Manchmal passieren in deutschen Zeitungsredaktionen erstaunliche Fehler. Dass im Kölner “Express” Anfang des Jahres eine große sechsteilige Serie von Artikeln erschien, in denen jeweils, ohne jede Kennzeichnung, ein Fitnessprogramm namens “fitmio” beworben wurde …
… das ist der Ressortleitung bzw. Chefredaktion des Blattes leider erst nach Abschluss der Serie aufgefallen. Natürlich hätte man dem Leser kenntlich machen müssen, dass es sich um ein Programm handelte, das von einem Unternehmen des Verlages M. DuMont Schauberg vermarktet wurde, teilte die Rechtsabteilung dem Presserat mit. Dass dieser Hinweis ausgeblieben sei, betrachte man selbst als ärgerlichen und bedauerlichen Fehler.
Online seien die Berichte sofort nach Bekanntwerden entsprechend gekennzeichnet worden. Der Presserat fasst die Zerknirschtheit mit den Worten zusammen:
Der Fehler sei der Redaktion bewusst und intern mit allen Verantwortlichen erörtert worden. Man gehe davon aus, dass alle Beteiligten daraus gelernt hätten.
Der Presserat, bei dem wir uns beschwert hatten, sah in der Veröffentlichung einen Verstoß gegen das Gebot, Redaktion und Werbung klar zu trennen. Er verwies auf Ziffer 7 des Pressekodex, in der es heißt:
Bei Veröffentlichungen, die ein Eigeninteresse des Verlages betreffen, muss dieses erkennbar sein.
Auch im “Kölner Stadt-Anzeiger”, ebenfalls ein Schwesterblatt von “fitmio”, erschienen Anfang des Jahres mehrere scheinbar redaktionelle Beiträge zum Thema Fitness und Abnehmen, die für “fitmio” warben. Die Rechtsabteilung des Verlages argumentierte hier aber anders: In der Beschreibung des Programms sei ausdrücklich erwähnt, dass es “in Zusammenarbeit mit der Deutschen Sporthochschule und dem Anti-Diät-Club angeboten” werde. Und den “Anti-Diät-Club” des “Kölner Stadt-Anzeigers” gebe es schon seit 2005; er sei den Lesern bestens bekannt und mit dem “Kölner Stadt-Anzeiger” untrennbar verbunden. Durch die Erwähnung des “Anti-Diät-Clubs” wüssten “Stadt-Anzeiger”-Leser, dass es sich bei “fitmio” um ein Angebot der Zeitung handele.
Der Presserat fand das nicht überzeugend und sah auch hier einen Verstoß gegen Ziffer 7 des Pressekodex. “Um dem Leser klar zu verdeutlichen, dass ein Eigeninteresse des Verlages an den Veröffentlichungen vorliegt und somit die Beiträge einen kommerziellen Charakter haben, hätte es eines eindeutigen Hinweises bedurft.” Dieser sei lediglich in einem Artikel vorhanden gewesen (Ausriss rechts), der deshalb auch nicht kritisiert wurde.
Der Presserat erteilte dem “Kölner Stadt-Anzeiger” einen “Hinweis”; beim “Express” sprach er eine “Missbilligung” aus.
Die “Maßnahmen” des Presserates:
Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:
einen Hinweis
eine Missbilligung
eine Rüge.
Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.
1. “BILD-Studientrilogie: Nicht die Ereignisse bestimmen die Berichterstattung, sondern die eigene Vorhersage” (carta.info, Wolfgang Storz und Hans-Jürgen Arlt)
Wolfgang Storz und Hans-Jürgen Arlt stellen den Journalismus der “Bild”-Medien als “Kanonenfutter für die Rendite” dar, er werde nicht als “respektables Handwerk, dessen Regeln den Geschäften Grenzen setzt”, betrieben: “Pressefreiheit wird als Gewerbefreiheit verstanden, journalistische Unabhängigkeit als Möglichkeit missbraucht, die eigenen Interessen ohne Rücksicht auf alles andere zu bedienen.”
2. “Informationen, fünf mal aufgekocht bitte” (malguckenwielangeichblogge.blog.de)
Berichterstattung, die basiert auf einer kurzen Medienmitteilung des Managements von Michael Schumacher, zum Beispiel auf n-tv.de: “Der einzig relevante Artikel ist derjenige, in dem die Pressemitteilung seiner Managerin im Wortlaut geschrieben wird. Alles andere ist für das Klickvieh unter den Internetusern, die tatsächlich daran glauben, hinter den fünf verschiedenen Links fünf verschiedene Inhalte zu finden.” Siehe dazu auch “RTL Aktuell Spezial: ‘Schumacher ist sicher nicht in einem ganz top-fitten Zustand'” (faz.net, Stefan Niggemeier).
3. “Wie ich Frank Schirrmacher nicht kennenlernte” (kutter.antville.org)
Der Kutter schreibt zum Tod von Frank Schirrmacher: “Manche Nachrufe auf Schirrmacher lesen sich wie Heiligsprechungen. Mir persönlich bleibt er weniger als Großfeuilletonist, Thesenmaschine, Debattenanzettler oder Ausnahmezustands-Apokalyptiker in Erinnerung, sondern als jemand, dem die Entdeckung abseitiger Adressen diebische Freude bereitete und dem seine Begeisterung auch für kleine Albernheiten nicht zu schade war.”
