Jeder nur ein Großkreutz

Sie sind Sportjournalist, es sind nur noch zehn Tage bis zum Derby zwischen dem FC Schalke 04 und Borussia Dortmund und es liegt noch nicht genug Spannung in der Luft? Nichts, worüber Sie berichten könnten?

Kein Problem, bauen Sie sich einfach Ihre Schlagzeile selbst — “Sportbild”, “Bild” und Bild.de zeigen in einer konzertierten Aktion, wie es geht:

  • Gehen Sie zu dem Dortmunder Spieler, von dem überliefert ist, dass er “Schalke wie die Pest hasst” und der schon beim letzten Derby für Diskussionen gesorgt hatte.
  • Legen Sie ihm einen Fragebogen vor, dessen Antwortmöglichkeiten möglichst großes Konfliktpotential bieten, und hoffen Sie auf das Beste:
    2. Wenn mein Sohn Schalke-Fan wird ... dann kommt er ins Heim
  • Übergeben Sie das Thema an Deutschlands meistgeklicktes “Nachrichten-Portal” und drehen Sie richtig auf:

    BVB-Star Großkreutz in einem Fragebogen: Wenn mein Sohn Schalke-Fan wird, kommt er ins Heim. KEVIN GROSSKREUTZ: Dortmund-Profi ledert wieder gegen Schalke. Dortmunds Kevin Großkreutz ist schon länger das Hass-Objekt aller Schalke-Fans. 10 Tage vor dem Revier-Derby gießt der Jung-Profi erneut Öl ins Feuer.  mehr ...

    Peinlicher Spruch von BVB-Star Kevin Großkreutz (21)!

    10 Tage vor dem Derby Schalke gegen Dortmund macht sich Großkreutz bei den königsblauen Anhängern richtig unbeliebt.

    Verzichten Sie nicht auf selbsterfüllende Prophezeihungen:

    Großkreutz heizt die Stimmung an. Hat er denn nichts gelernt?

    Im letzten Sommer machte sich der Dortmunder schon zum Hass-Objekt aller Schalke-Fans.

    Für den Fall, dass der Artikel komplett gelesen wird, können Sie gegen Ende auch noch Ihre Hände in Unschuld waschen:

    Jetzt die nächste überflüssige Provokation in Richtung Schalke. Übrigens: Mit “Stimme ich ihn um” und “Gibt es keinen Fußball-Gott” gab es zwei viel harmlosere Alternativen.

  • Am nächsten Tag übernimmt dann einfach die regionale Print-Ausgabe:

    Großkreutz spottet: Wenn mein Sohn Schalke-Fan wird, dann kommt er ins Heim!

    Erinnern Sie die Leser auch noch mal daran, um wen es da eigentlich geht:

    Die nächste Anti-Königsblau-Aktion von Großkreutz (stand vor seiner Karriere als Fan auf der Dortmunder Südtribüne), der sich offen zu seiner Schalke-Allergie bekennt: “Die sind mein Feindbild Nr. 1. Ich hasse Schalke wie die Pest!”

  • Wenn die ersten anderen TrashPortale auf das Thema anspringen (und dabei dankenswerterweise die Information unterschlagen, dass “kommt er ins Heim” eine vorgegebene Antwortmöglichkeit war), können Sie sich entspannt zurücklehnen und bis zum Derby über die “angeheizte Stimmung” schreiben.

Mit Dank an Marcus H.

Bild  

Entsetzliche Bilder, exakt so dargestellt

Am 6. April 2008 veröffentlichten “Bild am Sonntag” und Bild.de das Foto einer nackten Kinderleiche auf einem Obduktionstisch: Es zeigte die fünfjährige Lea-Sophie, die ihre Eltern verhungern ließen. Die Redaktion, die behauptete, lange über das Für und Wider der Veröffentlichung diskutiert zu haben, hatte ihre Entscheidung damals mit dem Satz begründet: “Denn wir wollen, dass so etwas nie wieder in Deutschland passiert!” (BILDblog berichtete).

