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Allee: Hopp!

Der Streit um das Verkehrs- und Städtebauprojekt Stuttgart 21 wird längst auch in den Medien ausgetragen. Am Mittwoch etwa erschien in der Stuttgarter Regionalausgabe von “Bild” ein Bericht über eine “Nacht- und Nebelaktion” gegen das Alternativkonzept Kopfbahnhof 21 (K21), bei der Stuttgart-21-Befürworter Flyer mit der Aufschrift “Wir fallen für K21” an 130 Bäumen befestigt hatten:

Plakat-Aktion! Auch bei K21 müssen Bäume weg

Im Text lässt “Bild” dann auch keinen Zweifel daran, dass die Bäume für K21 fallen müssten:

Morgens um 5 Uhr wurden Bäume markiert, die auch für das Alternativkonzept K21 gefällt werden müssten. (…) Die Allee-Bäume sind bis zu 200 Jahre alt.

“Bild” beruft sich dabei ausschließlich auf den Stuttgart-21-Befürworter Lutz Aichele:

Aktivist Lutz Aichele (40): “Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass auch für K21 erhebliche Eingriffe in dem Park notwendig sind. Wenn K21 kommt, muss die Allee sterben.”

Ob die Bäume tatsächlich für das Projekt K21 fallen müssten, hat “Bild” nicht überprüft. Dabei wäre es für eine ausgewogene Berichterstattung das Mindeste gewesen, wenigstens auch der Gegenseite die Gelegenheit zur Stellungnahme zu bieten.

Deshalb hat der ökologische Verkehrsclub Deutschland (VCD) “Bild” inzwischen aufgefordert, den Eindruck, mit K21 müssten die Bäume der Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Allee gefällt werden, zu zerstreuen. In einer Gegendarstellung, die auch BILDblog vorliegt, erklärt der VCD, der maßgeblich an der Entwicklung der Alternativkonzeption Kopfbahnhof 21 beteiligt war und ist, unter anderem:

Das Konzept Kopfbahnhof 21 sieht keine zwei zusätzlichen Gleise durch den Stuttgarter Schlossgarten und im Rosensteinpark vor. Ein Eingriff in den Park zum Schaden der Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Allee war nie und ist kein Bestandteil von Kopfbahnhof 21.

Die These, die Alleebäume müssten für Kopfbahnhof 21 gefällt werden (…) ist eine böswillige Unterstellung und private Meinung des Stuttgart-21-Aktivisten Lutz Aichele. Herr Aichele ist durch umfangreichen Schriftverkehr mit dem VCD über diesen Sachverhalt informiert und wiederholt seine These wider besseres Wissen.

Oder wie es Lutz Aichele, auf Facebook nach seinen Quellen gefragt, lapidar ausdrückt:

Ich mach es wie viele Gegner bei S21, ich gehe auch bei K21 vom “Schlimmsten” aus. Das ist nach momentanem Kenntnisstand nur fair.

Der “Bild”-Artikel endet übrigens mit folgenden Worten:

Bis zum Abend waren viele Hinweis-Zettel schon wieder von den Bäumen abgerissen. Aichele: “Das zeigt das Demokratieverständnis einiger S21-Gegner.”

Es würde von Journalismusverständnis zeugen, wenn “Bild” wenigstens nachträglich auch die andere Seite noch zu Wort kommen ließe.

Mit Dank an den Hinweisgeber.

Nachtrag, 5. November: Lutz Aichele fühlt sich ungerecht behandelt, was den “umfangreichen Schriftverkehr mit dem VCD” angeht. Aus seiner Mail an BILDblog:

Der VCD behauptet einen umfangreichen E-Mailverkehr. (…) Es gab zwei E-Mails vom VCD und ich zitiere ja in meiner Publikation auch daraus. Auf weitere, tiefere Nachfragen erhielt ich vom VCD keinerlei Antworten mehr. Umfangreich ist für mich etwas anderes.