4. “Die Ambivalenz, die geistige Überlegenheit in sich trägt” (ueberschaubarerelevanz.com)
Muriel Silberstreif findet den FAZ-Nachruf auf Frank Schirrmacher von Edo Reents, “Ein sehr großer Geist”, etwas übertrieben: “Ihr dürft es mir gerne sagen, wenn ihr es anders seht, aber mir kommt dieses intellektuelle Säbelgerassel schon äußerst armselig vor, und ich kenne Frank Schirrmacher wie gesagt nicht, und habe aus den geringen Erfahrungen mit seinem Werk schon ehrlich gesagt den Eindruck gewonnen, dass er mit mir nicht viel gemein hatte, aber ich zumindest würde mich gleich noch ein paar Meter tiefer in den Boden schämen, wenn ich wüsste, dass jemand nach meinem Tod so prahlerischen Mist über mich schreiben würde.”
6. “The Fog Machine of War” (nytimes.com, Chelsea Manning, englisch)
In einem Gastbeitrag schreibt Whistleblower Chelsea Manning über in die US-Armee eingebettete Journalisten. “Reporters naturally fear having their access terminated, so they tend to avoid controversial reporting that could raise red flags.”
1. “BamS klaut und kämpft für Franz gegen die FIFA-Russenmafia” (jensweinreich.de)
Jens Weinreich schreibt zur gestrigen Titelgeschichte der “Bild am Sonntag”, “Der FIFA-Boss und die Russen-Mafia”: “Sieht man von einigen falschen Details und aufgeblasenen Formulierungen (‘heißt es aus deutschen Sicherheitskreisen’) ab, die wohl eher nicht stimmen, dann hat BamS im Grunde nur abgeschrieben und in pubertäre Zusammenhänge gebracht, was im Herbst 2008 in diesem Blog ‘exklusiv’ vermeldet wurde.”
2. “‘Bild’ stürzte Wulff mit einer Falschmeldung. Das kümmert aber keinen.” (stefan-niggemeier.de)
“Ist es nicht bemerkenswert, dass Wulff am Ende durch eine Falschmeldung der ‘Bild’-Zeitung zu Fall gebracht wurde?”, fragt Stefan Niggemeier zum Rücktritt von Christian Wulff am 17. Februar 2012. “Offenbar nicht. Kaum jemand hat darüber berichtet.”
3. “Vernarrt in die Verfehlung” (zeit.de, Ursula März)
Das RTL-Boulevardmagazin “Exclusiv”, moderiert von Frauke Ludowig: “Die Zeiten, in denen Boulevardfernsehen nichts anderes vorhatte, als erstaunliche oder mondäne Geschichten aus der Starwelt zu erzählen, sind wohl passé. Die Sprache, die in Exclusiv gesprochen wird, erinnert vielmehr an eine Untersuchungskommission, die ihre Arbeit aufnimmt, weil sie einer bösen Vermutung auf den Grund gehen muss.”
4. “Putins Trolle” (sueddeutsche.de, Julian Hans)
Julian Hans wertet “interne Dokumente und E-Mails leitender Mitarbeiter” einer “Agentur zur Analyse des Internets” mit rund 600 Mitarbeitern in St. Petersburg aus, “die eine Gruppe anonymer Informanten im Internet zugänglich gemacht hat”.
5. “‘Nach Kuh-Schweizer-Deutsch darf es ja dann auch nicht klingen'” (tagesanzeiger.ch, Simon Knopf)
Urs Fitze, Bereichsleiter Fiktion des Schweizer Fernsehens, nimmt Stellung zur Frage, warum der Schweizer “Tatort” die schlechtesten Quoten einfährt. “Die ARD möchte, dass man das Schweizerische auch in der Synchronfassung hört. Für uns bedeutete dies aber einen Spagat. Nach Kuh-Schweizer-Deutsch darf es ja dann auch nicht klingen. Also müssen wir subtil arbeiten. Die Schauspieler sprechen Hochdeutsch, sagen aber ‘Grüezi’ oder verwenden Helvetismen wie Pneu oder Trottoir.”
6. “Bloomsday 2009” (youtube.com, Video, 46:44 Minuten)
Ein Zusammenschnitt von Szenen, die am 16. Juni 2009 im deutschen Fernsehen zu sehen waren. Siehe dazu auch “Die Tour kann beginnen: Bloomsday 2014” (fernsehkritik.tv, Fernsehkritiker).
Am Sonntagnachmittag ist vor dem Hamburger Hauptbahnhof ein Mann niedergestochen worden. Er starb wenig später an seinen Verletzungen. Der Täter wurde kurz nach der Attacke in der Nähe des Hauptbahnhofs festgenommen.
Zufällig war auch ein freier Fotograf vor Ort, der einige der Szenen mit seiner Kamera festhielt. Veröffentlicht wurden seine Fotos am Dienstag in der “Bild”-Bundesausgabe, der “Bild Hamburg” und bei Bild.de.
So sah die gedruckte Version (blatthoch auf Seite 3 der Bundesausgabe) aus:
Die Beschreibung des großen Aufmacherfotos lautet:
Das blutüberströmte Opfer sitzt am Boden, die Klinge steckt in seinem Bauch. Direkt hinter ihm: der Messerstecher (blaue Jacke). Geschockte Passanten beobachten die Szene, darunter auch Kinder.
Und zu sehen ist — genau das. Die Augenpartie des sterbenden Mannes ist unkenntlich gemacht worden (in der Online-Version auch die Messerklinge in seinem Bauch), alles andere aber nicht. Im Text erfährt der Leser im Grunde nur, dass ein Mann niedergestochen, der Täter festgenommen und ein Haftbefehl wegen Mordes erlassen wurde.
