Nur ein toter Star ist ein guter Star

In der Welt von “Bild” und Bild.de gibt es viele Stars: All die Leute, die Norbert Körzdörfer trifft, Lothar Matthäus oder den Filmproduzenten Arthur Cohn, der einzige Mensch, hinter dessen Namen “Bild” in Klammern nicht sein Alter, sondern die Zahl seiner Oscars (“sechs”) schreibt.

Und dann gibt es Menschen, die Teil des Medienbetriebs sind, aber nicht im Rampenlicht von “Bild” und Bild.de stehen — es sei denn, in ihrem Leben passieren außergewöhnliche Dinge: Ein Schauspieler, der in verschiedenen kleineren und größeren Nebenrollen im Fernsehen zu sehen war, kann schnell zum “TV-Star” werden, wenn er verdächtigt wird, zwei Frauen vergewaltigt zu haben.

Ein sicherer Weg, zum “Star” zu werden, ist ein früher Tod: Der Name des Schauspielers Frank Giering hatte fast zehn Jahre nicht mehr in “Bild” gestanden, als er Ende Juni im Alter von 38 Jahren starb.

Ganze sechs Autoren brauchte es, um Sätze wie diese zu schreiben:

Sein TV-Gesicht kennen Millionen, sein wahres Ich hielt er versteckt: Schauspieler Frank Giering (“Der Kriminalist”) ist tot. Er starb im Alter von nur 38 Jahren.

ER WAR VERZWEIFELT UND ALKOHOLKRANK.

Die zunächst unklaren Todesumstände erlaubten es “Bild”, noch eine Reihe kleinerer Meldungen abzudrucken, die bei Bild.de riesig aufgeblasen wurden.

Die walisische Rockband Stereophonics war Bild.de in Ermangelung großer Eskapaden in den letzten Jahren gerade mal einen CD-Tipp wert, aber als ihr ehemaliger Schlagzeuger Stuart Cable im Juni im Alter von 40 Jahren starb, schaffte er es mit einem Foto auf die Startseite.

Gleich völlig unbekannt dürfte den meisten Bild.de-Lesern der Musiker Vic Chesnut gewesen sein, aber sein Tod mit 45 war eine Meldung wert.

Über den Schauspieler Heinrich Schmieder hatte Bild.de noch nie ein Wort verloren, doch sein plötzlicher Tod während eines Mountainbike-Etappenrennens machte ihn zum “TV-Star” — wenn der Begriff auch einiger Erklärung bedurfte:

TV-Star* Heinrich Schmieder tot mit 40 nach Radrennen * "Tatort", "SOKO Köln"

Klatschkritik, 9Live, Matthäus

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. Interview mit Antje Tiefenthal
(meedia.de, Stefan Winterbauer)
“Medienkritiker befassen sich eher mit Tageszeitungen oder TV-Formaten”, sagt Klatschkritik-Bloggerin Antje Tiefenthal, die das Segment der Klatschmagazine für weitgehend unbeobachtet hält. “Man gibt viel Geld aus für diese Magazine, in der Hoffnung ein glaubwürdiges Produkt zu bekommen und wenn man ein bisschen genauer hinschaut, entdeckt man, das ist alles nicht so.”

2. “Es gibt keine Presse mehr”
(blog-cj.de, Christian Jakubetz)
Christian Jakubetz hält die Einschätzung von Michael Hanfeld, die Online-Angebote der öffentlich-rechtlichen Sender würden das “Ende der freien Presse und die Herrschaft des Staatsjournalismus” bedeuten, für “so maßlos überzogen, dass es keiner weiteren Erwähnung wert wäre, stünde es nicht ausgerechnet in der FAZ”. Tatsächlich könne man nicht mehr abgrenzen: “Es gibt keinen Rundfunk mehr, der nur noch Rundfunk macht. Und es gibt keine Presse mehr, die nur noch Presse macht.”

3. “Das Beste im Fernsehen”
(fernsehkritik.tv)
Der Fernsehkritiker fragt sich, warum Bild.de die Sendung “Bei uns” auf 9Live zum TV-Tipp des Tages macht.

