäus, Adenauer, Atombomben

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wie Loddar Maddäus die BILD-Zeitung hinters Licht führte”
(mleiter.twoday.net, Markus Leiter)
Ein ausführlicher Hintergrundbericht eines von der argentinischen Zeitung “Olé” befragten Experten zum gestern von “Bild am Sonntag” dementierten Wechsel von Lothar Matthäus zum argentinischen Erstligisten Racing Club Avellaneda. Matthäus wird auf der auf der Website des Clubs bereits als neuer Trainer präsentiert.

2. “Als die Journalisten frech wurden”
(zeit.de, Tim Schanetzky)
Ein historischer Artikel über die kritische Öffentlichkeit zur Adenauerzeit: “Neue Formen von Öffentlichkeit erprobte seit 1957 auch ein Kohlenhändler aus Darmstadt. Erich Nold erregte beträchtliches Aufsehen, weil er nichts anderes tat, als die Hauptversammlungen der großen Industrie-Aktiengesellschaften zu besuchen – und dort Fragen zu stellen.” Hier ein aktuelles Beispiel eines Journalisten, der eine Frage stellt (youtube.com, Video, 1:13 Minuten).

3. “Warum ich endlich aus der Comedia ausgetreten bin”
(thomashaemmerli.ch)
Der derzeit in Saigon lebende Thomas Hämmerli tritt aus der Journalistengewerkschaft “Comedia” aus: “Als ich länger im Ausland weilte, schlug ich vor, Leuten wie mir das Organ als PDF zu mailen. So könnte ich es – bei Bedarf – lesen, es entfielen Druck- und Versandkosten und öko wärs obendrein. Die damals zuständige Schnepfe beschied mir, gerade als Gewerkschaft seien wir dagegen, Texte ohne Zusatzlohn digital zu verbreiten. Ich war sprachlos, hatte ich doch gemeint, man publiziere ein Mitteilungsblatt, weil man eine Botschaft verbreiten möchte.”

4. “Wie die Rezession den Wirtschaftsjournalismus zum Umdenken zwingt”
(medienheft.ch, Indrani Das)
Ein Radiosymposium beleuchtete den aktuellen Zustand des Wirtschaftsjournalismus. Wolfgang Storz stellte fest, “dass sich die Mehrheit der deutschen Wirtschaftsjournalisten” bei der Auswahl von Experten, die Geschehnisse einordnen, “auf zwei Quellen berufen: ‘Rürup und Sinn – das wär’s’.”

5. Interview mit Günter Wallraff
(cicero.de, Marc Etzold)
Günter Wallraff äussert sich zu seiner Rolle als Hans Esser bei “Bild”. Er glaubt, es wäre so heute nicht mehr möglich. “Es war die gröbste Schmutzrolle meines Lebens. Da sollten andere nochmal ran. Aber es dürfte schwieriger sein. Als ich damals in der Redaktion gearbeitet habe, musste ich ja nicht mal meine Papiere vorzeigen. Mittlerweile wird dort jeder durchleuchtet.”

6. “Explosives von SR DRS”
(medienspiegel.ch, Audio, 24 Sekunden)
Schweizer Radio DRS, Nachrichten: “Nach Angaben der Behörden zündeten die Attentäter nahe von Regierungsgebäuden zwei Atombomben.”

Bild  

Alles falsch

Als “in so gut wie allen Punkten falsch und frei erfunden” bezeichnet Matthias Arends, der Sprecher der Polizeidirektion Kiel, einen “Bild”-Bericht über ein tödliches Familiendrama, das sich in dieser Woche in Tangstedt bei Hamburg ereignet hat.

“Bild” berichtet:

Polizisten richten ihre Waffen auf einen Passat Kombi. Darin sitzt ein Mann, der gerade seine Frau (40) umgebracht hat.

Die Polizei widerspricht: “Gerade” höchstens im Sinne von “mehrere Stunden zuvor”.

Doch bevor ihn die Polizei stellen kann, richtet er sich selbst.

Die Polizei widerspricht: Der Mann war beim Eintreffen der Kollegen bereits mehrere Stunden tot.

In seinem Auto schluckt er tödliches Gift.

Die Polizei widerspricht: Der Mann sei an einer Kohlenmonoxyd-Vergiftung gestorben.