Gorleben, Sport Bild, Schmalkalden

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Die PR der Gorleben-Protestler”
(ndr.de, Video, 6:34 Minuten)
Um “gute Berichterstattung” zu erzielen, kümmern sich Atomkraftgegner um die anreisenden Journalisten, kochen Kaffee, richten Büros ein. Christoph Bautz vom Kampagnenverein “Campact”: “Wir gestalten Aktionen doch immer wieder so, dass sie auch von den Medien entsprechend aufgegriffen werden, entsprechend transportiert werden. Wir schaffen ein Bild, das zum Beispiel gut in der Zeitung dargestellt werden kann, das gut in einem Fernsehbeitrag übertragen werden kann. Beispielsweise eine grosse Castor-Attrappe, mit der wir letzte Woche auf Tour gegangen sind, vom Endlager-Standort Gorleben nach Berlin. Das waren Bilder, die Medien gerne aufgreifen.”

2. Interview mit Christian Jungblut
(freischreiber.de)
Gemäß dem Landgericht Hamburg hat die Zeitschrift “Geo” gegenüber dem freien Journalisten Christian Jungblut “ihr Bearbeitungsrecht überschritten”. Jungblut sieht sich selbst kooperationsbereit und findet es gut, wenn jemand sein Stück gegenliest und sagt: “Hör mal, das habe ich nicht verstanden”. “Wenn mir aber eine redigierte Fassung vorgelegt wird, die ich nur noch abnicken darf, ist das nur noch ein Verwaltungsakt – und keiner möchte gern verwaltet werden.”

3. “Hinter der Freiwilligkeit wartet der Zwang”
(lawblog.de, Udo Vetter)
Udo Vetter kommentiert von der Polizei vorgenommene Speichelproben bei mehreren hundert Fahrzeughaltern. “Nach außen betont die Polizei, jede Speichelprobe sei freiwillig. Wer sie verweigere, mache sich deswegen noch nicht verdächtig. Die Wirklichkeit dürfte anders aussehen. Die Boulevardpresse zeigt schon mal den Weg und fragt, ob der Verweigerer nur ein Querulant ist.” Die Schlagzeile auf Bild.de: “Passat-Fahrer verweigert Polizei Speichel-Probe!”

4. “Kampf der Leserintelligenz (2)”
(el-futbol.de, Sidan)
Sidan liest die aktuelle “Sport Bild”.

5. “2010 State Of The Blogosphere”
(techcrunch.com, Erick Schonfeld, englisch)
Die auf einer Umfrage unter 7200 Bloggern basierende Präsentation “State Of The Blogosphere” für 2010 ist erschienen.

6. “Er entkam dem Erdloch in Thüringen!”
(medienrauschen.de, Thomas Gigold)
Ein Schlagzeilen-Quiz zum Erdloch in Schmalkalden (BILDblog berichtete).

Fritzl, Eichel, Street View

6 vor 9

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1. “‘Bild’-Interview mit Josef F.: ‘Faszination des Bösen'”
(diepresse.com, Anna-Maria Wallner)
Ein “Bild”-Reporter führt in der Justizanstalt Stein ein Interview mit Josef Fritzl und dreht dazu ein Video. Wie das Wiener Justizministerium mitteilt, habe die zuständige Vollzugsdirektion für das in der Verhörzone entstandene Gespräch kein Gesuch erhalten und auch keine Bewilligung erteilt.

2. “Hans Eichel, der Oberschurke”
(sueddeutsche.de, Claus Hulverscheidt)
Anders als “Bild” glaubt Claus Hulverscheidt nicht, dass der frühere Finanzminister Hans Eichel Hauptverantwortlicher für die Folgen des griechischen Euro-Beitritts ist.

3. “Wie der ‘Bundesverband der im Haushalt helfenden Männer’ die faule Presse narrte!”
(wasmitmedien.de, daniel)
Ein Gespräch mit Dirk Emig (auch als Audio), der vor rund zehn Jahren zusammen mit einem Kollegen die Website bdhm.de.vu aufsetzte und damit dem nicht existierenden “Bundesverband der im Haushalt helfenden Männer” Nachdruck verlieh. Die beiden wollten damit beweisen, “dass man mit einer skurrilen Geschichte, angereichert mit dem Konflikt Mann-Frau, ein bisschen Sex dazu, ein paar krude Thesen, wirklich einen Selbstläufer produzieren kann.”