4. “How to Tell a Journalist from a Blogger”
(jolieodell.wordpress.com, englisch)
Jolie O’Dell schreibt auf, was für sie einen professionellen Journalisten ausmacht.

5. “Der typische WissensTV-Beitrag”
(philippundphilippunterhaltensich.de, Video, 2:44 Minuten)
Wie ein typischer “WissensTV-Beitrag” aufgebaut ist.

6. “Wie Lothars Fans trauern”
(11freunde.de, Benjamin Kuhlhoff)
Nach der “medienwirksamen Trennung” zwischen Lothar Matthäus und seiner Frau drücken Fans im Gästebuch seiner Website ihr Mitgefühl aus. Eine kurze Sammlung von Mitleidsbekundungen.

Der Lübecker Fenstersturz

So kann man sich natürlich auch eine Geschichte basteln:

Die unglaublichste Geschichte des Tages, gefunden bei stern.de: Stürzte dieses Paar beim Sex aus dem Fenster?

Die Zweifel, die “Bild” in der Überschrift simuliert, halten keine fünf Zentimeter bis zum Vorspann, dann ist daraus Gewissheit geworden:

Zwischen Höhepunkt und Vorgarten lagen etwa fünf Meter: Mirja P. (30; alle Namen geändert) und Robert K. (28) fielen beim Sex aus dem Fenster im ersten Stock!

Oder doch nicht?

Das berichtete Stern.de. Nachbarn sollen sie beim Liebesspiel vorm Sturz beobachtet haben.

stern.de wiederum hat sein Video über den Vorfall direkt vom Online-Video-Liferanten “Zoom In”, mit Material vom “Nachrichtendienst” “Nonstop News”, der sich auf das Abfilmen von Unfallstellen, Blaulichtern und Leichenwagen spezialisiert hat.

“Nonstop News” war – neben den Nachbarn, die offenbar bereitwillig in jedes Mikrofon plauderten, das man ihnen unter die Nase hielt – auch die einzige Quelle für einen “Nachrichten”-Beitrag des Boulevardsenders RTL, in dem eine Reporterin dramatisch in die Kamera sprach:

Nachbarn wollen das junge Pärchen hier im ersten Stock dieses Mehrfamilienhauses beim Liebesakt auf der Fensterbank beobachtet haben.

RTL würde nie behaupten, dass stimmt, was die Nachbarn beobachtet haben wollen: “Das Paar soll hier Geschlechtsverkehr gehabt haben”, sagt die Offsprecherin wichtigtuerisch, während Schwarz-Weiß-Bilder zweier sich gegenseitig entkleidender Menschen zu sehen sind — eine “Nachgestellte Szene”, natürlich.

Etwas Gänzlich anders stellen sich die Ereignisse in den “Lübecker Nachrichten” dar: Dort hatten die beiden Personen zunächst gemeinsam auf dem Fenstersims gesessen und die Füße heraus baumeln lassen:

Plötzlich ließ sich das Paar auf einen etwa 15 Zentimeter breiten Vorsprung an der Hauswand herab – von dort kamen sie allerdings aus eigener Kraft offenbar nicht mehr zurück in die Wohnung. Ob die beiden daraufhin freiwillig in die Tiefe gesprungen sind, weil ihnen keine andere Lösung eingefallen ist, oder ob die jungen Leute von dem Vorsprung abgerutscht sind, war gestern noch unklar.

Der Lübecker Internetdienst “HL-Live” wurde gleich noch eine Spur deutlicher:

Den Bericht eines Fersehsenders, das Pärchen sei “beim Sex aus dem Fenster gefallen”, weist Polizeisprecher Jan-Hendrik Wulff als Unsinn zurück. Beide seien beim Eintreffen der Polizei bekleidet gewesen.

Mit Dank an Volker G. und Rainer B.

Nachtrag, 16.55 Uhr: Die Meldung hat es – inklusive einiger zusätzlicher übersetzungs- und transportbedingter Fehler – auch ins Repertoire der britischen “Sun” geschafft.