Genützt hat der selbstlose Einsatz nichts: Am 11. März 2009 fanden Notärzte und Polizisten in einer Hamburger Wohnung die Leiche der neun Monate alten Lara-Mia — “jämmerlich verhungert”, wie “Bild” am Samstag in der Hamburger Regionalausgabe kommentierte.

Der Text von Christian Kersting beginnt mit den Worten:

Die Bilder sind entsetzlich, brennen sich unauslöschlich ins Gedächtnis ein.

Und weil “Bild” die Gedächtnisse von Notärzten, Polizisten und anderen mit dem Fall betrauten Personen offenbar nicht ausreichten, hat man sich dazu entschieden, das Bild (“Der kleine Körper ist völlig abgemagert”) auch noch in die Gedächtnisse der Leser am Frühstückstisch einzubrennen.

Dabei war “Bild” natürlich nicht so blöd, noch einmal Fotos unbekannten Ursprungs zu verwenden und damit eine weitere – hilf- wie folgenlose – “Missbilligung” des Deutschen Presserats wegen Verletzung der Würde des Opfers zu riskieren — Nein!

Man gab einfach eine fast fotorealistische Zeichnung in Auftrag, die die Fotos brutalst möglich detailreich wiedergibt, großflächig in der Zeitung und auf der Startseite von Bild.de:

Wie viel Schuld tragen die Behörden am Tod der kleinen Lara-Mia?

Neben der Zeichnung steht:

BILD-Zeichnerin Nora Nowatzky hat die Situation exakt so dargestellt, wie sie auf den Fotos in den Akten zu sehen ist. Der kleine Körper ist völlig abgemagert. So fanden Notärzte und Polizisten das Mädchen.

Wie “Bild” an diese Fotos gekommen ist, konnten Polizei und Staatsanwaltschaft auf unsere Anfrage nicht erklären — nur, dass sie nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen seien.

Mit Dank an Daniel K., Eagle und Sarah H.

Scripted Reality, Homestorys, Haie

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “RTL, eine Millionärin und ihre falsche Villa”
(dwdl.de, Thomas Lückerath)
Thomas Lückerath vermutet, dass sich bei RTL die Scripted Reality auf den Infobereich ausgedehnt hat. RTL dagegen betont ausdrücklich, “dass die Wochenserie ‘Millionärin sucht Mann’ nicht geskriptet gewesen sei”. Bei einem Infotainment-Magazin wie “Punkt 12” schliesse sich das von selbst aus.

2. “Am besten gehirnamputiert”
(berlinonline.de, David Sarkar)
Ein Besuch in einer Berliner Agentur, die Laiendarsteller an Scripted-Reality-Formate vermittelt.

3. “WISO ermittelt – ziemlich oberflächlich”
(2nd-interactive.com, Volker Walter)
Volker Walter, Professor für Medien und Kommunikation, kritisiert die “offensichtlich einseitige Berichterstattung” eines Beitrags der ZDF-Sendung WISO über die Diät Metabolic Balance.

4. “Wie die Literaturkritiker überfahren werden”
(welt.de, Uwe Wittstock)
Uwe Wittstock fordert etwas Nachsicht für Literaturkritiker, die auch nicht immun seien gegenüber den Tricks der Verlage. Zudem neige der etablierte Kulturbetrieb dazu, rebellische Naturen zu bejubeln, aufgrund eines schlechten Gewissens in Anbetracht der eigenen Etabliertheit: “Einer der typischen Zornigen Jungen Männer der Gegenwartsliteratur war Rainald Goetz. Ich habe seinerzeit seinen Roman ‘Kontrolliert’ in hohen Tönen gelobt. Inzwischen bedeutet mir das Buch literarisch lange nicht mehr so viel wie damals: Ich fürchte, ich habe zu einem Gutteil das Image von Goetz rezensiert, nicht seinen Roman. Ob es einigen der Hegemann-Rezensenten ähnlich ging?”