Selbst für “Bild”-Verhältnisse ist das eine außerordentlich drastische Darstellung von Brutalität und Leid; entsprechend viele Leser empörten sich darüber bei uns oder in den sozialen Medien.
Wir wollten wissen, wie es zu den Fotos gekommen ist und wie sie in der “Bild”-Zeitung gelandet sind — darum haben wir dem Fotografen ein paar Fragen gestellt.
Er erklärte uns, er arbeite neben der Schule als freier Fotograf und sei an jenem Tag mit einem Kollegen auf dem Weg zur S-Bahn gewesen, als sie eine kurdische Demo entdeckten. Aus journalistischer Neugier seien sie
dort hingegangen, und ich habe angefangen, mit meiner Kamera, die ich fast immer bei mir habe, zu fotografieren.
Plötzlich gab es einen Tumult hinter der Demo, viele bewegten sich dorthin. Für mich war der Grund nicht sofort erkennbar, und so bewegte ich mich ebenfalls aber schnell dort hin. Das erste, was ich wahrnahm, war ein Mann, der offenbar verletzt auf dem Boden zusammensackte. Intuitiv hab ich dann angefangen zu fotografieren, da ich vermutete, dass das Ganze mit der Demo zu tun hatte, vielleicht eine heftigere Schlägerei nach einer Meinungsverschiedenheit, was bei Demos ja durchaus mal vorkommen kann.
Die Menschen drumherum waren sehr erregt, und ich habe weiterfotografiert, bis ich das Messer im Bauch des Mannes entdeckte. Meiner Erinnerung nach war ich kurz geschockt, dann kamen ziemlich schnell die ersten Beamten der DB-Sicherheit, drängten die Passanten weg, und auch die Bundespolizei tauchte auf, während sich die ersten Passanten bereits um den Verletzten kümmerten. Ich habe dann noch weitere herbeigeeilte Beamte der Bundespolizei und DB-Sicherheit beobachtet, wie diese die Passanten hektisch nach dem Täter fragten, und, als sie in Richtung St. Georg liefen, bin ich ihnen gefolgt und habe auch die Festnahme fotografiert und dokumentiert.
Trotz all der Schrecklichkeit dieses Ereignisses und der Anteilnahme, die ich hiermit ausdrücklich allen Beteiligten und Angehörigen ausspreche, war es für mich Teil meiner journalistischen Arbeit. So abartig das in dem Zusammenhang klingt. Fotografen dokumentieren das, was geschieht. Dass im Kontext einer Demonstration ein Mensch attackiert wird (auch wenn wir mittlerweile wissen, dass es nichts mit der Demonstration zu tun hatte), ist definitiv bedeutsam und ist es wert, dokumentiert zu werden. Ähnliche Bilder entstanden vieltausendfach in anderen Konflikten — seien sie militärischer oder ziviler Natur gewesen — und dokumentieren Zeitgeschehen, auch wenn man sie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung vielleicht noch nicht so eingeschätzt hat.
Ich bin eigentlich sogar sehr froh darüber, dass ich dank der Demo bereits im “Arbeitsmodus” war und das ganze nicht als Privatperson wahrgenommen habe, weil es für mich eine wichtige Distanz bedeutet, die mich im Nachhinein persönlich auch sehr geschützt hat, wie übrigens bei einigen anderen Ereignissen, die ich schon dokumentiert habe, auch.
Das heißt nicht, dass ich als Mensch keine Emotionen habe oder kein Mitgefühl. Ich bin trotzdem der gleiche Mensch wie vorher, nur um ein paar Erfahrungen reicher. Leider gibt es viele Menschen, die voreilig Schlüsse über mich als Privatperson ziehen, anhand der Bilder, die während meiner Arbeit und aus der Distanz heraus entstanden sind. Viele Berufe, die mit menschlich schweren Schicksalen umgehen müssen, brauchen diese professionelle Distanz: Ärzte, Sanitäter etc., also auch Journalisten.
Und wie sind die Fotos in der “Bild”-Zeitung gelandet?
Der Fotograf erklärte:
Die BILD ist in Hamburg immer noch eine der großen Abnehmer, und ich habe die Fotos, wie bei freien Fotografen üblich, den Medien angeboten. Nicht nur und einzig der BILD, aber zu allem Weiteren werde ich professionelles Stillschweigen bewahren, da ich auch in Zukunft noch als Fotograf arbeiten möchte, auch wenn ich natürlich weiterhin und situationsabhängig selbst entscheide, wer, wie und wo meine Fotos nutzt oder nutzen und verbreiten darf. Vielleicht werde ich in Zukunft anders handeln bei der Verbreitung meiner Bilder. Meine persönliche Meinung, zu welchem Medium auch immer, versuche ich übrigens in solchen Momenten professionell zurückzuhalten.
Wir wollten wissen, ob er es in Ordnung findet, das Foto des sterbenden Mannes (so) zu zeigen, darauf schrieb er:
Was ich persönlich ganz und gar nicht in Ordnung finde, ist, dass Passanten, Beteiligte (also auch der Täter) und vor allem auch Kinder so deutlich erkennbar dargestellt und veröffentlicht werden! Allerdings möchte ich nochmal klarstellen, das ich einzig und allein für die Entstehung und das zur Verfügung stellen der Fotos verantwortlich bin. Alles andere ist Sache der jeweiligen Redaktion! Es ist gängige Praxis, dass Fotografen ihre Bilder relativ unbearbeitet und unverändert zur Verfügung stellen und die jeweilige Redaktion diese dann den journalistischen und ethischen Gesetzen und Grundsätzen entsprechend veröffentlicht.