Mit Dank an Sabine T.

Große Leuchte

Am Wochenende stellte die “Welt am Sonntag” eine “Solarglühbirne” vor. Die Meldung ist nicht sonderlich lang, aber sie preist eine wissenschaftliche Sensation an:

Helligkeit erzeugt es über Kerosinlampen, die lediglich ein Zweihundertstel so viel Strom verbrauchen wie herkömmliche Modelle.

Eine solarbetriebene LED-Leuchte, die Helligkeit “über Kerosinlampen” erzeugt, die wiederum Strom verbrauchen. Wow. Passt vielleicht noch ein atombetriebenes Wasserwindrad mit rein?

Nun, so irre ist das Teil dann doch wieder nicht, wie die Produktwebsite erklärt:

Nokero offers five times the light and 1/200th the energy consumption of fuel lights.

Nokero bietet das Fünffache an Licht und ein Zweihundertstel des Energieverbrauchs von Öllampen.

Und weil diese Glühbirnen vor allem Öllampen (Kerosin) ersetzen sollen, hat sich die Firma auch Nokero genannt — und nicht “Nokera”, wie die “Welt am Sonntag” konsequent behauptet.

Mit Dank an Kai.

Primärquellen, Sonntagszeitung, Griechenland

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Journalisten und Primärquellen – Managergehälter”
(marcmichels.blogspot.com, Marc Michels)
“Nutzt endlich mal die verdammten Primärquellen!”, ruft Marc Michels Journalisten, Bürgern und Politikern entgegen. Während ein Bericht der “Thüringer Allgemeinen Zeitung” über Managergehälter auf den “Focus” verweist, schreibt “Bild”: “Eine neue Umfrage macht deutlich…”. Dabei seien die betreffenden Informationen schlicht frei im Internet verfügbar.

2. “Kachelmann-Verfahren: Schweizer Zeitung wirft Befangenheit auf”
(morgenweb.de, M. Wirth, A. Lin, J. Gruler)
In ihrer neusten Ausgabe äußert die “Sonntagszeitung” “Zweifel an der Unabhängigkeit des Richters” im Fall Jörg Kachelmann. Einige Regionalblätter vermeldeten darauf, “Vater und Richter seien im gleichen Verein und würden sich gut kennen”, was “zahlreiche seriöse deutsche Tageszeitungen und sogar die berühmten Nachrichtenmagazine Spiegel und Stern” sofort aufnahmen. Der betreffende Richter, Michael Seidling, dementiert und gibt an, weder die Klägerin noch ihren Vater überhaupt zu kennen.

3. “Im Würgegriff der Parteien”
(echo-online.de, Klaus Thomas Heck)
Klaus Thomas Heck sieht die öffentlich-rechtlichen Sender von den Parteien stark beeinflusst. Die Folge: Es ergießen sich “auf beiden Seiten telegene Gesichter in inhaltsarmen Worthülsen, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Man kennt sich, ist einander viel zu nah und hat sich vor der Kamera nichts zu sagen. Ergebnis ist meist journalistisch wie politisch der kleinste gemeinsame Nenner.”

4. “Mehr Mut zur Zensur”
(nzz.ch, Rainer Stadler)
Rainer Stadler fürchtet, dass “unterhalb der offiziellen Medienangebote”, also in den Kommentarspalten, “bizarre Parallelgesellschaften” entstehen. “Wer interessante Publikumsmeinungen finden will, muss darum oft durch kniehohen Wortmüll stapfen.” Er empfiehlt, kommerzielle Wege zu prüfen: “Wenn eine Website als Blitzableiter für Enttäuschte oder als Auffangbecken für Unterbeschäftigte dient, sollte man doch daraus eine Geschäftsidee entwickeln können.”