5. “Homestory und so – Wie sich das Feuilleton verändert”
(freitag.de/community/blogs, Ingo Arend)
Ingo Arend bemerkt vermehrt Homestorys in den Feuilletons: “Wie jemand aussieht, mit wem er wohnt, was er gern isst – alles scheint mehr über seine Kunst auszusagen, als diese selbst.”

6. “Wiesbadenerin von Hai attackiert”
(der-postillon.com)
“Augenzeugenberichten zufolge attackierte der Tigerhai die Frau, als diese den Wiesbadener Marktplatz überqueren wollte.”

Samantha Fox ist ein Teekesselchen

Als Teil seiner, äh, Berichterstattung über die gestern in London verliehenen Brit Awards zeigt stern.de Bilder vom Roten Teppich und lässt die Leser über das Aussehen der Stars abstimmen.

Und obwohl man von der Sängerin Samantha Fox wirklich schon lange nichts mehr gehört hat…

…bis sie sechzig wird, ist es noch sechzehn Jahre hin. Der diensthabende Klickstreckenbefüller hat auf der Suche nach Informationen über die ihm offenbar unbekannte Frau die falsche “Samantha Fox” erwischt.

Danke an Sandra S.!

dpa  

Auch Löschen will gelernt sein

Nachdem Bundespräsident Horst Köhler am Aschermittwoch das umstrittene Zugangserschwerungsgesetz zur Einführung von Websperren gegen Kinderpornografie unterzeichnet hat, gibt es ungewohnte Allianzen — so zumindest in der Zusammenfassung der dpa von heute Nachmittag:

Nach dem Regierungswechsel vereinbarte Schwarz-Gelb im Koalitionsvertrag, dass Union und FDP ein Löschen der Seiten bevorzugen. Jedoch stößt auch dies auf Kritik: So erklärte der Bund Deutscher Kriminalbeamter vor wenigen Tagen, Löschen sei nicht wirkungsvoller als Sperren. Auch die Piratenpartei, in der sich viele Netzaktivisten engagieren, bezeichnete das Löschen als überflüssig.

Das wäre allerdings höchst erstaunlich, schließlich hatte die Piratenpartei im vergangenen Jahr sogar zu einer Demonstration unter dem Motto “Löschen statt Sperren” aufgerufen. Woher kommt der plötzliche Sinneswandel?

Aufklärung bietet der Blick in eine dpa-Meldung vom 9. Februar:

Doch der neue Plan, Internetseiten mit Fotos und Videos sexuell missbrauchter Kinder, zu löschen, greift aus Sicht von Netzgemeinde und Polizei ebenfalls zu kurz. “Das ist total überflüssig und lächerlich”, sagte der Sprecher der Piratenpartei, Simon Lange. Bestehende Gesetze reichten bereits aus, um Kinderporno-Seiten zu löschen.

So wurde aus einer Opposition gegen ein Löschgesetz die pauschale Ablehnung des Löschens von Kinderpornografie im Internet. Da hat wohl jemand zu oft auf die Löschtaste gedrückt.

Nachtrag 19:45 Uhr: Nach eiliger Krisenkommunikation hat die dpa am Abend zwar nicht wie gewünscht eine Richtigstellung veröffentlicht, aber immerhin eine Meldung, in der die Position der Piratenpartei nicht ins Gegenteil verkehrt wird:

Die Piratenpartei, in der sich viele Netzaktivisten engagieren, erklärte am Mittwoch in Berlin, es sei “unfassbar”, dass Köhler das Gesetz unterschrieben habe. Sprecher Simon Lange kritisierte zudem, für das Löschen von Seiten brauche man keine neuen Gesetze. Die bisherige Gesetzeslage erlaube dies bereits.

Hinweise auf eine vorher falsche Berichterstattung fehlen. Und so ist es auch kein Wunder, dass viele Tageszeitungen morgen mit der sinnentstellten Kurzfassung erscheinen werden. So heißt es zum Beispiel im “Tagesspiegel” von morgen:

Politische Meriten sind mit dem Thema also schwer zu erwerben. Die Piratenpartei erklärt, auch Löschen bringe nichts.

