Fahrenheit 9/9

Es gibt bestimmte Ereignisse, da weiß man einfach, wo man war, als man davon erfuhr: Die Älteren erinnern sich an Bern ’54, die Ermordung John F. Kennedys oder die Mondlandung, Jüngere immerhin noch an den Mauerfall, den Tod von Prinzessin Diana oder die Terroranschläge in New York und Washington am …

Na …

Ach ja:

Vom Anschlag an den Spielen in München 1972 über den 9. September 2001 bis zu den jüngsten Zwischenfällen im US-Luftraum spannt sich ein Bogen von Ereignissen, der nicht nachlassende Aufmerksamkeit erfordert.
(“Neue Zürcher Zeitung”, 2. Februar)

Aber so einfach ist es nicht: Der "War on terror", mit dem Washington auf den 9. September 2001 reagierte, war nicht allein die Sache der Amerikaner.
(“Tagesanzeiger”, 4. Februar)

Die Erinnerungen ans World Trade Center sind unweigerlich mit den Anschlägen vom 9. September 2001 verbunden.
(bazonline.ch, 24. Februar)

Dieser erinnerte an den Nato-Beitrittsfall, der nach dem 9. September 2001 von den USA ausgerufen wurde und zum Einmarsch in Afghanistan führte.
(“Südkurier”, 2. März)

Die Terroranschläge vom 9. September 2001 haben jedoch die Bedingungen für professionelle Flieger verändert.
(“Hersfelder Zeitung”, 12. März)

Die Terrorakte vom 9. September 2001 betrachtet er als verwandte Verbrechen.
(“Neue Zürcher Zeitung”, 16. März)

Er entwickelte eine Strategie des "kalkulierten Terrors, der Souveränen, Fürsten, Generalen und Gouverneuren einen schnellen Tod brachte", wie es der britische Historiker Bernard Lewis in seiner großen Studie "Die Assassinen. Zur Tradition des religiösen Mordes im radikalen Islam" formulierte, deren Erstausgabe 34 Jahre vor den Anschlägen vom 9. September 2001 erschien.
(“Die Welt”, 16. März)

Mit Dank auch an Rahel Z.

Perlen vor die Geisterhunde

Sie haben die Nachricht sicher gehört, die das britische Königshaus und die Welt erschüttert: Otto, der schwarze Cocker-Spaniel von Kate Middleton, hat ein Paar Ohrringe gefressen, das Prinz William seiner Freundin zum Geburtstag geschenkt hatte.

Die britische Boulevardzeitung “Mail on Sunday” enthüllte das Drama am vorvergangenen Sonntag auf ihrer Titelseite. Der “Daily Telegraph” kopierte die Informationen und Zitate in sein Internet-Angebot und die gedruckte Ausgabe am nächsten Tag. Von dort übernahm sie die deutsche Nachrichtenagentur dpa und sorgte dafür, dass neben zahlreichen OnlineMedien auch “Berliner Zeitung” und “Tagesspiegel” ein paar Tage später ihre Leser über das Ereignis informieren konnten.

Der Ursprungsartikel der “Mail on Sunday” beschreibt unter Berufung auf einen anonymen “Freund” in großer Detailfreude, wie plötzlich die sehr, sehr wertvollen Schmuckstücke vom Nachttisch verschwunden waren und dass Kate Middleton ihren Otto verdächtigte, sie gefressen zu haben. Sie sei daraufhin immer wieder mit ihm Gassi gegangen, bis die Ohrringe auf natürlichem Weg wieder ans Tageslicht kamen — allerdings völlig zerkaut.

Es ist eine tolle Geschichte, wäre da nicht ein lästiges Detail: Kate Middleton hat gar keinen Hund.