5. “Griechenland: Tödlicher Terror gegen Journalisten”
(focus.de, Wassilis Aswestopoulos)
Journalist Sokrates Giolias wird “im Athener Vorort Ilioupolis” von mehreren Attentätern vor seinem Haus erschossen. “Giolias war wie viele andere Journalisten auf Webseiten autonomer, extremistischer Gruppen als zu eliminierender Klassenfeind erwähnt worden.”

6. “Why Journalists Make Mistakes & What We Can Do About Them”
(poynter.org, Mallary Jean Tenore, englisch)
“Misspelled names and typos are among the more basic errors journalists make. But there’s another type of error that is harder to correct: when journalists miss the story completely.”

Mangelndes Migrationshintergrundwissen

Unter dem Titel “Erstmals mehr als 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund” veröffentlichte das Statistische Bundesamt am vergangenen Mittwoch die neusten Zahlen aus einem Mikrozensus und kam zu dem Befund:

Von 2005 bis 2009 ist die Bevölkerung mit Migrationshintergrund durch Zuzug und Geburten um 715 000 angewachsen und die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund ist sterblichkeitsbedingt um 1,3 Millionen zurückgegangen.

Diese Aussage, die suggeriert, dass die Menschen ohne Migrationshintergrund aussterben, ist zumindest zweifelhaft, denn die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund steigt fast zwangsläufig. Immerhin zählt das Statistische Bundesamt auch diejenigen, bei denen ein Elternteil keinen Migrationshintergrund hat, zu den Personen mit Migrationshintergrund, falls der andere Elternteil Migrant ist oder die deutsche Staatsbürgerschaft nicht seit seiner Geburt besitzt. Nur wenn beide Eltern seit ihrer Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, können sie Kinder ohne Migrationshintergrund zeugen.

Außerdem sah das Gesetz bis vor zehn Jahren vor, dass Kinder von Ausländern die Staatsbürgerschaft der Eltern erhielten und somit Ausländer ohne eigene Migrationserfahrung waren. Deren Kinder haben somit auch Migrationshintergrund. Erst seit der Staatsangehörigkeitsreform im Jahr 2000 erhalten Kinder von Ausländern zusätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft.

So zynisch das klingt: Die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund geht nicht nur sterblichkeitsbedingt, sondern eben auch definitionsbedingt zurück.

Darüber findet sich nichts in den Medien, die über die neusten Zahlen des Statistischen Bundesamtes berichten. Dafür aber das:

Welt.de titelt plakativ:
Jeder fünfte ist ein Migrant

Bei sueddeutsche.de heißt es in der Überschrift:
Mehr Migranten

Vergleicht man die beiden Artikel mit der Pressemitteilung, so stellt man fest, dass die einzige Eigenleistung offensichtlich darin bestand, in der Überschrift “Menschen mit Migrationshintergrund” in “Migranten” umzubenennen – vielleicht, weil dieses Wort griffiger und nicht so sperrig ist.

Das “Handelsblatt” glaubt unter der Überschrift “Etwa jeder fünfte Einwohner hat Migrationsgeschichte” in der Einleitung zu wissen:

Von 2005 bis 2009 war die Zahl der Migranten von 15,3 auf mehr als 16 Millionen gestiegen.

Und in einem Artikel im “Tagesspiegel” wird sogar munter hin- und hergewechselt:

Erstmals hat im vergangenen Jahr die Zahl der hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund mehr als 16 Millionen betragen. (…) Im (…) Vergleichsjahr 2005 gab es noch 15,3 Millionen Migranten; sie machten 18,6 Prozent der Bevölkerung aus. Der Migrantenanteil hat sich also in vier Jahren um einen Prozentpunkt nach oben verschoben.

(…)

Migrationshintergrund hat (…), wer nach 1950 ins Gebiet der heutigen Bundesrepublik kam (…)

Manchmal wäre es jedoch besser, sich an die Vorlage zu halten. In der Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts wird sehr genau erläutert, woraus sich die 16 Millionen mit Migrationshintergrund zusammensetzen – nämlich aus 10,6 Millionen Menschen, die nach 1950 zugewandert sind, also tatsächliche Migrationserfahrung haben, und weiteren 5,4 Millionen, die in Deutschland geboren wurden.