Die Reaktionen, die er auf die Fotos bekommen habe, seien “großteils relativ sachlich” gewesen, doch er habe den Eindruck,
dass viele Personen sich wenig bis gar nicht mit der Arbeit eines Fotojournalisten auskennen, die Situation vor Ort und mich persönlich natürlich noch weniger, und trotzdem ihre Schlüsse auf mich ziehen oder Entscheidungen mich betreffend fällen.
Sein “persönliches Fazit”:
Durch viele zusammenhängende Zufälle habe ich, in dem Moment aus professioneller Distanz, ein schreckliches Ereigniss dokumentiert und diese bildliche Dokumentation verkauft. Diese wurde dann verbreitet. Inwieweit ich Verantwortung für die Art der Verbreitung trage und sie beeinflussen kann (es geht hier um das Unkenntlichmachen von Beteiligten), möchte und kann ich nicht an dieser Stelle klären, für mich selbst werde ich es aber zu gegebener Zeit auf jeden Fall tun, um vor allem für mich und meine Zukunft daraus zu lernen!
Sein “berufliches Fazit”:
Theoretisch hätte die Verbreitung der Bilder ein wenig anders laufen können (!), praktisch ist genau das geschehen, was die Arbeit eines Fotojournalisten bewirken soll: Im besten Fall lösen die Bilder Emotionen bei den Betrachtern aus und stoßen so eine wichtige Diskussion an. Zum Schluss würde ich mir wünschen, dass sich diese Diskussion nun mehr um das eigentliche, schreckliche Geschehen dreht, als um einen Fotografen, der eigentlich nur seine Aufgabe erfüllt hat!
PS: Unseres Erachtens verstoßen “Bild” und Bild.de mit den Artikeln gegen Ziffer 11 (“Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid”) und gegen Ziffer 8 (Schutz der Persönlichkeit) des Pressekodex, darum haben wir Beschwerde beim Presserat eingereicht.
Nachtrag: Der Presserat sieht es auch so und hat “Bild” und Bild.de öffentlich gerügt.
2. “Offener Brief an WELT am SONNTAG, anlässlich des Beitrags ‘Was tun mit Extremisten im Stadtrat?'” (marco-buelow.de)
SPD-Politiker Marco Bülow schreibt einen offenen Brief (PDF-Datei) an Jan-Eric Peters, in dem er sich über die Darstellung der “Vorfälle am Wahlabend des 25. Mai in Dortmund”, wie sie im Artikel “Was tun mit Extremisten im Stadtrat?” in der “Welt am Sonntag” beschrieben sind, beschwert: “Der ganze Ablauf ist nicht nur verzerrt sondern völlig falsch dargestellt worden! Einem Rechtsextremisten der friedlich ohne marodierende Schläger ins Rathaus gekommen wäre, hätte sich niemand in den Weg gestellt, auch wenn er natürlich nicht willkommen gewesen wäre.”
3. “Plöchinger: ‘Die Pöbler hart wegmoderieren'” (derstandard.at, Oliver Mark)
Ein Interview mit Stefan Plöchinger, dem Chefredakteur von Sueddeutsche.de: “Bei uns beschweren sich inzwischen reihenweise Leser über Kommentare anderer Leser. Wir fragen uns: Senden wir die richtigen Signale an die Mehrheit unserer Leser, wenn immer wieder eine Minderheit von Trollen ansetzt, den Raum unter Artikeln für Rüpeleien zu kapern?”
4. “Ringel, Ringel, Reihe” (freitag.de, Axel Brüggemann)
Axel Brüggemann macht sich Gedanken über Recherche-Kooperationen zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Medien.
6. “Gedanken zum Tod von Frank Schirrmacher” (plus.google.com, Wolfgang Blau)
Wolfgang Blau schreibt zum Tod von Frank Schirrmacher: “Ich erinnere mich an Zeiten, in denen er versuchte, mich als digitalen Neo-Liberalen zu brandmarken, doch ich habe ihn immer dafuer bewundert, mit welcher Wucht, aber auch Bescheidenheit er sich bemuehte, das Internet und dessen gesellschaftliche Auswirkungen zu verstehen und anderen zu erklaeren. Er lernte in aller Oeffentlichkeit.”
Falls Sie sich die Zeit bis zum WM-Anpfiff noch damit vertreiben wollen, Ihren Mitmenschen mit belanglosem Fußballhalbwissen auf den Keks zu gehen, bietet die “Bild”-Zeitung von heute eine hervorragende Grundlage.
“Auf dieser Seite werden Sie garantiert klüger”, vespricht das Blatt und kann neben jenen Fakten, die von “Bild”-Lesern vermutlich eher mit Enttäuschung zur Kenntnis genommen werden (Fakt 40: “Busenblitzer sind im Stadion nicht gerne gesehen”), vor allem mit Kuriösitäten aufwarten, zum Beispiel:
Andere deutsche Journalisten haben diese “Namenspanne” auch schon entdeckt, und weil sie sie nicht nur “kurios” finden, sondern auch “peinlich” und “dumm”, können sie gar nicht mehr aufhören, sich in selbstgefälligen Hihi- und Höhö-Passagen darüber auszulassen:
Uncool ist aber die Tatsache, dass Fuleco in der brasilianischen Umgangssprache Arsch bedeutet. Daran hat die FIFA bei der Namensgebung nicht gedacht. Ganz schön blöd.