Kurz nach 9.40 Uhr geht bei der Polizei ein Notruf ein. Eine junge Frau stammelt mit aufgeregter Stimme: Kommen Sie schnell. Meiner Mutter ist was Schlimmes passiert!

Die Polizei widerspricht: Der Notruf sei völlig anders über die Bühne gegangen.

Bettina K. (40) liegt in einer riesigen Blutlache, erschlagen vom eigenen Ehemann.

Die Polizei widerspricht: Am Tatort habe es kaum Blut gegeben.

Vermutlich gibt der Mann dort den drei Dobermännern mit Gift getränktes Futter. Sie sterben auf dem Rasen.

Die Polizei widerspricht: Die Dobermänner seien im Auto gewesen und ebenfalls an einer Kohlenmonoxyd-Vergiftung gestorben.

Dann setzt sich Christian K. auf den Fahrersitz, schluckt offenbar selbst eine Gift-Kapsel. Als die Polizisten auf seinen Wagen zustürmen, lebt der Täter noch.

Die Polizei widerspricht: Von “Zustürmen” könne keine Rede sein. Im übrigen habe der Mann, wie gesagt, keine Gift-Kapsel geschluckt und nicht mehr gelebt.

Philipp Rösler, Augenarzt fürs Leben

Freitag nachmittag: Die Zusammensetzung des neuen Bundeskabinetts rauscht durch alle Medien. Es eilt. Damit die Kabinettsliste am Samstag auf den Titelseiten aller wichtigen Zeitungen stehen kann, müssen die Infos jetzt fließen. Schnell.

Und so meldet der Basisdienst der dpa in Hamburg um 16:51 Uhr:

Berlin (dpa) — Der niedersächsische Vize-Ministerpräsident Philipp Rösler (FDP) wird wahrscheinlich neuer Gesundheitsminister. Dies verlautete am Freitag aus Kreisen der Verhandlungsführer. Der 36-jährige Landeswirtschaftsminister aus Hannover wollte eigentlich nicht nach Berlin wechseln. Der studierte Augenarzt hat zusammen mit Ursula von der Leyen (CDU) den Gesundheitskompromiss der neuen schwarz-gelben Koalition ausgehandelt.

Um 17:50 Uhr folgt das Portrait des bundespolitischen Newcomers:

Der bisherige Landtagsfraktionschef in Hannover hatte erst im Februar das Amt des Wirtschaftsministers in einer CDU/FDP-Koalition im Land übernommen. In dem Ressort ist er der jüngste in Deutschland. Dabei machte sich der Augenarzt und Vater von Zwillingen als Krisenmanager einen Namen. Vorher war Wirtschaft nicht unbedingt sein Steckenpferd.

In dieses bunte Potpourri an Funktionen hat sich leider ein faules Ei eingeschlichten: Rösler ist kein Augenarzt. Der Irrtum ist so verbreitet, dass der Jung-Politiker auf seiner Webseite sogar einen eigenen Abschnitt zu seinem Lebenslauf hinzugefügt hat:

ACHTUNG, wichtiger Hinweis: Entgegen vielerlei Presseartikeln und Berichten bin ich NICHT Facharzt für Augenheilkunde, sondern von Beruf einfach Arzt.

Bald entdeckt man bei dpa den Fehler und schickt um 18:27 Uhr eine Berichtigung hinterher:

(Berichtigung: Arzt statt Augenarzt im dritten Absatz)

Doch zu spät. Die Information hat sich bereits im Medienkreislauf festgefressen:

Bei Bild.de, …

Der studierte Augenarzt hat zusammen mit Ursula von der Leyen (CDU) den Gesundheitskompromiss der neuen schwarz-gelben Koalition ausgehandelt.

… der “Rheinischen Post”, …

Ein 36-jähriger Augenarzt, geboren in Vietnam, ist die Überraschung im Kabinett der schwarz-gelben Bundesregierung.

… dem “Hamburger Abendblatt”

Philipp Rösler, Augenarzt und niedersächsischer Wirtschaftsminister, soll an diesem Sonnabend unerwartet als Gesundheitsminister vorgestellt werden. Exklusiv im Abendblatt präsentiert der 36-jährige FDP-Politiker seine Pläne.