Nachtrag, 18.2.2010: Auf unsere Nachfrage erklärt die dpa, dass sie die Meldung nach Leserbeschwerden korrigiert und eine Berichtigung verschickt hat:

Berichtigung: Im letzten Absatz wurde der dritte Satz dahingehend geändert, dass die Piratenpartei ein Lösch-Gesetz rpt Lösch-Gesetz (nicht: das Löschen) für überflüssig hält. Damit wird klargestellt, dass die Partei nicht gegen das Löschen der Internetseiten ist, sondern gegen ein neues Gesetz zum Löschen der Seiten, weil die bestehenden Gesetze ausreichend seien

Warum diese Korrektur im Basisdienst der Agentur nicht angekommen ist, war bisher nicht zu klären. Die oben verlinkte Zusammenfassung im Angebot der “Märkischen Allgemeinen” wurde inzwischen durch einen korrekten Text ersetzt – der Leser wird über die nachträgliche Änderung allerdings nicht informiert.

Die Farm, uMag, Tagesschau

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Das Bauchbinden-Drama bei Inka Bauses ‘Farm'”
(faz-community.faz.net, Peer Schader)
Die Kandidaten der der RTL-Sendung “Die Farm” werden dem Publikum jeweils mit einem von der Redaktion ausgedachten und zum Namen und Alter eingeblendeten Satz vorgestellt. Mit dabei sind Informationen wie “hat vorher noch nie einen Euter berührt” oder “kann Steffi nicht leiden”.

2. “Das neue ‘uMag’ oder: Wie man eine Zeitschrift ruiniert”
(dwdl.de, Thomas Lückerath)
Thomas Lückerath ist vom Relauch des uMag nicht begeistert: “Triste Optik, mangelnde Orientierung für den Leser und die gefährliche Abkehr vom Mainstream machen das ‘uMag’ allenfalls zum intellektuell anmutenden Couchtisch-Staubfänger.”

3. “Identifizierende Berichterstattung”
(presserat.ch)
Der Schweizer Presserat heisst eine Beschwerde gegen eine im Sommer letzten Jahres in der Boulevardzeitung “Blick” veröffentlichte Geschichte über Nacktbilder einer Sekretärin gut. 20min.ch berichtete damals in zwei Artikeln darüber.

4. “Ein – zwangsweise berechtigtes – Plädoye(ah)r”
(aheadwork.de, ichgehschlafen)
“Ich finde, dass die Süddeutsche Zeitung, die Printversion also, jeden Cent wert ist, ja, und mein Abo läuft auf jeden Fall weiter, aber, und das ist der springende Punkt, wenn ich Teil der ‘Internet-Generation’ wäre, dann hätte ich nicht im Traum daran gedacht, mir die SZ zu abonnieren. Lieber hätte ich mir ein Rätselheft gekauft und mich gewundert, warum keine journalistischen Beipackartikel mit abgedruckt wurden.”

5. “Zur Diskussion um die Web-Tagesschau: verfrüht, überzogen, unverhältnismäßig”
(wir-muessen-twittern.de, Robert Kindermann)
Der langjährige NDR-Mitarbeiter Robert Kindermann glaubt, dass die Tagesschau und tagesschau.de Angebote sind, die “wichtiger kaum sein können für eine demokratische Gesellschaft”. Der Artikel schliesst mit dem Satz: “Denn wenn die Tagesschau im Netz nicht darf, was andere dürfen, wird sie zwangsläufig verschwinden, da in wenigen Jahren nur noch das Netz – die digitale Welt – existiert.”

6. “Meinungsmacher”
(dctp.tv, Videos)
Vier neue, lange Interviews mit Bloggern und Bloggerinnen. Dabei: Esther Slevogt, Anne Roth, Felix von Leitner und Tim Pritlove.