Vielmehr sorgte die Tatsache für bleibende Schlagzeilen, dass Fuleco in Brasilien umgangssprachlich nichts anderes bedeutet als – man mag es kaum aussprechen – Arsch.
“Fuleco” gibt es als brasilianisches Slangwort längst, nachzulesen auch in Wörterbüchern, wenn man danach sucht, was man als Biologe natürlich nicht tut – es heißt jedenfalls: Anus oder, ja, genau, schlicht und einfach Arsch.
(“Darmstädter Echo”)
In Brasilien klingt Fuleco umgangssprachlich allerdings ähnlich wie “Anus” und wird angewendet wie das deutsche “Arsch”.
(“Neue Westfälische”)
Das erste Eigentor ist schon gefallen, da ist die Weltmeisterschaft in Brasilien noch gar nicht angepfiffen: Denn Anstoß nimmt die Fußballwelt am offiziellen Maskottchen des Turniers, dem eigentlich recht putzigen Gürteltierchen Fuleco. Dessen Name – dieses leicht holprige Zusammenspiel der portugiesischen Vokabeln “futebol” und “ecologica”, ein Kopfball der Kreativen, der mit Wucht auf die tolle Umweltverträglichkeit der WM abzielen soll – ist ja gut gemeint. Aber schlecht gemacht.
Denn leider haben die Kreativen während ihres monatelangen Brain-storming-Exzesses in diversen Arbeitsgruppen eine klitzekleine Kleinigkeit übersehen: Fuleco heißt “Arsch”. Im Slang der Jugend. Man kann also durchaus sagen, dass dieser erste Auftritt des Gastgeberlandes nach hinten losgegangen ist.
Doch leider haben die Journalisten während ihres monatelangen Wir-befüllen-unsere-Seiten-mit-irgendeinem-WM-Quark-Exzesses eine klitzekleine Kleinigkeit übersehen: “Fuleco” heißt nicht Arsch.
Wenn Sie also “noch einen interessanten Fakt zum Angeben beim Eröffnungsspiel brauchen” (Bild.de) — nehmen Sie doch den.
2. “Itzkovitchs Kanone” (blog.tagesanzeiger.ch/deadline, Constantin Seibt)
Im Journalismus treffe die “Meritokratie des Handwerks” (Journalisten) auf die “Meritokratie der Effizienz” (Verlage): “Das heisst, dass einige der ehrgeizigsten Werke der Teppichetage – Synergien, Einsparungen, Kooperationen – von den Journalisten als Sabotage begriffen werden. Während die zentrale Schwäche der Journalisten ist, dass sie kein Geschäft machen wollen, sondern diesen Job.”
3. “Journalisten in der DDR: Der willige Propagandist?” (freiepressevolontaere.wordpress.com, Jürgen Freitag)
Redakteure der “Freien Presse” erinnern sich an ihre Zeit in der DDR. Viola Martin: “Ich musste mal jede Menge Stellungnahmen abgeben, nur weil ich geschrieben hatte, dass es abends in Limbach-Oberfrohna kein Brot mehr gab. Und das stimmte.”
4. “Uberflieger des Journalismus” (gestern-nacht-im-taxi.de, Sash)
Sascha Bors liest Zeitungsberichte zu Taxi-Apps: “Als Fazit bleibt bei mir hängen, dass die Zeitungen wie immer schon die beiden Apps durcheinanderbringen und sich irgendwie auf ‘das Internet’ als Gegner eingeschossen haben. Ein bisschen komisch, wo die Fahrtvermittlung per App – sei es mit taxi.eu durch die traditionellen Zentralen oder mit z.B. MyTaxi als neuem Anbieter – längst einen großen Raum einnimmt. Aber ‘das Internet’ ist ja auch im Journalismus Schuld an allem Übel, wie sollte es beim Taxigewerbe anders sein?” Siehe dazu auch “Was Taxifahrer und Journalisten verbindet” (carta.info, Wolfgang Michal).
5. “Mit dem Zweiten wirbt man besser” (kontextwochenzeitung.de, Jürgen Lessat)
Das ZDF zeigt “industrielle Hackfleischbrötchen” im besten Licht: “Die Kamera wechselte zwischen saftigen Fleischfladen und hübschen Testerinnen, schnelle Schnitte führten von blitzenden Grillküchen auf grüne Kuhweiden, alles untermalt mit flotter Chart-Mucke, die nur abebbte, wenn Experte Müller oder eine verführerische Stimme aus dem Off die Ergebnisse in den sieben Testdisziplinen verkündete. Und damit auch der dümmste Zuschauer kapierte, um wessen Buletten es sich zur besten Sendezeit im Zweiten drehte, wurden die größten in Deutschland tätigen Fast-Food-Ketten der Fernsehnation heiß serviert. Während des 45-minütigen Burger-Duells tauchten die beiden Firmenlogos der Grillkonzerne Dutzende Male auf.”
6. “Hillsborough: Postal staff refuse to deliver free Sun copies” (bbc.com,englisch)
Mitarbeiter der britischen Post weigern sich, eine Sonderbeilage der “Sun” zur Fußball-Weltmeisterschaft auszuliefern, in Erinnerung an die Berichterstattung der Zeitung zur Hillsborough-Katastrophe 1989. “One Royal Mail worker in Skelmersdale said: ‘If they try to make us deliver The Sun on Thursday we will refuse and will be suspended and lose a day’s pay, but we think principles are more important than money.'”