4. “Manege frei!”
(journalist.de, Ralf Geißler)
Ralf Geißler schreibt über die immer aufgeregter daherkommenden “Medienskandale”: “Mit einigen Jahren Abstand staunt das Publikum oft, warum es sich einst so aufgeregt hat. Trotz BSE essen die Deutschen heute wieder unbesorgt Rindfleisch. Sie tanken seit der An-Land-Entsorgung der Ölplattform Brent Spar wieder bei Shell und fahren durch den Wald, der nach den apokalyptischen Szenarien der 80er Jahre längst verschwunden sein müsste. Weiß eigentlich noch jemand, wie ansteckend die Lungenseuche SARS ist?”

5. “Die Handschrift des Reporters”
(magda.de, Wolfgang Michal)
Wolfgang Michal kommentiert ein Urteil des Landgerichts Hamburg. Die GEO-Redaktion habe bei der Redigatur eines Text des freien Journalisten Christian Jungblut “ihr Bearbeitungsrecht überschritten”. “So manche Redaktion hat sich in den letzten Jahren angewöhnt, Texte freier Autoren als bloßes ‘Materialangebot’ zu betrachten, als ‘Rohmasse’, die ohne Rücksicht auf Stil und individuelle Herangehensweise eines Autors verformt werden darf. Diese Fehlentwicklung wird im Urteil des Landgerichts deutlich benannt und kritisiert.” Siehe dazu auch “Gericht erklärt ‘Geo’: Autoren haben Rechte” (stefan-niggemeier.de).

6. “Germany, what have you done?”
(buzzmachine.com, Jeff Jarvis, englisch)
Jeff Jarvis zum Datenschutzwahnsinn der Deutschen in Sachen Google Street View: “This is not a matter of privacy. And don’t tell me it has a damned thing to do with the Nazis and Stasi; that’s patently absurd. If anything, the Stasi would have exercised their Verpixelungsrecht to obscure their buildings from public view, taking advantage of the cloak of secrecy the idea provides.”

Die zehn Stadien der Exklusivität

“Google Street View” ist böse, daran ließen “Bild” und Bild.de keinen Zweifel: Mit merkwürdigen Methoden, falschen Fotos und Argumenten schürten die beiden Medien die Bedenken und Ängste einiger Deutscher vor Googles Straßenfoto-Dienst.

Und heute dann das:

Google Street View exklusiv bei Bild.de: Wandern Sie durch die Stadien der Bundesliga

“Exklusiv” zeige Bild.de diese ersten Bilder, schreibt Bild.de gleich mehrfach.

Andererseits schreibt Bild.de auch:

Und so funktioniert’s: Nach Klicken des Banners öffnet sich ein Pop-Up-Fenster. An der rechten Seite können Sie das Stadion ihrer Wahl aussuchen. Oder Sie gehen direkt auf die Street View–Seite von Google.

Und das ist natürlich eine tolle Sache: Google Street View, exklusiv bei Bild.de und bei Google Street View.

Nachtrag, 12.24 Uhr: Bild.de hat in seinem Startseiten-Teaser das Wörtchen “exklusiv” gestrichen:

Google Street View bei Bild.de: Wandern Sie durch die Stadien der Bundesliga

Im Artikel taucht es aber weiterhin auf.

2. Nachtrag, 14.15 Uhr: Inzwischen sind die Bilder auch im Artikel nicht mehr “exklusiv”.

Die mit den virtuellen Wölfen tanzen

538 Personen empfehlen auf Bild.de diese Story:

Screenshot Bild.de

Was mag es gewesen sein, das die Bild.de-Leser so begeistert hat? Der URL nach …

http://www.bild.de/BILD/news/2010/10/16/video-wolfsrudel-jagt/polizisten-russland-verkehrs-kontrolle.html

… muss es etwas mit Russland, Wölfen, Polizisten und einer Verkehrskontrolle zu tun gehabt haben. Also vermutlich etwa das, was allen kritischen Kommentaren zum Trotz seit dem 15. Oktober auf Blick.ch zu lesen ist:

Screenshot Blick.ch

Screenshot Blick.ch

Dass das über eine Million mal angesehene Video weniger die Wirklichkeit als vielmehr die technischen Fähigkeiten von Viralvideoproduzenten aufzeigt, haben nicht nur aufmerksame YouTube-Nutzer aufgezeigt, sondern auch die Produzenten des Videos selbst.