… und in vielen weiteren Medien findet man den falschen Beruf. “Spiegel Online” hat sich eine besondere Variante einfallen lassen — man bezieht Teile des Lebenslaufs über Twitter:

Am frühen Abend dann twitterte der FDP-Gesundheitsexperte Daniel Bahr: Ein Augenarzt mit Durch- und Weitblick wird Gesundheitsminister. Ich freue mich für Philipp Rösler und die FDP und werde ihn unterstützen!

Hm?

Landwirtschaftsminister ist Rösler übrigens auch nicht, obwohl zahlreiche Online-Medien das dank dpa in einem Bildtext verbreiten. Gemeint ist: Landeswirtschaftsminister. Komisches Wort aber auch.

Um 21:35 Uhr kehrt die Information überraschend auch wieder zu dpa zurück, wo man Röslers Heimatzeitung, die “Hannoversche Allgemeine Zeitung”, zitiert, die es erstaunlicherweise auch nicht besser weiß:

Man tritt ihm nicht zu nahe, wenn man festhält, dass die Herkunft aus Niedersachsen ihm geholfen hat. Zuvor hatte die FDP für Justiz eine Frau aus Bayern und für Wirtschaft einen Mann aus Rheinland-Pfalz nominiert. Immerhin: Rösler ist gelernter Augenarzt. Als er noch im Facharztzentrum der Bundeswehr in Hannover arbeitete, ließ er sich freilich nicht träumen, mal Bundesgesundheitsminister zu werden.

Ein einmaliger Ausrutscher? Mitnichten. Schon vor vier Tagen hatte die dpa ein kurzes Portrait der niedersächsischen Wirtschaftsministers gebracht:

In dem Ressort ist er der jüngste in Deutschland. Dabei machte sich der Augenarzt und Vater von Zwillingen als Krisenmanager einen Namen. Vorher war Wirtschaftskompetenz nicht unbedingt sein Steckenpferd. Rösler, Lakritz-Liebhaber und Hobby-Bauchredner, gilt als scharfzüngiger Schnellredner, der charmant aber auch verbindlich im Ton auftritt.

Und drei Wochen zuvor stellte die “Welt” Rösler als künftigen Wirtschaftsminister vor:

Geht das Wirtschaftsressort an die FDP, könnten die Liberalen eines ihrer größten Talente zum Zuge kommen lassen: Philipp Rösler (36), der seit Anfang 2009 dieses Ressort in Niedersachsen führt. Das von deutschen Eltern adoptierte Waisenkind aus Vietnam ist gelernter Augenarzt.

Die Reihe ließe sich noch lange weiter fortsetzen — mehr als sechs Jahre lang. Am 15. Februar 2003 meldete der Berliner “Tagesspiegel” anscheinend als erster den falschen Beruf des damaligen Fraktionsvorsitzenden:

McAllister kommt aus Bad Bederkesa im Landkreis Cuxhaven, ist in seiner Heimatstadt verwurzelt, war dort Bürgermeister und Schützenkönig. (…) Hinzu kommt der neue Fraktionschef der FDP, der erst 29 Jahre alte Augenarzt Philipp Rösler.

Am 23. Februar desselben Jahres legte die “Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung” noch eins drauf:

Philipp Rösler tritt leise auf. Er führt die Fraktion der FDP in Niedersachsen, die es nach neun Jahren wieder in den Landtag schaffte. 29 Jahre ist er alt, verheiratet mit einer jungliberalen Ärztin. Rösler ist promovierter Augenarzt und nach zehn Jahren als Zeitsoldat im Rang eines Stabsarztes. Nie der beste, aber immer der fröhlichste Mediziner sei er gewesen, sagt Rösler.

Gesundheitsminister bleibt man vier — mit viel Glück sogar acht Jahre lang. Eines jedoch wird Philipp Rösler wohl immer bleiben: Augenarzt.

Mit Dank an Patti!

Nachtrag 26. Oktober, 11:20 Uhr: Während Redaktionen wie “Spiegel Online” und “Zeit.de” ihre Artikel von dem Fehler bereinigen, beharrt “Bild.de” am Sonntag abend immer noch auf der Bezeichnung “promovierter Augenarzt”.

Wie es zu dem weit verbreiteten Irrtum kommen konnte, erklärt das “Ärzteblatt”:

Tatsächlich hat Rösler über ein Thema aus der Herzchirurgie promoviert und bis 2003 als Sanitätsoffizier der Bundeswehr gearbeitet. Parallel verlief die Politikerkarriere und dabei verlief sich die begonnene Weiterbildung zum Augenarzt. Soviel zum Biografischen. Jeder wird in den nächsten Tagen allüberall nahezu alles über Rösler lesen können, seine ungewöhnliche Biografie reizt schließlich jeden Journalisten zu einer Story.