Die “Mail” hat inzwischen vage eingeräumt, dass ihr Artikel Fehler enthalte, und ihn von ihrer Internetseite entfernt — “aus Höflichkeit”. Auch der “Daily Telegraph” behauptet zumindest nicht mehr, dass es Otto gewesen sei, sondern, wenn überhaupt, dessen Hundeschwester Ella, die Kate Middletons Familie gehöre.

Die “Mail” will ihren Artikel der für Prinz William zuständigen Pressestelle des Königshauses vorgelegt haben, die ihr aber keinen Wink gegeben habe, dass die Geschichte unwahr sei. Vermutlich haben die Pressesprecher der Zeitung nur dasselbe gesagt wie der dpa: kein Kommentar. Und obwohl das offenbar die Standard-Antwort ist auf Anfragen, die Kate Middleton betreffen, scheint auch dpa die Nicht-Antwort als praktisches Indiz genommen zu haben, dass eine Geschichte ohne vertrauenswürdige Quelle, aber ohne Dementi, schon stimmen wird — obwohl sich auf Nachfrage von BILDblog herausstellt, dass auch bei der Nachrichtenagentur niemand weiß, ob Kate Middleton überhaupt einen Hund hat, geschweige denn, was für Schmuck er so frisst.

Das allerdings ist nichts gegen die Meldung, die das Nachrichtenmagazin “Bunte” in seinem Online-Ableger veröffentlichte. Die Kollegen nutzen freie Recherchekapazitäten von ihrer eigentlichen Arbeit als Staatsaffären-Enthüller ja gelegentlich, um Klatschgeschichten nachzugehen. Und sie erfanden auf der Grundlage des “Mail on Sunday”-Märchens in der “Daily Telegraph”-Version einfach ihre eigene Lügengeschichte, verlegten den Vorfall von Januar in die Gegenwart und verzichteten auch auf die eklige Episode vom Durchsuchen des Hundekots: Bei bunte.de werden die Ohrringe nur durchgekaut, aber nicht heruntergeschluckt. Und damit es zu ihrer Version der Ereignisse passt, machten die “Bunte”-Leute aus dem Original-Zitat Prinz Williams, Kate müsse halt einfach warten, bis der Schmuck hinten wieder rauskommt, kurzerhand einen Konjunktiv: Kate hätte doch einfach warten sollen, bis der Schmuck hinten wieder rauskommt.

Anderseits: Warum soll man bei einer Geschichte, die eh falsch ist, bei der “Wahrheit” bleiben?

Mit Dank an “Tabloid Watch”.

Geheimdienstkrämerei um den CCC

Es gibt Meldungen, da braucht man nicht viel mehr als 140 Zeichen, um zu wissen, wer im Recht und wer im Unrecht ist:

Nach ergangener Einstweiliger Verfügung behauptet die Axel Springer AG nun nicht mehr, der #CCC würde für den #BND arbeiten.

Auf der einen Seite die Springer-Presse, deren Angestellte scheinbar ständig die Grenzen des Journalismus und des menschlichen Anstands ausloten, auf der anderen Seite der Chaos Computer Club, galaktische Gemeinschaft und Retter der Bürgerrechte. Wer da zweifellos Recht hat, ist doch klar, oder?

Doch worum geht es? In der “Berliner Morgenpost” und im Online-Angebot der “Welt” war am 3. März ein Artikel erschienen, der ein desaströses Bild von der Einsatzfähigkeit deutscher Sicherheitsbehörden im Anti-Terror-Kampf zeichnete. Überschrift: “Ohne USA geht bei der Terrorbekämpfung nichts”.

Darin enthalten war diese verfängliche Textstelle:

Heute soll Pullach nicht einmal in der Lage sein, sich in moderne Computer zu hacken. Entsprechende Aufträge würden deshalb an externe Spezialisten wie den Chaos Computer Club (CCC) vergeben. Dieser dementiert das allerdings und spricht von Gerüchten.

Für die Hacker des CCC erschien dies als enorme Provokation, verbindet sie mit den Geheimdiensten aller Art nicht nur eine grundlegende Abneigung, sondern auch traumatische Erinnerungen.