So sind auf dem YouTube-Kanal der Kampagne für eine Wodka-Marke die insgesamt fünf Viralvideos, das Making-Of-Video und der finale Werbespot zu sehen.

Zeitungen, Basiskartenleser, Chlamydien

6 vor 9

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1. “Unser Mitgefühl gilt den trauernden RTL-Zuschauern”
(dwdl.de, Thomas Lückerath)
Thomas Lückerath kommentiert die Quotenerfolge von RTL mit Scripted Reality. RTL schaffe es, “das Publikum daran zu gewöhnen, nicht mehr zu fragen, was echt ist und was nicht. Was gestellt ist und was nicht. Ein echtes Erfolgsrezept. Der Nachteil: Inhaltliche Kritik perlt immer öfter mit dem Verweis auf die Quote ab. Fast so als sei alles recht, wenn die Quote stimmt.”

2. “Mit angezogener Handbremse”
(scarlatti.de)
In einem Gespräch mit Thomas Mrazek vergleicht Lorenz Lorenz-Meyer die hiesigen Online-Aktivitäten der Verlage mit den Preisträgern US-amerikanischer Online-Journalismus Awards. “Den Luxus multimedialer Formate erlauben sich eigentlich nur die Öffentlich-Rechtlichen, obwohl der Aufwand gar nicht einmal so groß sein müsste, wenn man nicht seine ganzen Ressourcen in den schwachsinnigen Wettlauf um die schnellste DPA-Meldung stecken würde.”

3. “Newspaper Extinction Timeline”
(rossdawsonblog.com, englisch)
Wann werden die Zeitungen in ihrer aktuellen Form bedeutungslos? Dem Beratungsunternehmen “Future Exploration Network” gemäß ist es in den USA 2017, in der Schweiz 2025, in Österreich 2028 und in Deutschland 2030 soweit (PDF-Datei).

4. “Warum ich eine Geschlechtskrankheit vortäuschte”
(korrespondenten.blog.sf.tv, Peter Balzli)
Um für die Gesundheitssendung “Puls” an einen Test-Kit zu kommen, gibt sich der London-Korrespondent des Schweizer Fernsehens als Chlamydien-Patient aus.

5. “Doof, aber gratis”
(internetsoziologie.at, Stephan G. Humer)
Bild.de schreibt in einem Artikel, dass Politiker und Polizei vor “einfachen elektronischen Lesegeräten” für den neuen Personalausweis warnen. Daneben: der Hinweis, dass ein solcher Basiskartenleser “kostenlos der DVD-Ausgabe der Computer-BILD” beiliegt.

6. “Der Boden der Tatsachen …”
(blikeberlin.wordpress.com)
Ein Foto vom Gebäude des Axel Springer Verlags in Berlin: “Ob sich schon mal jemand gefragt hat, ob das Schild auf der richtigen Seite angebracht wurde?”

dapd, dpa  

Symbolfoto LVI

In Schmalkalden ist in der vergangenen Nacht durch einen Erdfall ein Loch von ca. 30 mal 40 Metern entstanden, in dem ein PKW verschwunden ist.

Doch wie sieht so ein Loch aus?

Der dpa-Ticker von Yahoo! News hat diesen Vorschlag im Angebot:

Krater in Thüringen verschluckt Auto

Ein vergleichsweise kleines Loch und ein großer PKW, was? Oder auch einfach ein Foto vom Busunglück in München-Trudering, bei dem im Jahr 1994 drei Menschen ums Leben gekommen waren.

Eine Meldung der Nachrichtenagentur dapd, die auf verschiedenen Portalen zu finden ist, macht mit diesem Foto auf, das sicher auch nicht den Krater von Schmalkalden zeigt:

Mit Dank an Andreas F., Joachim H. und Gregor K.

Nachtrag, 3. November: dpa-InfoLine erklärte uns auf Anfrage, dass man die falsche Bebilderung dort sehr schnell bemerkt habe, aus technischen Gründen aber auf der Yahoo!-Seite keine Korrekturen mehr habe vornehmen können.