Gefährliche Lidlschaften

Die Geschichte hat alles, was Auflage macht: Tote! Die Nachbarn im Süden! Eine Alliteration in der Überschrift!

Killer-Käse aus Österreich tötet zwei Deutsche

Gut, die zwei toten Deutschen verblassen vielleicht am Ende des ersten Absatzes etwas …

Ein neuer Lebensmittel-Skandal hält Deutschland in Atem. Nach dem Verzehr eines Harzer Käses aus Österreich sind zwei Deutsche an einer Listeriose (Bakterieninfektion) gestorben. In Österreich kamen sechs Menschen ums Leben.

Aber sonst?

Na ja, so richtig neu ist der Skandal auch nicht — neu ist die Erkenntnis, dass es Tote (übrigens insgesamt sechs und nicht sechs in Österreich und zwei Deutsche) gegeben hat.

Über die Rückrufaktion hatten verschiedene Medien bereits vor drei Wochen berichtet. Allerdings war der Käse mit den gefährlichen Bakterien im Sortiment des Discounter Lidl aufgetaucht — und weil Lidl und “Bild” eine lange und innige Geschäftsbeziehung verbindet (s. Kasten), war die Meldung bei Bild.de zunächst etwas kleiner ausgefallen.

Auch die Meldung in der gedruckten “Bild” vom 25. Januar war eher unauffällig platziert gewesen und nur vier Tage später war Lidl (gemeinsam mit dem Konkurrenten Aldi) bei “Bild” schon wieder “Gewinner” — weil die Discounter in England beliebter seien als die heimischen Supermarktketten. “Bild” “meinte” damals:

Sorry, das ist eben deutsche Wertarbeit!

Jetzt aber gibt es die Opfer des österreichischen “Killer-Käses” (der aus deutschem Quark hergestellt wird) und Bild.de muss quasi über den Fall berichten.

Und das klingt dann so:

Eine große deutsche Handelskette reagierte sofort und verbannte die Produkte (Foto oben) aus den Regalen!

Als im vergangenen Jahr ein anderer Discounter eine große Rückrufaktion hatte starten müssen, stand sein Name gleich fünf Mal im Artikel auf Bild.de.

Mit Dank an Patrick S. und ceggis.

Nachtrag, 17. Februar: Bild.de hat die Zahl der Todesfälle in Österreich von sechs auf vier korrigiert, in einem neuen Artikel zum Thema wird Lidl genannt.

Gerüchterstattung

Es ist schon ein Kreuz mit dem Twitter-Journalismus oder der “neuen Medienwelt”, wie sie Thomas Schuler heute auf der Medienseite der “Süddeutschen Zeitung” anhand von Gerüchten über den Gouverneur des US-Bundesstaats New York beschreibt:


Manchmal schicken Journalisten heute eine Frage über das Internet raus und nennen das Recherche. Erkundungen über die Stichhaltigkeit des Gerüchts, die eigentlich vor der Entscheidung über eine Veröffentlichung steht, machen das Gerücht bereits öffentlich.

Und weiter:

Alle greifen die Twitter-Frage von Koblin auf und rechtfertigen damit ihre Berichte. New York Post, Daily News, Talkradio, Huffingtonpost.com, AP, Reuters, die Online-Ausgabe der Washington Post - alle berichten. Sie nennen die Gerüchte Gerüchte, das schon. Aber sie verbreiten sie und sie befördern den Rufmord.

Doch man muss nicht nach Amerika schweifen, um diesen Medien-Mechanismus zu betrachten. Um zu sehen, wie die Berichterstattung Gerüchterstattung funktioniert, kann der Leser der “SZ” auch einfach zwei Seiten weiter blättern. Dort, mitten im Wirtschaftsteil, berichtet gerüchtet die “Süddeutsche” selbst. Über Kim Schmitz, den C-Prominenten der deutschen IT-Szene der 90er Jahre, gibt es nämlich neue Fakten Informationen. Nunja:

Der inzwischen 36-Jährige hat im Leben schon viele Rollen verkörpert: Einst ein vermeintlich genialer Hacker, dann ein scheinbar erfolgreicher Unternehmer, schließlich ein verurteilter Betrüger, und dann nur noch ein Phantom. Nun soll er wieder aufgetaucht sein. Das zumindest glaubt die neuseeländische Zeitung New Zealand Herald. Sie will den verschollenen "Kimble" gefunden haben, und zwar als Käufer einer der teuersten Villen des Inselstaates.