Vor zwanzig Jahren war Mark Pittelkau noch nicht Chefreporter bei der “Bild”-Zeitung. Vor zwanzig Jahren, kurz nach der Wende, war er gerade volljährig, frisch im Westen, arbeitete als Kellner und wollte, wie er selbst erzählt, …
unbedingt Journalist werden. Als Kellner war das schwierig. Ich brauchte eine große Geschichte.
Und die bekam er. Mit Anfang Zwanzig gelang es ihm, den exilierten Erich Honecker in Chile zu treffen. Mehrere Tage lang besuchte er den ehemaligen DDR-Chef und dessen Frau in ihrem privaten Zuhause. Sie verbrachten Zeit miteinander, unterhielten sich, aßen gemeinsam, posierten für Fotos. Pittelkaus große Geschichte.
Sie war seine Eintrittskarte in die Welt der “Bild”-Zeitung. Das Blatt veröffentlichte die Geschichte kurz darauf, im Sommer 1993, als dreiteilige Serie.
“BILD zu Besuch bei Honecker”. Eine Homestory aus dem Exil.
“Bild” wurde nicht müde zu betonen, dass “Bild” damit etwas geschafft habe, was “bisher keinem gelang”; dass Honecker sich “Bild” zum exklusiven Foto stellte, dass er “Bild” exklusive Dinge erzählt habe. “Bild” feierte sich selbst. Dank Mark Pittelkau.
Pittelkau und “Bild” sind heute immer noch stolz auf diese Geschichte. Vor Kurzem, zum 20. Todestag von Honecker, erinnerten sie noch mal feierlich daran, dass “der BILD-Reporter Mark Pittelkau” ja “einer der letzten Gäste des DDR-Diktators” gewesen sei:
Und wie ist es dazu gekommen? Wie hat Mark Pittelkau, der 20-jährige Kellner ohne journalistische Erfahrung, den Ex-Chef der DDR dazu gebracht, in der “Bild”-Zeitung exklusiv die Hosen runterzulassen?
Indem er ihn nach Strich und Faden belog.
Oder, wie Pittelkau es damals formulierte: Mit einer “List”. Er schrieb Honecker mehrere Briefe, in denen er sich als Jungkommunist ausgab und sich eifrig bei Honecker einschleimte — und der fiel darauf rein. Nach und nach gewann Pittelkau das Vertrauen des 80-Jährigen. Bis er schließlich, im Juni 1993, nach Chile fliegen durfte.
Dort angekommen, spielte Pittelkau weiter den harmlosen Freund aus der Heimat. Er kaufte Blumen, sagte an der Tür sein “Sprüchlein vom Jungkommunisten aus Deutschland auf”, und Honecker empfing ihn “mit offenen Armen”.
„Ach, der junge Genosse aus Deutschland … Komm rein!“
So verschaffte sich Mark Pittelkau, der “liebe Genosse Mark Pittelkau”, Zugang zu den “letzten Geheimnissen” von Erich Honecker. So gelangte er auf die Terasse der Honeckers, in ihr Wohnzimmer, an ihren Esstisch. Fünf Tage lang, von Anfang bis Ende, hielt er seine Tarnung — seine Lüge — aufrecht. “Bild” war in Wahrheit also nicht “zu Besuch”, “Bild” ist eingedrungen und hat spioniert.
Sicher: Wallraff macht das auch immer — sich verkleiden, sich irgendwo einschleichen und dann stolz darüber berichten. Aber bei Wallraff geht es um wichtige Dinge. Um Missstände. Um Informationen, die unbedingt an die Öffentlichkeit gehören.
Bei Pittelkau ging es einzig und allein um Honeckers Privatsphäre. Darum, wie er lebt. Wie gesund oder krank er ist. Welche Marmelade er zum Frühstück mag. Wann er seine Mittagsschläfchen hält. Wie oft seine Kinder ihn besuchen. Was in seinem Einkaufskorb liegt. Welche Farbe sein Füller hat. Wie viele Zigaretten seine Frau raucht. Wie oft er pinkeln geht. Alles sorgfältig protokolliert und abgedruckt in der “Bild”-Zeitung. Aussagen zu Politik, zu Privatem, zum Gesundheitszustand, Größe, Gewicht, Adresse, Höhe der Rente, Länge des Rasens, Name des Pförtners — alles. Alles, was Mark Pittelkau in den fünf Tagen aufsaugen konnte.
Verdeckte Recherche ist im Einzelfall gerechtfertigt, wenn damit Informationen von besonderem öffentlichen Interesse beschafft werden, die auf andere Weise nicht zugänglich sind.
Auch deutsche Gerichte verlangen in der Regeln ein erhebliches Informationsinteresse der Öffentlichkeit, wenn es um die Verbreitung rechtswidrig erlangter Informationen geht.
Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum die Honecker-Serie damals anonym erschien. Über den Artikeln stand lediglich: “Von XXX”. (Und vielleicht ist das wiederum der Grund dafür, warum Pittelkau heute so erpicht darauf ist, den Ruhm für damals zu ernten, aber das nur am Rande.)