Nur bei der ersten Gruppe handelt es sich um Migranten, bei der zweiten hingegen um Personen, die deshalb als Menschen mit Migrationshintergrund definiert werden, weil wenigstens ein Elternteil zugewandert bzw. Ausländer ist oder als Ausländer geboren wurde (s.o.).

Die Überschrift bei Welt.de etwa hätte angesichts von 10,6 Millionen mit tatsächlicher Migrationserfahrung lauten müssen “Jeder achte ist Migrant” oder “Jeder fünfte hat Migrationshintergrund” und die auf sueddeutsche.de “Mehr Menschen mit Migrationshintergrund”, was eine schöne Alliteration gewesen wäre.

Andererseits: Wenn man eine Pressemitteilung korrekt wiedergäbe, wo bliebe da die Eigenleistung?

Quallen, Doubles, Sächsisch

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Phil entlarvt alte Qualle”
(echo-online.de, db)
Mit dem Sachbuch “Insider-Wissen Ozeane” deckt ein 7-jähriger Leser von “Darmstädter Echo” auf, dass die auf der Titelseite abgebildete Kronenqualle keine neu entdeckte Tierart ist, wie man durch die Schlagzeile hätte vermuten können. Nachtrag, 21. Juli: Die involvierte Nachrichtenagentur AFP erklärt in einer Stellungnahme, die von AFP gesendeten Bilder seien “eindeutig als ‘undated handout photo’ gekennzeichnet” gewesen.

2. “Schnell statt gut – wie unprofessioneller Journalismus funktioniert”
(lerg.de, Andreas Lerg)
Andreas Lerg kritisiert einen Videobeitrag (videos.t-online.de, 2:46 Minuten) des Nachrichtendiensts “Nonstop News”. Der Bericht über einen Badeunfall stützt sich einseitig auf die Aussagen von zwei Ersthelfern, womit er “vorverurteilend und unausgewogen und damit schlichtweg unprofessionell” sei.

3. “Pseudo-Enthüllung: Hannoveraner sprechen Sächsisch”
(frontbumpersticker.blogspot.com, Felix Stein)
Felix Stein über die Weiterverbreitung der dpa-Meldung “Hannoveraner sprechen Sächsisch”: “Dass es sich beim angeblichen ‘Luthersächsisch’ eben nicht um Sächsisch handelte, sondern um eine Kunstsprache aus Elementen des Sächsischen, Fränkischen und Schwäbischen, die in ganz Deutschland verstanden werden sollte, wird zwar in der Agenturmeldung erwähnt – dass damit die Überschrift und der Aufhänger der Meldung unsinnig sind schien aber keinen Redakteur zu stören. Auch dass all das schon seit dem 19. Jahrhundert bekannt ist scheint in den Redaktionen entweder unbekannt zu sein oder wurde dort als unwichtig empfunden – stattdessen wird unverändert der Eindruck erweckt, es handele sich um eine neue Erkenntnis.”

4. “Kuckuckskinder sind In”
(klatschkritik.blog.de, Antje Tiefenthal)
Während “Grazia” erkennt, dass es sich bei mit Jennifer Lopez abgebildeten Kindern um Doubles handelt, machen “In” und “InTouch” glauben, es handle sich um ihre eigenen Kinder. “Wahrheitsgehalt? Gleich null.”

5. “Den Bock zum Apple gemacht”
(fernsehkritik.tv)
Ein über die Webcam beobachtetes Mädchen wird bei RTL mit einem Apple MacBook Pro gefilmt: “RTL hat hier offenbar dem Mädchen ein falsches Laptop hingestellt – nur warum?”

6. “Konjunktur aus der Kristallkugel”
(politplatschquatsch.com, panzerbummi)
“Ostdeutsche Wirtschaft holt auf” (welt.de, 14.7.) vs. “Wirtschaftswachstum: Osten fällt wieder zurück” (fr-online.de, 15.7.)