Das mag richtig sein oder auch nicht – mehr als einen anonymen Insider weiß auch der “New Zealand Herald” nicht zu zitieren. Dies ist freilich ein Informationsweg, der gerade in Sachen Kim Schmitz chronisch unzuverlässig ist. Aber die “Süddeutsche” hat nicht einfach nur Gerüchte abgeschrieben, sondern sogar recherchiert:

Seine längst stillgelegten Websites sind bis heute auf die Firma Kimpire Ltd mit Geschäftsadresse in der Metropole registriert. Kim Schmitz war dort am Montag weder telefonisch noch per E-Mail erreichbar.

Und so wird aus einem unbestätigten Gerücht ein – nunja – unbestätigtes Gerücht.

Warum sich deutsche Leser für den angeblichen Hauskauf 23000 Kilometer entfernt interessieren sollten, lässt die “Süddeutsche Zeitung” freilich offen – es ist schlichtweg ein willkommener Anlass, die uralten Kimble-Stories noch einmal zu erzählen.

Der Branchendienst “Meedia” versuchte bereits am Montag die Dringlichkeit dieser Fast-Informationen zu vermitteln. Nicht neue Fakten, sondern das gewaltige Medienecho ist Anlaß für die Berichterstattung:

New Economy-Hochstapler zurück in den Schlagzeilen

Das Wort “Schlagzeilen” ist freilich eine gewagte Interpretation der Sachlage, denn mehr als den einen Bericht einer neuseeländischen Zeitung hatte es bis dahin nicht gegeben.

Und der IT-Nachrichtendienst “Golem” fantasierte am Montag gar von einer öffentliche Verlautbarung des notorisch lauten Schmitz. Nicht ein anonymer Insider, Schmitz selbst habe sich sich in den Medien zurückgemeldet:

Kim Schmitz meldet sich zurück

Aber wen interessieren schon Details, schließlich ist die Medienspirale längst in Gang gesetzt: Aus Gerüchten sind Schlagzeilen geworden, die dann von weiteren Medien zitiert werden können. So zum Beispiel am Dienstagnachmittag von der Online-Ausgabe des österreichischen “Standard”, die den Artikel der “Süddeutschen” dankbar abschreibt aufgreift.

Obwohl die Geschichte damit durch die Hände von fünf Redaktionen gegangen ist, ist nicht einen Deut klarer, ob das Gerücht mehr als ein wildes Gerücht ist. Aber das ist egal. Denn wie es Alexander Becker bei Meedia formuliert:

Mittlerweile finden sich im Web so viele Gerüchte, Geschichten und Anekdoten über den vermeintlichen Hacker, dass sich Wahrheit und Fakten nur noch schwer trennen lassen. Damit hat der vermeintliche Kauf der Chrisco Mansion alles, was eine gute Schmitz-Story braucht. Fortsetzung folgt garantiert.

Nachtrag, 18.2.: Am Mittwoch hat auch die “Abendzeitung” das Gerücht aufgegriffen – die Münchner haben wenigstens pro forma eine E-Mail verschickt.

Und am Donnerstag hat schließlich auch Bild.de die Nicht-Nachricht entdeckt und präsentiert sie natürlich brandheiß und inaktuell. Obwohl die “Bild” Schmitz über Jahre unkritisch jede PR-Eskapade geglaubt hat, weiß die Redaktion jetzt nicht einmal von einem misslungenen Kontaktversuch mit dem “Prahlhans” zu berichten.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

Das Schein-Interview mit dem Komapatienten

Es war eine Weltsensation, und der “Spiegel” hatte sie exklusiv. Im November berichtete das Nachrichtenmagazin über den Belgier Rom Houben, der nach einem Unfall scheinbar in ein Wachkoma gefallen war, tatsächlich aber wohl bei vollem Bewusstsein gewesen sei — 23 Jahre lang. Er konnte nur nicht mit der Außenwelt kommunizieren.