Der ewige Manager

Im Onlinejournalismus läuft es normalerweise so ab: Ein Autor, der im Idealfall Ahnung von dem hat, worüber er schreibt, liefert einen Artikel ab, dann guckt ein Online-Redakteur kurz über den Text und schreibt eine Überschrift und einen Vorspann, der mal mehr, mal weniger mit dem Inhalt des Artikels zu tun hat.

Bei sueddeutsche.de ist es heute umgekehrt:

Hoeneß geht auf van Gaal los. "Ein Fußball-Verein darf heutzutage keine One-Man-Show mehr sein": Uli Hoeneß kritisiert Bayern-Trainer Louis van Gaal - weil der einfach nicht auf den Präsidenten hören will. Dazu kommt eine neue schwere Verletzung von Olic.

Daran ist noch nichts falsch. Aber falsch geht es weiter:

Bayern Manager Uli Hoeneß ist sauer auf Meistertrainer Louis van Gaal - und macht seinem Ärger öffentlich Luft:

Bayern-Manager Uli Hoeneß (re.) macht seinem Ärger auf Trainer Louis van Gaal (li.) öffentlich Luft.

Uli Hoeneß ist schließlich schon seit elf Monaten nicht mehr Manager, sondern Präsident des FC Bayern.

Mit Dank an Robert.

Nachtrag, 2. November: sueddeutsche.de hat die beiden hier abgebildeten Stellen korrigiert — aber einen dritten “Manager” übersehen:

Durch ironische Kommentare zum 4:2-Erfolg gegen den SC Freiburg verdeutlichte der Manager, um welche Spieler es sich unter anderem handelt

Tatort Internet, Das Medium, Hans Zippert

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Irreführung als Programm”
(spiegel.de, Dietmar Hipp)
Dietmar Hipp schreibt zur RTL2-Sendung “Tatort Internet”: “Auch wenn der Kampf gegen Kindesmissbrauch eine honorige Sache ist – das erklärte Hauptanliegen der Sendung, die sexuell motivierte Kontaktanbahnung im Internet unter Strafe zu stellen, ist bereits seit 2004 erledigt.”

2. “Halloween im Hause Barschel”
(stern.de, Katharina Miklis)
Katharina Miklis hat sich die RTL-“Emotainment-Doku” “Das Medium” angesehen. “Auf dem Programmplatz, auf dem RTL bis vergangene Woche noch Schwiegertöchter suchte, wird nun also das Gespräch mit Verstorbenen gesucht. So weit, so geschmacklos. Hinzu kommt, dass der Sender sich noch nicht einmal die Mühe gemacht hat, den Hokuspokus ordentlich zu produzieren. Einer der Beiträge wird mitten im Satz unterbrochen.”

3. “Das Märchen vom indischen Milliardenhaus”
(kobuk.at, Hans Kirchmeyr)
Hans Kirchmeyr prüft die Baukosten eines Gebäudes, das die Zeitung “Österreich” “das teuerste Haus der Welt” nennt.

4. “Der Medienkrieg mit der Regierung findet im Netz statt”
(journal21.ch, Ulrich Meister)
Ulrich Meister stellt die französischen “Internet-Zeitungen” Mediapart und Rue89 vor: “Beide Medien zahlen ihren Journalisten branchenübliche Löhne. ‘Mediapart’ hat gegen 30 Angestellte, die zwischen 2300 und 6500 Euro im Monat verdienen. Bei ‘Rue89’ arbeiten 20 Festangestellte. Mediapart hat bereits über 40’000 Abonnenten, die Zahl ist steigend. Um rentabel zu sein, fehlen noch etwa 15’000 neue Subskriptionen.”

5. “nebelkerzen”
(wirres.net, Felix Schwenzel)
Felix Schwenzel ärgert sich über Dogmatiker (“regelaufsteller-arschlöcher”), die “für ihre kurzfristigen ziele hysterie provozieren und von den eigentlichen problemen und missständen ablenken”. Das geschehe nach einem auch bei Politikern beliebten Muster: “ängste oder unsicherheiten aufspüren, diese ängste aufblasen, ohne interesse an details diese unsicherheiten aufputschen und mit der prinzipienkeule einfach überall draufhauen.”