CCC-Mitglied Felix von Leitner machte seiner Empörung Luft:

Wir sprechen nicht von Gerüchten, sondern von aktiver Desinformation, um unseren guten Namen zu beschmutzen.

Das Landgericht Berlin schloss sich der Argumentation des Chaos Computer Clubs an und verbot der Axel Springer AG am 9. März unter Androhung eines Ordnungsgeldes von bis zu 250.000 Euro oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, das Gerücht zu wiederholen. Wie gewohnt gibt sich die Axel Springer AG bei Rechtsstreitigkeiten in eigener Sache sehr zugeknöpft: “Wir bewerten derzeit den aktuellen Sachverhalt und prüfen, ob wir Rechtsmittel einlegen”, erklärt ein Sprecher gegenüber BILDblog.

Der Artikel verschwand daraufhin aus dem Angebot von “Welt Online”, im Online-Angebot “Morgenpost” wurde er entschärft — vom Chaos Computer Club ist nun nicht mehr die Rede.

Doch auf den zweiten Blick ist die Verteilung von Gut und Böse nicht mehr so eindeutig. Es ist zwar möglich, dass die Information einer vermeintlichen Zusammenarbeit zwischen CCC und BND gezielt gestreut wurde — für einen Frontalangriff der “Springer-Presse” wäre dieses Vorgehen zumindest ungewohnt subtil: Das Gerücht war im Konjunktiv wiedergegeben, erschien an einer unscheinbaren Stelle im Text und das Dementi des CCC schloss direkt an. Kampagnen sehen anders aus.

Dass Journalisten nun die Wiedergabe eines Gerüchts verboten wurde, ist auch im Hinblick auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs zur Haftbarkeit bei der Verbreitung fremder Äußerungen vom November 2009 juristisch fragwürdig. Auch muss sich der CCC fragen lassen, was durch die Gerichtsentscheidung erreicht wurde: Der Artikel wird nicht ungelesen, die Unterlassungsverfügung verschließt die Diskussion darüber auf möglichst intransparente Weise. Zudem wurde der Chaos Computer Club einst auch zu dem Zweck gegründet, anonymen Informanten einen Weg in die Öffentlichkeit zu bahnen. Wenn solche Aussagen allzu einfach per Gericht aus der Öffentlichkeit verbannt werden können, wird aus dem juristischer Erfolg vielleicht schon bald ein Pyrrhussieg.

Perlentaucher, Bunte, Sport-Tag

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Fantasie über die Zukunft des Schreibens”
(perlentaucher.de, Thierry Chervel)
Der “Perlentaucher” wird 10 Jahre alt und liest dazu einen Artikel über Amazon in der “Süddeutschen Zeitung” von 2001: “Schon heute dürfte Amazon in die Netz-Geschichte als eines der am stärksten überschätzten Unternehmen eingehen, ein Riesenbluff, der im Vertrauen auf den steigenden Aktienkurs wirtschaftete und die Aktionäre nicht mit Bilanzen versöhnte, sondern mit den Anekdoten und dem ansteckenden Lachen des Firmengründers Jeff Bezos.”

2. Interview mit Thierry Chervel
(meedia.de, hs)
Thierry Chervel wundert sich, warum nur so wenige Journalisten ins Internet drängen. “Als wir den Perlentaucher gegründet haben, dachten wir, da tut sich ein riesiges Pionierland auf und alle Journalisten werden sich darauf stürzen, um sich aus den traditionellen Hierarchien zu lösen. Am Ende standen wir dann ein bisschen alleine da.”

3. “‘Bunte’ bringt falschen Oscar auf den Titel”
(wuv.de)
Auf der Titelseite der aktuellen Ausgabe der “Bunte” prangt eine “Goldene Spectra”, eine Auszeichnung, die die Zeitschrift “jede Woche in ihrer Print-Kolumne ‘Die Bunte-Woche’ selbst vergibt”. Illustriert wird damit die Geschichte “Oscar-Gewinner Christoph Waltz – Unser neuer Weltstar”.