“Spiegel”-Wissenschaftsredakteur Manfred Dworschak hatte den Mann besucht und glaubte, sogar mit ihm gesprochen zu haben:

Wie haben Sie diese 23 Jahre überlebt, Monsieur Houben? Ein tiefes Knurren entweicht dem Mann im Rollstuhl, er scheint nachzudenken. Dann hurtiges Geklapper, ticketitack, Houbens rechter Zeigefinger huscht über die Tastatur, die an seiner Armlehne klemmt. Buchstabe auf Buchstabe erscheint: “Ich habe meditiert, ich habe mich weggeträumt”, steht da geschrieben. “Und nennen Sie mich Rom.”

Der Mann, der seiner Mitwelt verlorenging, lebt heute in einem hübschen Pflegeheim im belgischen Zolder. Noch immer ist er zu kaum einer Bewegung fähig, aber in seiner rechten Hand ist etwas Leben, das er nutzt: Mit Hilfe einer Sprachtherapeutin, die hinter ihm steht und seine Hand stützt, kann Rom auf einer Bildschirmtastatur schreiben.

Es klappert wieder, ticketitack: “Nie vergesse ich den Tag, an dem sie mich entdeckten, meine zweite Geburt.”

Viele weitere, teils herzzerreißende Antworten über das Leben von jemandem, der unerkannt bei Bewusstsein ist, aber keine Möglichkeit hat, sich mitzuteilen, schien der “Spiegel”-Redakteur dem Mann zu entlocken. Er war offenbar von der unbändigen Euphorie des Neurologen Steven Laureys, der den Fall entdeckt hatte, angesteckt:

Seit seiner Befreiung klappert Rom mit wachsendem Eifer auf seiner Tastatur, solange jedenfalls die Logopädin mitmacht. “Ich habe ihn natürlich getestet, um auszuschließen, dass in Wahrheit die Logopädin schreibt”, sagt Laureys. “Wir sind uns sicher, dass Rom bei Bewusstsein ist. Wussten Sie übrigens, dass er schon an einem Buch schreibt?”

Fernsehsender, Zeitungen und Online-Medien auf der ganzen Welt erzählten die unglaubliche Geschichte des “Spiegel” weiter. Die meisten Menschen, die sie hörten oder sahen, waren berührt. Und ein paar wurden sehr ärgerlich.

Denn die Methode, mit der Rom Houben vermeintlich sprach, ist höchst zweifelhaft. Bei der sogenannten “Gestützten Kommunikation” hält eine andere Person die Hand eines Menschen, der sich sonst nicht artikulieren kann, und führt sie über eine Tastatur. In Deutschland machte der Fall des Autisten Birger Sellin Furore, der sich auf diese Weise angeblich mitteilte, ein Buch schrieb und 1995 in “Stern-TV” mit Günther Jauch unterhielt.

Es fehlen wissenschaftliche Beweise dafür, dass bei der “Gestützten Kommunikation” tatsächlich derjenige spricht, der geführt wird — und nicht (womöglich unwissentlich) der Helfer. In Tests zeigte sich immer wieder, dass die Probanden auf diese Weise nur solche Fragen zuverlässig beantworten konnten, deren Antwort auch die Hilfsperson kannte. Bei der “Gestützten Kommunikation” würde es sich dann nur um eine Form des “Kluger Hans”-Effektes handeln. Amerikanische Fachverbände halten die Technik für diskreditiert.