Journalisten: Ein Berufsstand meldet sich krank

“Die Welt” berichtet in ihrer heutigen Ausgabe:

Die Arbeitnehmer fehlten in den ersten sechs Monaten laut den neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegen, 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit – das sind zehn Prozent mehr als im vergleichbaren Vorjahreszeitraum.

Diese Behauptung ist insofern falsch, als es in den Statistiken gar nicht um die Sollarbeitszeit geht, sondern um den Anteil der Pflichtversicherten, die am 1. eines Monats krankgeschrieben sind.

Autor Christoph B. Schiltz hätte gewarnt sein müssen. Etwa durch den Hinweis, den das Bundesgesundheitsministerium deutlich sichtbar im Vorlauf seines Berichts untergebracht hatte:

Krankenstand = Arbeitsunfähig kranke Pflichtmitglieder in % der Pflichtmitglieder ohne Rentner, Studenten, Jugendlichen und Behinderten, Wehr-, Zivil- und Dienstleistende bei der Bundespolizei, landwirtschaftliche Unternehmer, Alg II- sowie Vorruhestandsgeldempfänger / Stichtag jeweils 1. des Monats

Oder durch die Pressemitteilung, die das Ministerium im Vorjahr veröffentlichen musste, um den Schaden einzudämmen, den Schiltz angerichtet hatte, weil er (damals schon wiederholt) den gleichen Fehler gemacht hatte — und der natürlich von anderen Medien munter weiterverbreitet wurde.

Auch die anderen Medien hätten also gewarnt sein können, als die Vorabmeldung der “Welt” bei ihnen einging. Sie waren es nicht:

Im Durchschnitt hätten die Arbeitnehmer 3,58 Prozent der Soll-Arbeitszeit gefehlt, berichtete die Zeitung “Die Welt” vorab aus ihrer Montagausgabe unter Berufung auf neueste Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums.
(Reuters)

Die Arbeitnehmer fehlten einem Bericht der Zeitung «Die Welt» zufolge in der Zeit von Januar bis Juni 2010 im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit – das ist ein Anstieg um zehn Prozent gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum (3,24 Prozent der Sollarbeitszeit). Das Blatt beruft sich auf die neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums.
(AFP)

Die Krankenstände in den deutschen Betrieben sind nach einem Bericht der Zeitung «Die Welt» in den ersten sechs Monaten 2010 auf den höchsten Halbjahresstand seit fünf Jahren geklettert. Die Arbeitnehmer fehlten in der Zeit von Anfang Januar bis Ende Juni im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit.
(dpa)

Die Arbeitnehmer hätten in der Zeit von Januar bis Juni 2010 im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit gefehlt, hieß es.
(epd)

Die Arbeitnehmer fehlten in der Zeit von Januar bis Juni 2010 im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies berichtet die Tageszeitung “Die Welt” (Montagausgabe) unter Berufung auf die neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums (BMG).
(AP)

Die Arbeitnehmer hätten in der Zeit von Januar bis Juni 2010 im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit gefehlt, hieß es unter Berufung auf Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums.
(FAZ.net)

Die Arbeitnehmer fehlten zwischen Januar und Juni im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit, berichtet die Zeitung unter Berufung auf die neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums, die die Krankenstände aller gesetzlich versicherten Arbeitnehmer umfassen.
(“Spiegel Online”)

Die Arbeitnehmer fehlten in der Zeit von Anfang Januar bis Ende Juni im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit.
(Bild.de)

Die Arbeitnehmer fehlten von Januar bis Juni im Durchschnitt 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit.

Das ist ein Anstieg um zehn Prozent gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum (3,24 Prozent der Sollarbeitszeit), wie die Zeitung “Die Welt” unter Berufung auf die neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) berichtet.
(“RP Online”)

Besonders bemerkenswert daran: Die ominösen Statistiken, “die der WELT vorliegen” und auf die sich “das Blatt beruft”, sind schon länger für jeden zugänglich auf der Webseite des Gesundheitsministeriums einzusehen (PDF). Ein halbwegs erfahrener Computernutzer braucht fünf Sekunden um festzustellen, dass das Wort “Sollarbeitszeit” im ganzen Dokument nicht ein einziges Mal auftaucht.