4. “Augen zu statt gerade aus beim ‘Focus'”
(indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
“Print-Häuser sollten sich jene Redakteure schnappen, die in einem besonderen Bereich besonderes Wissen und besondere Leidenschaft entwickelt haben. Denn sie sind es, die ihre Redaktion von anderen unterscheidet. Sie sind es, die motivierter sind.”

5. Interview mit Ai Weiwei
(dradio.de, Liane von Billerbeck)
Der chinesische Künstler Ai Weiwei verteidigt die Möglichkeiten des Internets: “Sie können im Westen durchaus skeptisch gegenüber den Möglichkeiten des Bloggens, des Internets sein, aber im Osten sieht die Lage ganz anders aus. (…) Das Bloggen ist für uns ein Lichtstrahl in einem vollständig dunklen Zimmer und deshalb schätzen wir es auch so stark. Wir hängen sogar davon ab.”

6. Interview mit Michael Hahn
(tagesspiegel.de, Lucas Vogelsang)
Michael Hahn, Verleger der neu erscheinenden täglichen Sportzeitung “Der Sport-Tag”, hegt keine Zweifel am Zeitungsgeschäft. “Und ich kann Ihnen versichern, dass nicht einmal meine Enkel in der U-Bahn von iPad-Menschen umgeben sein werden. Das garantiere ich Ihnen, auch wenn es vielleicht nicht in Ihr Weltbild passt.”

Keese, Polizeifotos, Baudrexel

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “‘Krieg der Welten’ 2010”
(blog.tagesschau.de, Silvia Stöber)
Silvia Stöber fasst die Ereignisse (Video, 1:41 Minuten) rund um den im georgischen Privatsender Imedi TV gesendeten Scheinangriff russischer Truppen auf Georgien zusammen, der von vielen Menschen ernst genommen wurde.

2. “Blogger rütteln Russland auf”
(nzz.ch, Klaus-Helge Donath)
Über die Dynamik der Medien in Russland, wo die “wachsame Bloggerszene” immer wichtiger wird. “In der gleichgeschalteten Medienlandschaft Russlands übernehmen Internetnutzer inzwischen nicht nur Aufgaben der Presse, sondern auch Funktionen der korrupten Ordnungshüter.”

3. “Ein Angebot an Christoph Keese”
(indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
Thomas Knüwer antwortet dem Lobbyisten des Axel-Springer-Verlags, Christoph Keese, der Abgaben einfordert für die Organisierung der Rangreihenfolge von Informationen im Internet.

4. Interview mit Alan Rusbridger
(derstandard.at, Michael Kremmel)
“Guardian”-Chef Alan Rusbridger spricht über den Druck, den Leser auf Journalisten ausüben, “sodass diese zeigen müssen, dass sie wirklich gut sind”. “Das entblößt vor allem Journalisten, die nicht sehr gut sind. Deshalb werden Journalisten, die nicht sehr gut sind, in diesem Job auch nicht mehr bestehen können.”

5. “Polizeifotos als Quotenbringer”
(faz.net, Nina Rehfeld)
Internetableger von US-Zeitungen machen Klicks mit Galerien von Polizeifotos: “Tampabay.com, das Netzportal der ‘St. Petersburg Times’, erzielt ein Siebtel des Websiteverkehrs mit Besuchern der ‘Mugshot’-Seite.”

6. “Mein Brief an Martin Baudrexel”
(hansdorsch.com)
Hans Dorsch fragt den Fernsehkoch Martin Baudrexel, warum er Werbung macht für ein Fertigprodukt. “Wer dich jemals mit den Kochprofis oder den Küchenchefs im Fernsehen gesehen hat, hat dieses Bild im Kopf: Martin geht in die Küche und wirft alle Fertigprodukte in den Müll.”