Jedenfalls dürfte auch Pittelkau gewusst haben, dass er seine Undercover-Recherche irgendwie legitimieren musste, dass sein Artikel einen triftigeren Grund brauchte als die bloße Sensationsgier der Leute. Er schrieb:
Ich wollte wissen: Ist [Honecker] wirklich so krank, wie seine Ärzte behaupten? Oder ist er ein fröhlicher Rentner, der sich auf unsere Kosten einen schönen Lebensabend macht?
Eine “List” im Sinne des Volkes also. Investigativjournalismus zum Schutze des Steuerzahlers.
Und es kann ja tatsächlich sein, dass die deutsche Öffentlichkeit damals unbedingt wissen musste, ob Honecker ihr Geld zum Fenster rauswirft. Aber muss man sich dafür tagelang in sein Leben einschleichen? Muss man eine ganze Artikelserie daraus machen und gnadenlos alles veröffentlichen, was man sieht und hört? Und muss man auch 20 Jahre später immer noch damit rumprahlen?
Pittelkau beantwortete die Frage, ob Honecker “wirklich so krank” sei, damals jedenfalls so:
Nach 5 Tagen verabschiede ich mich von den Honeckers. Erich hat einen festen, klammerhaften Händedruck. Für einen 80jährigen ist dieser Mann trotz seiner Krankheit zweifellos sehr rüstig. Zäh. Mumien sterben langsam.
Am Abend bummle ich allein durch die Gassen von Santiago. Aus kleinen Restaurants schwappt würziger Peperoni-Duft. Ich sehe Straßenmusikanten mit Gitarren und Mädchen in knappen Miniröcken.
Eine beschwingte Stadt. Sie lebt.
Aber oben auf dem Hügel der Millionäre stirbt ein Mann langsam vor sich hin.
Er ist traurig.
Er hat verloren.
Ich gehe in eine Bar und bestelle ein kaltes Bier. Ein Mädchen lächelt mich an.
Verdammt noch mal, das Leben ist so schön (vor 4 Jahren lebte ich noch hinter Honeckers Mauer).
ENDE
Pittelkau hatte damals immer wieder erwähnt, dass Honecker ein “greiser, grauer, krebskranker” Mann sei, dass sein Haus “langsam zu seiner Gruft” werde. Kein Skandal also, keine Verschwendung von Steuergeldern, nur ein sterbender Mann. Elf Monate später war Honecker tot. Und Pittelkau “Bild”-Reporter statt Kellner.
Mich ekelt das an. Dass Pittelkau dermaßen schamlos in die Privatsphäre einer ahnungslosen Familie eingedrungen ist. Und dass er heute immer noch so stolz, ja fast schon amüsiert davon erzählt. Als ginge es um einen Streich oder gar eine journalistische Heldentat — und nicht darum, zur bloßen Befriedigung der Leserneugier, zur Gewinnmaximierung der “Bild”-Zeitung und zum Antrieb der eigenen Karriere das Vertrauen eines alten Mannes zu missbrauchen und sein gesamtes Privatleben bis ins kleinste Detail an die Öffentlichkeit zu zerren.
2. “Die Schlagzeilen-Souffleure” (punktmagazin.ch, Florian Schaffner)
“Journalisten sind auf Leute wie Wigdorovits angewiesen”, schreibt Florian Schaffner zum Einfluss von Kommunikationsarbeitern auf Journalisten am Beispiel von PR-Berater Sacha Wigdorovits: “Laut Kevin Roose, Journalist beim New York Times Dealbook, kommen die grossen Stories, die Primeurs, nur zustande, weil ein Insider aus Eigeninteresse einem Reporter Insiderinfos zusteckt. Dass ein Journalist in Eigenregie etwas aufdeckt, passiere so gut wie nie.”
3. “Manipulierte Nachrichten im Ukrainekonflikt” (tagesspiegel.de, Sonja Álvarez)
Sonja Álvarez stellt die Website Stopfake.org vor: “Finanziert wird die Arbeit von Stopfake.org per Crowdfunding, mehr als 8000 US-Dollar seien bereits gespendet worden.”
4. “Zweite Halbzeit” (sz-magazin.sueddeutsche.de, Gabriela Herpell) Monica Lierhaus wird für Sky Hintergrundgespräche zur Fußball-Weltmeisterschaft führen. “In der ersten Zeit nach der Reha wechselten Leute, die sie erkannten, die Straßenseite, wenn sie Monica Lierhaus in Eppendorf begegneten. Sie konnten nicht damit umgehen, wie beeinträchtigt die Frau war, die sie aus dem Fernsehen kannten. Eines Abends sagte Monica Lierhaus zu Rolf Hellgardt, dass sie sich wie ein Monster fühle und nicht mehr rausgehen wolle. Da wusste Hellgardt, dass sich etwas ändern musste. Er kam auf die Idee, dass sie sich im Fernsehen zeigen sollte. Damit die Leute erfuhren, wie es um sie stand, und sich daran gewöhnen könnten.”