Bild, Stern  etc.

Können Journalisten noch lesen & schreiben?

Die deutsche Ausgabe der Kulturzeitschrift “Lettre International” hatte in den vergangenen Wochen soviel Aufmerksamkeit wie selten — dank eines Interviews mit Thilo Sarrazin, das zum Skandal wurde. Viele Reaktionen der Medien auf die Veröffentlichung legen für Chefredakteur Frank Berberich den Schluss nahe: “Die Alphabetisierung von Journalisten nimmt rapide ab”.

In einem Interview mit dem Online-Medienmagazin “V.i.S.d.P.” klagt er über “Dilettantismus, politisch-korrekte Phrasen, Irreführung, große Parolen” und kritisiert die Verlogenheit von “Bild”:

Die Sensationalisierung und Skandalisierung wurde vor allem von Medien inszeniert, die damit Geld verdienen wollten. (…) BILD hat die Stadt tagelang mit Sarrazin-Titeln zugepflastert und das Thema dramatisiert und hochgeputscht. An einem Tag behauptete die Schlagzeile “Sarrazin beleidigt die Berliner” am anderen “die Türken”, und am dritten wurde gefragt: “Hat Sarrazin doch Recht?” (…)

BILD ONLINE hat das Interview eingescannt und ohne unsere Einwilligung komplett veröffentlicht und erst nach einer einstweiligen Verfügung wieder aus dem Netz genommen. (…)

Wenn BILD ein so großes Interesse am Thema hatte – warum war man nicht originell genug und hat es selbst bearbeitet? Die Möglichkeiten dazu hätte sie doch. Man muss Leuten wie Diekmann auch mal unter die Nase halten: Sie geben sich als Anstandsdamen, wenn es passt, und wenn nicht, gehen sie auf Beutezug in fremden Revieren. Abgesehen davon ist es eine groteske Heuchelei, Sarrazin Rassismus vorzuwerfen und diese üblen “Beleidigungen” gleichzeitig soweit wie möglich zu verbreiten, indem man sie unter Verletzung des Urheberrechts auf die eigene Homepage stellt, um deren “traffic” zu erhöhen.

Keine Schonzeit für den Rechtsstaat

Fast scheint es so, als hätten die Terroristen gewonnen, als hätte die RAF den Rechtsstaat besiegt. Denn Gesetze gelten nicht mehr für jeden gleich, Richter und Beweiserhebungen sind unnütz. Das könnte man zumindest gelegentlich meinen, wenn man die Berichterstattung von “Bild” verfolgt.

In diese Denkweise ordnet sich der Artikel auf Bild.de ein, der über die Verurteilung der früheren RAF-Terroristen Inge Viett berichtet:

Viett hatte im Juni 2008 in Berlin gegen ein Bundeswehr-Gelöbnis protestiert und dabei — so die Überzeugung des Gerichts — leichten Widerstand gegen zwei Polizeibeamte geleistet, indem sie sich beim Abführen mit den Füßen gegen die Laufrichtung stemmte. Dafür ist sie zu einer Geldstrafe von 225 Euro verurteilt worden.

Der ursprünglich erhobene Vorwurf der versuchten Gefangenenbefreiung wurde vom Gericht fallen gelassen. Für Bild.de ist auch dies offenkundig keine Folge der Beweisaufnahme, sondern ein Zeichen unbotmäßiger Milde des Gerichts.

Damit der Artikel diesen Eindruck erwecken konnte, mussten freilich einige Details wegfallen, die sich zum Beispiel bei Welt.de finden:

Nach Auffassung des Gerichts Tiergarten hatte Viett nicht — wie von der Staatsanwaltschaft angeklagt — am Arm eines Polizeibeamten gezerrt, um die Festnahme eines jungen Mannes zu verhindern. Vielmehr habe sie versucht, die “aggressive Situation zu beruhigen”. Die Richterin sprach von einer “beschwichtigende Geste, weil es zuvor ganz schön zur Sache gegangen” sei.

Doch entlastende Fakten stören nur, Bild.de setzt lieber auf vollmundige Empörung:

Ein Skandal-Urteil! Denn Normalbürger ohne Vorstrafe müssen mit Haft bis zu zwei Jahren rechnen.