Bild  

Out in the Woods

“Bild”, 9. März 2010, Seite 16:
In & Out - Out: Tiger-Woods-Witze. Gähn - wer will denn die noch hören?

“Bild”, 12. März 2010, Seite 16:
Wer hat noch nicht mit Tiger Woods (34) geschlafen? Diese Frage ist schwer zu klären. Aber es gibt nur eine, die sein Bett teilte und dafür 75 000 Dollar Preisgeld bekommt: Unterwäschemodel Jamie Jungers (26) wurde jetzt in der US-Talkshow von Howard Stern zu "Tigers bester Geliebten" gewählt! Warum? Weil sie die dreckigsten Details aus- packte. Beispiel: "Tigers Tiger ist 22 Zentimeter lang." Beeindruckend, dieser Schniedel-Woods!

Empörung über Amoklaufprävention

Schenkt man dieser knackigen Schlagzeile aus der Stuttgarter “Bild”-Ausgabe Glauben, dann werden Amokläufer bald noch präziser und tödlicher agieren:

Amok-Ausschuss fordert Schießtraining für Schüler

Wahnsinn, oder? Da fragt man sich doch, wie so ein gemeingefährlicher “Amok-Ausschuss” dazu kommt, derartige Forderungen zu stellen. Ganz einfach: Am 8. März stellte der Sonderausschuss “Konsequenzen aus dem Amoklauf in Winnenden und Wendlingen – Jugendgefährdung und Jugendgewalt” seinen rund 880 Seiten starken Abschlussbericht vor. Der Ausschuss wurde eingerichtet, um der Politik Handlungsempfehlungen zur nachhaltigen und langfristigen Prävention von Amokläufen und Jugendgewalt zu geben. Dementsprechend finden sich unter den 39 Empfehlungen aus acht Themenbereichen unterschiedlichste Vorschläge, die von der Fortbildung pädagogischen Personals über Waffenzugangsbeschränkungen bis hin zu Sicherheitsmaßnahmen an Schulen und der Stärkung des Erziehungsauftrages von Eltern reichen.

Unter “6. Gewaltprävention im Sportjugendbereich – Modellprojekt Biathlon” heißt es laut Pressebericht des baden-württembergischen Landtags, aus dem auch Bild.de zitiert:

Der Sonderausschuss Winnenden möchte die erfolgreiche Jugendarbeit in den Sportschützenvereinen stärken, indem insbesondere der Gewaltpräventionsgedanke noch intensiver betont wird. Ein projekthaftes Angebot in einer Sportart scheint dabei zielführend. Besonders geeignet ist aus Sicht des Sonderausschusses die Sportart Biathlon, da neben den Schützenverbänden des Landes auch die baden-württembergischen Skiverbände (Winterbiathlon) sowie die Leichtathletikverbände (Sommerbiathlon) in das Projektvorhaben einzubinden sind.

Der kreativ-verquere Gedankensprung von “Bild”-Autor Markus Piechotta, aus gewaltpräventiver Jugendarbeit innerhalb der Vereine ein verpflichtendes Schießtraining für Jugendliche zu machen, muss schon fast bewundert werden:

In dem Papier (…) fordern die 18 Abgeordneten auch Schieß-Unterricht für Jugendliche!

Entsprechend einseitig fällt bei Bild.de dann auch die Beschreibung der Reaktion der Angehörigen und des Aktionsbündnisses Winnenden aus:

Die Angehörigen der Opfer sind entsetzt.

Dass das Aktionsbündnis Winnenden, eine Initiative der Eltern der Amokopfer, die Empfehlungen des Stuttgarter Ausschusses “in weiten Teilen” (abgesehen von obengenanntem Vorschlag im Sportschützenbereich) begrüßte, erwähnt Piechotta mit keinem Wort.