Der frühere Bundespräsident Christian Wulff hat der “Bild”-Zeitung vorgeworfen, die Unschuldsvermutung zu ignorieren. Am Nachmittag stellte er in Berlin sein Buch “Ganz oben – Ganz unten” vor, das die Vorgänge rund um seinen Rücktritt aus seiner Sicht schildern soll. Dabei wies er unter anderem auf einen Bild.de-Artikel hin, der am Tag seines Freispruchs über ihn formulierte: “seit dem 27. Februar gilt er als unschuldig”. Wulff sagte wörtlich:
Das ist verkehrte Welt. Bisher galt jeder als so lange unschuldig, bis er rechtskräftig verurteilt wurde. Inzwischen wird man aber von der “Bild” angeklagt, verurteilt, und erlebt, wie auch ich, die Vollstreckung des Urteils und dessen positive Kommentierung. Und danach muss dann erst der Freispruch im gerichtlichen Verfahren durchgesetzt werden, um als unschuldig zu gelten? Das bin ich nicht bereit hinzunehmen. Gegen diese Art, die Macht der Medien, der vierten Gewalt, auszuüben, setze ich mich zur Wehr. Auch in meinem Buch, denn die Unschuldsvermutung ist ein Menschenrecht, und das darf niemandem entzogen werden. Das geschieht durch eine solche Berichterstattung, in der sich Medien an die Stelle der Justiz, unter Missachtung der Justiz als einer der drei anderen Gewalten, setzen. (…)
Mein Buch ist kein Angriff auf die Medien. Wir haben in Deutschland einen Qualitäts-Journalismus, auf den wir stolz sein können, der im internationalen Maßstab spektakulär ist. (…)
Es gibt jedoch von Verstößen gegen die Verhältnismäßigkeit bis zur vollständigen Ignoranz der Unschuldsvermutung Auswüchse, die nach meiner Überzeugung diskutiert werden müssen. Ich habe den Eindruck, dass sie auf Störungen in der Machtbalance zwischen Politik, Presse und auch Justiz hinweisen. Mein Fall ist dafür exemplarisch.
Im “Spiegel” las ich, Jagdfieber sei ein konstituierendes Element dieser Demokratie. Ich bin nicht dieser Ansicht. Ich halte das Bild sogar für gefährlich. Wenn es so viele Jäger gibt, wer hat dann überhaupt noch Lust, das gejagte Wild zu werden, sprich: sich auf Politik einzulassen? Wenn es für das Gejagtwerden durch die Presse nicht einmal ein paar allgemein akzeptierte Spielregeln gibt, eine Bereitschaft der Medien, nicht nur an andere hohe Maßstäbe anzulegen, bis hinein in den privatesten Bereich, sondern auch sich selbst von Zeit zu Zeit einige kritische Fragen vorzulegen, sie zumindest zuzulassen, und darüber zu diskutieren, ob sich aus meiner Geschichte nicht doch etwas lernen lässt für die Zukunft. Denn ich bin der Überzeugung, mein Fall, meine Geschichte, darf sich in dieser Weise in diesem Land nicht wiederholen.
Wulff lieferte sich mehrere angespannte Wortwechsel mit Peter Tiede, der für die “Bild”-Zeitung in der Pressekonferenz saß. “Als ich die Griffe der ‘Bild’-Zeitung in die untersten Schubladen erlebte über Monate, da fühlte ich mich ganz unten”, sagte er. Er empfahl dem “Bild”-Mann, mal darüber nachzudenken, für wen er da arbeite. Das Buch sei “vor allem für Sie lesenswert”, sagte er in Richtung “Bild”.
Nachtrag, 18:55 Uhr. In einem frei zugänglichen längeren Auszug aus dem Buch schildert Wulff ausführlich die merkwürdigen Umstände einer entscheidenden vermeintlichen Enthüllung der “Bild”-Zeitung. Er spricht von einer “Manipulation” des Blattes. Die Gründe dafür, dass “Bild” vom Wulff-Freund zum Wulff-Gegner wurde, seien “offenbar in meiner Haltung zum Islam und im persönlichen Ehrgeiz ihres Chefredakteurs zu suchen”, schreibt Wulff.
Nachtrag, 20:15 Uhr. An die Journalisten gerichtet sagte Wulff bei der Pressekonferenz auch:
Unterschätzen Sie Ihre Macht nicht. Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel. Sondern seien Sie sich Ihrer Macht bewusst, denn zu viel Macht der Medien gehört auch viel Verantwortung. Und ich frage, ob Sie als Medien dieser großen Macht, die Sie haben, auch die Verantwortung gegenüberstellen, die Sie damit haben. Und da sagen mir viele Ihre Kolleginnen und Kollegen: Wir selber sind inzwischen erschreckt.
Ich zitiere auch einen Journalisten, einen bekannten, der sagt, er wollte einen Politiker begleiten, um ein Portrait zu machen. Und dann hat der Chef, der die Dienstreise genehmigen sollte, gesagt: Portrait machen? Das machen wir schon lange nicht mehr, aus welchem Jahrhundert sind Sie denn? — Ja, was machen wir denn? — Wir jagen sie.
Wissen Sie, da ist ne Veränderung innerhalb der Mediengesellschaft, mit immer weniger Leuten und unter immer größerem zeitlichen Druck, die immer schnellere Klicks findende, im Internet findende Schlagzeile. Und diese Problematik, die muss diskutiert werden. Weil: Die macht auch den Menschen Angst, wenn sie sagen, ist denn das alles seriös recherchiert, ist das denn alles überprüft, stimmt das denn alles? Natürlich haben Sie auch ein Glaubwürdigkeitsproblem, weil Sie quasi Dinge an die Wand gemalt haben, und am Ende neutrale Gerichte nach unendlich viel Verhandlungstagen mit unendlich viel Zeugen ganz klar erklärt haben: Es war nichts dran. Und das, finde ich, muss diskutiert werden. Wer sich der Diskussion entzieht, wird sich nicht wundern dürfen über abnehmendes Interesse auch an seriösen Qualitätsmedien. Ich glaube, diese Fragen kann Ihnen niemand ersparen.