Und die Antwort auf die Frage “Schonzeit für eine Ex-RAF-Terroristin?” hätte sich Bild.de selbst geben können. Sie lautet: Nein.

Es ist zwar richtig, dass die Höchststrafe für Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte bei zwei Jahren Gefängnis liegt. Dass unbescholtene Bürger wegen geringfügigen Widerstands jedoch zu solchen drakonischen Strafen verurteilt werden, ist jedoch ein Ammenmärchen.

So gibt der “Tagesspiegel” ein wenig Perspektive:

Krawalle bei Demonstrationen, Attacken auf Polizisten, Autobrände – fast täglich laufen derzeit im Moabiter Kriminalgericht Prozesse gegen mutmaßliche Linksextremisten. Mai-Randalierer erhielten zum Teil deutliche Gefängnisstrafen. Zu jeweils drei Jahren und drei Monaten wegen versuchter Körperverletzung wurden zwei 19-Jährige verurteilt, die einen Brandsatz warfen. Dass auch der Wurf einer gefüllten Plastikflasche auf einen Polizisten zu einer harten Sanktion führen kann, erlebte am Mittwoch ein 29-Jähriger, der sich nach Ausschreitungen bei der gescheiterten Besetzung des Flughafens Tempelhof verantworten musste: Ein halbes Jahr Gefängnis erging gegen den vorbestraften Angeklagten.

Mit Dank an Johannes G. Und Torsten B.

So wird auch Ihr Ferrari noch edler!

Der Presserat hat also einen Leitfaden veröffentlicht, der anhand konkreter Beispiele anschaulich macht, was Schleichwerbung ist. Leider beschränkt er sich ausschließlich auf gedruckte Medien.

Doch die Leute von Bild.de waren so aufmerksam, in ihrem Angebot ein aktuelles Musterbeispiel für die unzulässige Vermischung von redaktionellen und werblichen Inhalten in Online nachzuliefern: eine 20-teilige Bildergalerie, die zunächst mit Fotos von “Starkickern und ihren Autos” beginnt, um dann unvermittelt…

Aber sehen Sie selbst:





Mit Dank an Angus S.

Stats Monkey, Presserat, Simpsons

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Journalismus: Jetzt auch aus Textbausteinen vom Kollege Automat”
(carta.info, Jürgen Kalwa)
Jürgen Kalwa weist auf die Software “Stats Monkey” der Northwestern University in Evanston, Illinois hin, die, gefüttert mit Zitaten und Resultaten, einen kompletten Artikel für den Sportteil erzeugt.

2. “Lust am Frust”
(merkur.de, Antje Hildebrandt)
Doku-Serien des Privatfernsehens werden vermehrt mit Laiendarstellern besetzt: “Kriterien wie Glaubwürdigkeit spielen in der Krise kaum noch eine Rolle. Der Zuschauer trifft immer häufiger auf alte Bekannte. Auf Familien wie die Birkhahns aus Schleswig-Holstein, die keinen Hehl daraus machen, dass sie den TV-Teams für einen Hunderter genau das erzählen, was sie hören wollen.”

3. “Trennung von Werbung und Redaktion”
(presserat.info)
Der deutsche Presserat gibt einen Leitfaden heraus, der anhand von praktischen Beispielen aufzeigt, was geht und was nicht geht bei der Trennung von werblichen und redaktionellen Inhalten. Vom geräuschvollen Umblättern der virtuellen Seiten sollte man sich nicht irritieren lassen.

4. “Wiederholte Schleichwerbung für rosa Wundermittel bei der ARD”
(blog.esowatch.com)
“Wie blöd sind eigentlich Redakteure, Filmemacher und leider auch die Patienten, die die absurde Geschichte über die preiswerte Heilung von Neurodermitis aus dem Hobbylabor sofort glauben, sobald nur laut jemand die Pharmalobby als Schuldigen hinstellt. Haben die alle zu viele Hollywoodthriller geschaut?”

5. “Lesen Sie dies bitte ohne Unterbrechung!”
(ftd.de, Horst von Buttlar)
Horst von Buttlar glaubt, dass Journalisten so oft unterbrochen werden, dass sie kaum noch zum arbeiten kommen.