Immerhin tagesschau.de hat es geschafft, die Statistik richtig zu lesen — und lässt einen Ministeriums-Sprecher gleich die begrenzte Aussagekraft der Statistik kommentieren.

Das Ministerium selbst sah sich abermals gezwungen, eine Stellungnahme zu veröffentlichen, die die Interpretationen des Herrn Schiltz in ihre Schranken weist. Inzwischen sei man ein wenig resigniert: “Das passiert jedes Mal”, beklagte sich eine Sprecherin auf unsere Anfrage hin.

Seit dem Vormittag kursieren jetzt auch einzelne korrekte Meldungen der Nachrichtenagenturen. Offiziell korrigiert wurden die alten Versionen aber alle nicht.

Mit Dank an Matthias B.

Nachtrag, 22.40 Uhr: “Spiegel Online” hat den Fehler korrigiert und den Artikel mit einem Hinweis versehen — zumindest den diesjährigen Artikel, wenn auch nicht den von 2009.

2. Nachtrag, 20. Juli: dpa hat inzwischen eine Korrektur seiner ursprünglichen Meldung verschickt.

Mehr zu Christoph B. Schiltz und seiner jahrzehntelangen eigenwilligen Statistikinterpretation:

Wenn in China ein Sack Dollar umfällt

Dass China nicht mehr dieses verschlossene, kommunistische Rätselreich am Ende der Welt, sondern eine veritable Wirtschaftsmacht ist, das hat sich mittlerweile herumgesprochen. Wie wirtschaftsmächtig China aber ist, darüber herrscht nun umso mehr Rätselraten — zumindest in der Bild.de-Redaktion.

Unter der Überschrift “Angst vor der Supermacht” behauptet Bild.de zu erklären, wie abhängig Deutschland von China mittlerweile sein soll. Dabei bricht Bild.de nicht nur die Kennzahlen der Exportwirtschaft auf eine sehr konfuse und unnötig bedrohliche Formel herunter (“Noch steigen die Zahlen. Die bange Frage: Wie lange noch?”), sondern beweist auch ein gerüttelt Maß an Inkompetenz und Ahnungslosigkeit.

Bild.de schreibt etwa:

China hat mittlerweile Währungsreserven in Höhe von 1,91 Billionen Euro angehäuft – ein gigantischer Euro-Schatz!

Fangen wir mit dem an, was stimmt: Ja, China hält Währungsreserven im Wert von 1900 Milliarden Euro, eine tatsächlich extrem große Summe.

Aber: Was China tatsächlich in den Händen hält sind weitgehend Dollar, nämlich mindestens 60 Prozent von diesen grob 1,9 Billionen Euro (wie man auch einer Pressemeldung der chinesischen Regierung aus dem Jahr 2008 entnehmen kann).

Selbst wenn man also davon ausgeht, dass China die restlichen 40 Prozent samt und sonders in Euro hält (was unwahrscheinlich ist), dann hätte sich Inga Frenser von Bild.de noch um satte 1000 Milliarden Euro verrechnet — aber um so ein Billiönchen kann man sich ja schon mal vertun, wenn man über Wirtschaftspolitik schreibt, klar.

Aber nicht nur die Mathematik von Frau Frenser ist wenig überzeugend, auch ihre Prognosen entbehren jeder Grundlage. In ihrem Beitrag für Bild.de schreibt sie nämlich über die vermuteten Euro-Reserven der Chinesen weiterhin:

Wenn sie den (den “gigantischen Euro-Schatz”, Anm. BILDblog) verkaufen, würde der Euro brutal abstürzen. Das wissen auch die Chinesen…

Sie haben einen gigantischen Faustpfand in der Hand, sollte es zum Streit mit den Europäern kommen. Oder gar zu einem Handelskrieg.