Allerdings wäre es auch irgendwie inkonsequent gewesen, wenn “Bild” nach der reißerischen und verantwortungslosen Berichterstattung über den Amoklauf vor einem Jahr jetzt auf einmal beginnen würde, nüchtern und sachlich über dieses hochemotionale Thema zu berichten.

PS: Auch der Berliner Kurier versteht sich auf knackige und irreführende Schlagzeilen:

Schüler in den Schießunterricht!

Mit Dank an Thomas und Jörg S.

Bild  

Paolo Guerreros Rückkehr auf Raten

Natürlich ist es nicht auszuschließen, dass es – wenn auch nicht zwingend auf der Erde, dann doch wenigstens in irgendeinem Paralleluniversum – zwei Paolo Guerreros gibt, zwei Europa-League-Achtelfinal-Heimspiele des HSV gegen den RSC Anderlecht und zwei Kai-Uwe Hesses.

Es wäre die einzig rationale Erklärung für das, was da seit gestern Abend auf Bild.de steht:

Um 21.13 Uhr ging der Spielbericht von Kay Fette und Kai-Uwe Hesse zum 3:1-Sieg des HSV gegen Anderlecht online, der heute auch in der gedruckten “Bild” steht.

Darin:

Zweite gute Nachricht: Paolo Guerrero (26/Kreuzbandriss) ist wieder da! Nach vier abgebrochenen Flugversuchen wegen Flugangst landet der Stürmer gestern in Hamburg, schaut sich ab der 2. Hälfte das Spiel im Stadion an.

Sogar ein Foto des Rückkehrers hatte es in die Bildergalerie geschafft:

Ein alter Bekannter hat auch den Weg von Peru bis ins Stadion gefunden: Paolo Guerrero, der wegen seiner Flugangst in Lima festsaß.

So weit, so richtig.

Mehr als zwei Stunden später, um 23.25 Uhr, veröffentlichte Bild.de einen Artikel von Kai-Uwe Hesse und Carmen Kayser, der sich ausschließlich mit der etwas schwierigen Rückreise Guerreros aus Peru beschäftigt.

Dort heißt es:

Er verschwand am Flughafen durch einen Nebenausgang, ließ sich von einem Freund abholen und nach Hause bringen. Auf einen Besuch des Anderlecht-Spiels verzichtete er.

Vielleicht doch ein Fall fürs “Mystery”-Ressort von Bild.de.

Inwiefern Guerreros Reise “ein geheimer 15-Stunden-Trip” war, wie Bild.de behauptet, ist auch nicht ganz klar: In der TV-Übertragung des Spiels auf Sat.1 hieß es bereits recht früh, dass Guerrero im Stadion erwartet werde.

Mit Dank an Frank D., Oliver M., Daniel S., W.S. und Andreas.

Hinweis/Korrektur, 13.19 Uhr: Das musste ja abfärben: Jetzt hatten wir Paolo Guerrero doch ernsthaft erst “Paulo” genannt in der Überschrift. Jetzt stimmt’s.

20.35 Uhr: Und die Europa League hatten wir auch falsch geschrieben. Entschuldigung!

AP  

Wal mit Bart aus dem Internet

Dieses Internet ist wirklich praktisch: Da “tauchen” einfach so Videos “auf”, die man dann weiterverarbeiten und als Videos ins Internet stellen kann. Man braucht also eigentlich nur ein paar Mitarbeiter, die den ganzen Tag die gängigen Videoplattformen (also: YouTube) im Auge behalten.

Zum Beispiel im Fall von Dawn Brancheau, der Tiertrainerin, die im Freizeitpark Seaworld in Orlando, Florida von einem Wal getötet wurde: Da sind die Mitarbeiter von Associated Press jetzt “im Internet” auf ein Video gestoßen, das den Angriff des Schwertwals zeigen “soll”, wie die Off-Sprecherin extra betont — so ganz sicher kann man sich ja auch nie sein bei diesem Internet.