6. Interview mit John Ortved
(artsbeat.blogs.nytimes.com, Lisa Tozzi, englisch)
Die Simpsons laufen seit vielen Jahren beim Fox Network von Rupert Murdoch und erreichen bald den Bekanntheitsgrad von Disney-Produkten. John Ortved fragte Murdoch einst: “Rupert, how much money has ‘The Simpsons’ made for you?” And he just sat back, smiled and was like, “Let’s just say it’s a lot.”

Koalitionsverhandlungen, 9Live, Zeit Campus

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wie die Koalitionäre Journalisten instrumentalisieren”
(ndr.de, Video, 7:02 Minuten)
Obwohl die Koalitionsverhandlungen von CDU, CSU und FDP noch nicht abgeschlossen sind, finden täglich Pressekonferenzen statt, auf denen nichts bis kaum etwas mitgeteilt wird. Unzählige Kamerateams und Korrespondenten sind vor Ort und berichten über Vermutungen.

2. “Auf dem Balkan-Boulevard”
(stuttgarter-nachrichten.de, Dan Alexe und Vladimir Jokanovic)
Ein Bericht über Boulevardblätter in Serbien und Rumänien, die nur wenige Cents kosten und mit deutlichen Schlagzeilen aufmachen.

3. “ZAK verhängt Geldbußen gegen 9Live”
(alm.de)
Der TV-Sender 9Live wird von der Kommission für Zulassung und Aufsicht der Landesmedienanstalten (ZAK) mit einer Geldstrafe von 95’000 Euro bestraft. Die Vorwürfe: “Irreführende Äußerungen, Intransparenz, Vorspiegelung von Zeitdruck und fehlende Informationen in sieben Gewinnspielsendungen.”

4. “Es bedurfte nur eines Tweets”
(freitag.de, Alan Rusbridger)
“Guardian”-Chefredakteur Alan Rusbridger schreibt über die Folgen eines Tweets, den er am 12. Oktober publizierte.

5. “Das Leistungsschutzrecht – oder: Wie bastle ich mir ein Gesetz”
(print-würgt.de, Michalis Pantelouris)
Michalis Pantelouris denkt das Leistungsschutzrecht nach: “Es wird also in Zukunft Texte geben, die ein besonderes Recht genießen gegenüber dem Angebot eines Elektronikmarktes oder dem Newsletter einer Bio-Käserei. Da stellt sich schon die erste Frage: Warum?”

6. “Über Campus und Karriere”
(vids.myspace.com, Nico Semsrott, Video, 3:27 Minuten)
Nico Semsrott hat den “Zeit Campus Ratgeber Berufseinstieg” geklaut und getestet.

Tokio Hotel essen in der Gerüchteküche

Am Montag fragte “Bild” in großer Aufmachung:

Ist Tokio-Bill etwa magersüchtig?

Anlass waren “Fans in großer Sorge”, die “in Internet-Foren” über das Gewicht des Tokio-Hotel-Sängers rätselten.

Als “Bild” den Sänger mit den Gerüchten “konfrontierte”, erfuhr die Zeitung übrigens “Erschreckendes”:

“Manchmal ess ich den ganzen Tag über nichts und trinke nur Kaffee”, sagt Bill.

(Eine Antwort, die man mutmaßlich in jedem zweiten Büro, noch dazu in Redaktionen erhielte.)

Garniert war dieser sonst etwas dünne Artikel mit Fotos, die Bill Kaulitz “erschreckend dürr” zeigten. (In der Online-Version des Artikels sind die Bilder übrigens “nicht mehr verfügbar”, was bei Bild.de aus Lizenzgründen zwar regelmäßig vorkommt, nach zwei Tagen aber doch etwas ungewöhnlich ist.)

Doch schon heute sieht die Welt – vielleicht – ein bisschen anders aus:

Nach Magersucht-Gerüchten gibt uns diese Foto Rätsel auf: Füttert hier Tokio-Tom seinen Bruder Bill?

Es ist ja schön, dass die Redakteure von Bild.de so offen zugeben, dass ihnen das Foto Rätsel aufgibt (und nicht “ganz Deutschland”, wie es sonst gerne heißt), aber wir lösen gerne:

Nein. Hier isst Bill Kaulitz (links im Bild) seine Tintenfischringe selbst. Gut zu erkennen an der Gabel, mit der er das Essen in Richtung des eigenen Mundes führt.

Mit Dank an Klaus B.

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