Das ist grundsätzlich natürlich richtig: Lösen die Chinesen ihre Reserven schlagartig auf, fallen die Kurse der betroffenen Währungen, also vor allem der Kurs des Dollars, aber auch der Kurs des Euro.

Aber welche Konsequenzen hätte das? Die chinesische Währung, Renminbi oder Yuan genannt, würde sofort deutlich an Wert zulegen, was chinesische Produkte für den Export unvergleichlich teurer machen würde. Die Nachfrage an chinesischen Produkten würden also nachlassen, es käme kein ausländisches Kapital mehr nach China und die fast vollständig auf Export ausgerichtete Wirtschaft Chinas würde ihrer Grundlage entzogen und zu Grunde gehen.

Das bedeutet alles nicht, dass man Chinas Wirtschaftspolitik nicht doch für bedrohlich halten kann — aber eben aus anderen Gründen. Wie hatte der chinesische Premierminister Wen Jiabao etwas früher im Text sehr richtig gesagt:

“Wir sitzen im gleichen Boot”, betonte Jiabao freundlich.

Mit Dank an Michael S. und Christoph G.!

Leserreporter, Kachelmann, Futurezone

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Raumschiff Berlin”
(tagesspiegel.de, Ernst Elitz)
Ernst Elitz glaubt, dass Blogger zur “wahren Konkurrenz” der Hauptstadtjournalisten werden. Der “angeblich so hektische Hauptstadtjournalismus” sei nämlich “manchmal ziemlich verschlafen”. “Die Konsequenz müsste lauten: Werdet schneller und macht euch bissiger Konkurrenz.”

2. “Bild: 2,3 Millionen Euro für Leserreporter”
(meedia.de, Daniel Bouhs)
Daniel Bouhs schreibt über die “Bild”-Leserreporter: “Wie ein Sprecher des Axel-Springer-Verlages MEEDIA auf Anfrage mitteilte, liefen seit dem Start der Aktion im Jahr 2006 bis dato nämlich schier unfassbare 685.595 Fotos in der Redaktion der Bild ein, von denen 13.514 ins Blatt wanderten, also immerhin etwa zwei aus einhundert Bildern.”

3. “Warum fangen wir nicht bei uns an?”
(faz.net, Mark Siemons)
Die Studie “Die China-Berichterstattung in den deutschen Medien” der Heinrich-Böll-Stiftung löst in China eine Debatte aus. “Die chinesischsprachige Parteizeitung ‘Global Times’ nahm die als notwendig vorausgesetzte Parteilichkeit der Nachrichten sogar als Lizenz zum freien Erfinden und zitierte aus dem Berliner ‘Tagesspiegel’ Sätze, die dort gar nicht standen.”

4. “Freundliche Übernahme”
(timklimes.de, 11. Juli 2010)
Tim Klimes vergleicht eine RTL-Pressemitteilung mit einer dpa-Nachricht. Thema: Eine aus der Doku-Soap “Bauer sucht Frau” resultierende Hochzeit.

5. “Ein Fall für Krake Paul”
(blog.persoenlich.com, Matthias Ackeret)
Für Matthias Ackeret fusst “die ganze Kachelmann-Story lediglich auf zwei Facts”: “dem Kürzestauftritt von Kachelmann vor dem Gefangenentransporter (‘ich bin unschuldig’) und einem Gutachten der Bremer Psychologin Luise Greuel, das von beiden Parteien beliebig interpretiert wird. Gesprochen hat sie mit Kachelmann nie. Auch das vermeintliche Opfer hat sich bis jetzt öffentlich noch nicht geäussert, so wenig wie die angeblichen Heerscharen der Kachelmann-Freundinnen, die den Mythos des hemmungslosen Casanova begründen.”

6. “Veräußerung der ORF-Futurezone”
(beschaffung.orf.at)
“Bis längstens 15.9.2010” beabsichtigt der ORF, das hauseigene IT- und Technologieportal “www.futurezone.at” zu veräußern. “Abgabe der Interessenbekundung bis längstens 30.7.2010, 12.00 Uhr (Einlangen aller Unterlagen).”

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