6. “Der Tag, an dem mich der Schlag traf”
(welt.de, Hans Zippert)
Hans Zippert erleidet an einem sonnigen Frühlingsmorgen einen Schlaganfall und fällt vom Fahrrad. “Schließlich tauchten zwei Polizisten auf und wollten wissen, ob ich betrunken sei. Das schien vormittags um 11.00 Uhr in Berlin die Regel zu sein. Die hätten lieber die Sache mit dem Arm aufklären sollen, aber das konnte ich ihnen nicht sagen, denn meine Zunge gehorchte mir genauso wenig wie mein Arm.”

dpa  etc.

Hilfe, die Mohammedaner kommen!

Wenn deutsche Medien in diesen Tagen melden, dass “Mohammed” in England und Wales zum beliebtesten Vornamen neugeborener Jungen aufgestiegen ist, dann ist das nicht nur eine dieser belanglosen Statistiken auf den vermischten Seiten. Wie eine solche Nachricht bewertet wird und auf welchen Nährboden sie fällt, zeigt beispielhaft ein Leserkommentar dazu auf “Welt Online”:

Bevor es in Deutschland zu Ähnlichem kommt - handeln! Revolution - noch heute!

(Die Zahlen neben den kleinen Handzeichen bedeuten übrigens, dass 1168 Lesern dieser Kommentar gefallen hat und nur 78 nicht.)

Die Nachricht selbst steht fast überall, und sie mag zwar die Überfremdungsängste von Thilo Sarrazin und seinen Anhängern bestätigen, aber sie ist falsch. Ihren Ursprung hat sie in der konservativen britischen Tageszeitung “Daily Telegraph”. Unter der Überschrift “Mohammed, der (geheime) Lieblingsname des Landes” berichtete sie, dass die offizielle Vornamenstatistik, wonach die meisten 2009 geborenen Jungen “Oliver” genannt wurden, die “Wahrheit” verschleiere. Wenn man alle unterschiedlichen Schreibweisen von “Mohammed” (also etwa Muhammad oder Mohammad) zusammenzähle, rücke nämlich der Name des islamischen Propheten vom 12. Platz an die erste Stelle.

Nun ist das an sich schon nicht so spektakulär und signifikant, wie es scheint, weil viele Moslems traditionell ihren erstgeborenen Sohn “Mohammed” nennen – in nicht-muslimischen englischen Familien gibt es keine entsprechende Präferenz. Daher suggeriert die Häufung eine stärkere islamische Dominanz als Realität ist.

Und wenn der “Daily Telegraph” schon alle verschiedenen Schreibweisen von “Mohammed” zusammenfasst, um die “Wahrheit” abzubilden, muss er das natürlich auch mit den anderen Namen in der Statistik machen. Das hat er aber nicht. Es reicht schon, alle “Olivers” und “Ollies” zusammenzufassen, um die verschiedenen “Mohammeds” wieder zu überholen. Auch “Harry” und “Henry” sind zusammengenommen populärer.

Blind und blöd haben dennoch die deutschen Nachrichtenagenturen dpa (“Mohammed ist beliebtester Vorname in England”) und AFP (“Mohammed steigt in England zum beliebtesten Jungennamen auf”) die falsche Rechnung übernommen. Auch die “Rheinische Post” behauptet, dass “erstmals ein ganz unbritischer Name auf der Insel an die Spitze der Hitliste für Jungennamen gerückt” sei, “Bild” und “Spiegel Online” haben die Meldung natürlich auch übernommen.

Der Zahlentrick ist übrigens alt: Auch im vergangenen Jahr hat der “Telegraph” schon auf dieselbe Weise den bösen arabischen Namen künstlich nach vorne katapultiert, und schon 2007 übernahm AFP die Milchmädchenrechnung aus der “Times” und behauptete, Mohammed sei bald der beliebteste Vorname. Die beiden ersten “Welt Online”-Leser-Kommentare lauteten damals: “Rette sich wer kann” und “Das macht wirklich Angst”.

PS: Nach Berechnungen des Watchblogs “Tabloid Watch” hatten die “Mohammeds” in ihren verschiedenen Schreibweisen 2009 einen Anteil von 2,08 Prozent an allen neugeborenen Jungen in England und Wales. Im Jahr zuvor waren es 2,09 Prozent.

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