Beispielsweise bei “RP Online” kann man sehen, was sich “vor den Augen der geschockten Besucher” abgespielt haben soll:

Wal im Wasser

Wal im Wasser

Wal im Wasser

Und tatsächlich ist genau dieses Video erst am 3. März bei YouTube online gestellt worden.

Nur: Das Video schwirrt schon sehr viel länger durchs Internet. Es stammt nämlich von einem Zwischenfall Ende Juli 2004 im Seaworld-Park von San Antonio, Texas, als ein kahlköpfiger Tiertrainer (Dawn Brancheau war vom Wal an ihrem Pferdeschwanz gepackt worden) von einem Orca angefallen wurde, den Angriff aber unverletzt überstand.

Bei MSNBC.com kann man noch heute sehen, wie das damals aussah:

Wal im Wasser

Wal im Wasser

Wal im Wasser

Das gleiche angeblich neue Video war wohl zwischenzeitlich auch bei dnewsvideo.de zu sehen gewesen, ist aber inzwischen verschwunden. Das echte Video von dem Zwischenfall soll auf Wunsch der Familie der Verstorbenen übrigens unveröffentlicht bleiben.

Vielleicht sollte AP in Zukunft einfach auf Internet-Videos als Quelle verzichten.

Mit Dank an hamena314.

Merian, Politico, Breaking News

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wo Merian draufsteht, ist Mercedes drin”
(meedia.de, Stefan Winterbauer)
Das Sonderheft “Formel 1” der Zeitschrift “Merian”: Während der Mediendienst “Meedia” noch am Dienstag “mit ihrem Formel eins-Heft kehrt die Chefreaktion zu ihren journalistischen Wurzeln zurück” urteilte, schrieb Stefan Winterbauer am Donnerstag: “Das fertige Zeitschriften-Produkt allerdings dürften auch Profis kaum von einem Kundenmagazin unterscheiden können.” Lesenswert dazu ist auch der Beitrag von Manfred Scharnberg auf freelens.com.

2. “Woher wusste ‘Bild’ vom ‘Fall Käßmann’?”
(sueddeutsche.de, Antje Hildebrandt)
Die Staatsanwaltschaft Hannover erhält vier Strafanzeigen wegen Geheimnisverrats, gegen unbekannt. “Adressaten sind aber zumindest in einem Fall die Hannoveraner Polizei und Bild: Ein Hannoveraner Anwalt wirft den Polizeibeamten vor, sie hätten dem Blatt vertrauliche Informationen über den Vorfall gesteckt – angeblich gegen Geld.”

3. Interview mit Jim VandeHei
(focus.de, Leif Kramp und Stephan Weichert)
Einer der Gründer von “Politico”, Jim VandeHei, im Gespräch: “Die Zeitung ist nur ein Ableger, der Kern von ‘Politico’ ist unsere Website. Unser Geheimrezept ist: Baue ein Nachrichtenangebot rund um eine Internetseite auf, nicht um eine Zeitung.”

4. “Wir Medienpraktikanten!”
(laurencethio.de)
Laurence Thio startet eine neue Interviewreihe mit Medienpraktikanten. Zuerst spricht er mit Adrian, der “ein mehrmonatiges Praktikum bei der Produktionstechnik der RBB-Abendschau” gemacht hat. “Ich habe auch mal den Monitor getragen und eingestöpselt oder mal Sachen aus dem Auto geholt. Es lief im Endeffekt aber darauf hinaus, dass ich im Grunde immer nur das Stativ getragen habe.”

5. “Hinter all diesen Türen”
(coffeeandtv.de, Lukas Heinser)
Eine Pressemitteilung der Bremer Polizei, “unglaublich, aber wahr”.

6. “Breaking News”
(theonion.com, Video, 1:53 Minuten, englisch)
“Breaking News” sind in vielen Fällen von zweifelhafter Relevanz. “The Onion News Network” über “Some Bullshit Happening Somewhere”.

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