James Randi, einer der bekanntesten und renommiertesten Kämpfer gegen Aberglaube jeder Art, hält “Gestützte Kommunikation” für nichts anderes als Scharlatanerei. Er geriet deshalb besonders in Rage, als er die Geschichte hörte, wie sich Rom Houben angeblich plötzlich der Welt mitteilte. “Diese grausame Farce muss aufhören!”, schimpfte er in seinem Blog und wies darauf hin, dass man in den Fernsehaufnahmen sogar sieht, dass Houben nicht einmal in Richtung der Tastatur schaut. Das tut aber die Frau, die mit festem Griff seine Hand führt. Das, was Houben angeblich “sagte”, ließ einige Experten ebenfalls misstrauisch werden.

Auch in Deutschland äußerten viele Skeptiker Zweifel.

Wir hatten damals “Spiegel”-Redakteur Manfred Dworschak mit der Kritik konfrontiert und gefragt, warum er meint, mit Rom Houben selbst kommuniziert zu haben. Er antwortete:

Steven Laureys hat Houben getestet (er zeigte ihm eine Reihe von Objekten, während Houbens Logopädin außerhalb des Raumes wartete, und fragte ihn, als sie zurückgekehrt war, was er gesehen hatte).

Ich weiß, dass die gestützte Kommunikation einen trügerischen Eindruck erwecken kann; deshalb habe ich mich ja auch vergewissert. Sie ist aber nicht schon von vorneherein ein untauglicher, korrupter Kanal, der in jedem Fall nur zur Hilfsperson führen kann.

Rom Houben fing nach seiner Entdeckung zunächst an, mit seinem rechten Bein (die rechte Körperhälfte ist motorisch nicht ganz erloschen) Ja-Nein-Signale zu geben. Damit war eine erste Verständigung möglich. Später lernte er, ein einfaches Ja-Nein-Display mit dem Zeigefinger zu bedienen. Als er damit gut zurecht kam, ging er zur alphabetischen Tastatur über.

Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn er beim Schreiben nicht immer die Tastatur im Blick hat; er sähe bei seiner Lichtempfindlichkeit ohnehin mitunter nicht allzu viel. Und wenn man bedenkt, dass er fast jeden Tag Stunden mit Schreiben verbringt und diese Tastatur für ihn das einzige Objekt auf der Welt ist, auf das er sein Handeln richten kann, verwundert es nicht so sehr, dass er die Tasten inzwischen auch mal halbwegs blind trifft (sie sind ja auch nicht gerade klein).

Das klang halbwegs überzeugend, doch die Skeptiker sollten Recht behalten. Im aktuellen “Spiegel” muss Dworschak einräumen, dass Rom Houben nicht auf diese Weise mit ihm reden konnte. Die Richtigstellung hat das Nachrichtenmagazin unauffällig in einem langen Artikel über neue Ideen der Hirnforschung versteckt:

Houben schrieb wohl doch nicht selbst; er hat nicht genug Kraft und Muskelkontrolle in seinem rechten Arm, um Zeichen anzusteuern. Die Logopädin, im Bemühen, dem Mann zum Ausdruck zu verhelfen, übernahm also unbewusst die Führung — solche Selbsttäuschungen kommen bei der Methode immer wieder vor. Auch die Auskünfte, die Houben Ende vorigen Jahres dem SPIEGEL gab, stammten demnach nicht von ihm.

Im aktuellen Test bekam Houben nun der Reihe nach ein Wort vorgesprochen oder einen von 15 Gegenständen gezeigt; die Logopädin war nicht dabei. Danach sollte der Mann jeweils den richtigen Begriff aufschreiben — es gelang kein einziges Mal.

Was für ein Alptraum muss es für den Gelähmten gewesen sein, wenn er tatsächlich bei Bewusstsein ist, zu erleben, wie andere in seinem Namen für ihn sprachen, was er gar nicht sagte.

In seinem ersten Stück im vergangenen Jahr schrieb Dworschak über Houben, den er damals noch Rom nannte:

Sein Fall zeigt besonders drastisch, wie wenig mitunter der Schein über das Sein sagt.

Das hat sich leider auf zweifache Art bewahrheitet.

Mit Dank an Marcus Anhäuser!

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