Twitter-Kodex, “taff”, Gysi-Tricks

1. Auskunftsanspruch gegenüber Bundesbehörden: Netzwerk Recherche fordert schnelle gesetzliche Regelung
(netzwerkrecherche.org)
Anfragen von Journalisten haben Bundesbehörden immer mal wieder mit dem Argument unbeantwortet gelassen, dass die Landespressegesetze für sie nicht gelten. Gestern hat das Bundesverfassungsgericht bekanntgegeben, eine daran anknüpfende Beschwerde eines “Bild”-Reporters nicht anzunehmen; gleichzeitig sagt das Gericht aber, dass die Informationsrechte gegenüber Behörden des Bundes kein geringeres Niveau erreichen dürfen als auf Landesebene. Für Manfred Redels vom “Netzwerk Recherche” ist nun “der Gesetzgeber gefordert, schnell ‎eine Regelung auf den Weg zu bringen, die die Rechercherechte stärkt und auch bei Anfragen an Bundesbehörden für Klarheit sorgt”.

2. Twitter gibt sich einen Pressekodex
(konradlischka.info)
Mit seinem kürzlich gestarteten Angebot “Moments” hat sich Twitter endgültig von der reinen Plattform zum “Platisher” entwickelt und wildert jetzt im Geschäft der Publisher. Für den neuen Dienst wählen Redakteure Tweets aus und erstellen daraus kleine Geschichten. Dafür hat sich Twitter selbst Richtlinien auferlegt, die Konrad Lischka bekannt vorkommen: “Passagen dieses Dokuments lesen sich, als hätte Twitter den Pressekodex kopiert.” Für ihn ist das Vorgehen “ein Meilenstein”, da Suchmaschinen und soziale Netzwerke “als Publikumsverteiler ähnlich wie Medien” funktionierten. Allerdings seien die Richtlinien an einigen Stellen problematisch und könnten schon bald zu Problemen führen, etwa beim Schutz der Persönlichkeit und dem Umgang mit Richtigstellungen.

3. Juristisch falsche Berichterstattung des NDR zum Thema Identitätsdiebstahl
(internet-law.de, Thomas Stadler)
Den NDR-Bericht “Wie Kriminelle Identitäten missbrauchen” findet Thomas Stadler alarmistisch und “juristisch falsch”. Schließlich hafte man grundsätzlich nur für sein eigenes Verhalten — und nicht dafür, dass sich jemand der Identität bemächtigt hat und im Namen eines anderen Geschäfte tätigt.

4. Mir geht eure Sensationsgeilheit auf den Sack! #taff
(lilies-diary.com, Christine)
Snapchat-Fan Christine hat ein Kamerateam von “taff” ins Haus gelassen und ärgert sich im Nachhinein. “Das habe ich jetzt davon. Es lief eine völlig bescheuerte, teilweise frei erfundene Geschichte auf taff.” Der ganze Beitrag sei “auf einer Lüge aufgebaut”, schreibt sie: “Weder ich bin süchtig, noch habe ich Zeit 6 Stunden vor Snapchat zu hängen, noch ist meine Beziehung gefährdet.” Allerdings, so Alexander Krei bei DWDL, sei die 30-Jährige nicht ganz unschuldig am entstandenen Eindruck, schließlich habe sie “in der Vergangenheit gleich mehrfach mit einer Snapchat-Sucht kokettiert.”

5. The growing problem of Internet “link rot” and best practices for media and online publishers
(journalistsresource.org, Leighton Walter Kille, englisch)
Ein Problem, über das sich Print-Journalisten garantiert nie Gedanken machen müssen: Wie verlinke ich meine Quellen richtig? Online-Journalisten können dabei aber eine Menge falsch machen. Klar ist: Gar keine Links sind unsauber, aber auch mit dem Gegenteil tut man seinen Lesern keinen Gefallen — zu viele, wahllose Verweise schaden dem Lesefluss und stiften unnötig Verwirrung. Leighton Walter Kille gibt zehn wirklich wertvolle Tipps zum richtigen Umgang mit Hyperlinks — nicht nur für Journalisten, sondern für alle Menschen, die ins Internet schreiben.

6. So hat uns Gregor Gysi ausgetrickst
(heute.de, Andreas Kynast)
Gestern hatte Gregor Gysi seinen letzten Tag als Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag. “Der politische Langzeit-Erfolg” des Politikers beruhe zu einem Großteil auf seiner Wirkung im TV, schreibt ZDF-Korrespondent Andreas Kynast. Er stellt “sieben typische Gysi-Tricks” vor, “um im Fernsehen gut auszusehen”.

MH17 und die ukrainische Raketen-Ente aus Stuttgart

15 Monate nach dem Absturz des Malaysian-Airline-Fluges MH17 hat der niederländische Sicherheitsrat heute seine Untersuchungsergebnisse veröffentlicht. Das Flugzeug sei von einer Rakete abgeschossen worden, stellten die Ermittler fest.

Die Schuldfrage — Russland und die Ukraine machen sich gegenseitig für den Abschuss verantwortlich — ist bislang aber nicht geklärt, das Expertenteam hatte sie auch nicht untersucht. Auch von welchem Ort genau aus die Rakete abgefeuert wurde, lässt der Bericht offen.

Die “Stuttgarter Zeitung” wusste es trotzdem:

Absturz des Flugzeuges MH17: Abschuss durch ukrainische Buk-Rakete bestätigt - Die malaysische Passagiermaschine MH17 ist im Juli 2014 von einer ukrainischen ...
Die Maschine MH17 wurde im Juli 2014 von ukrainisch kontrolliertem Gebiet aus abgeschossen.

Als Quelle wird im Artikel die dpa angegeben, doch von “ukrainischer Buk-Rakete” oder “ukrainisch kontrolliertem Gebiet” hatte die Agentur gar nichts geschrieben. Im Gegenteil — in der Meldung steht ausdrücklich:

Von welchem Gebiet aus die Rakete abgefeuert wurde, teilte das Gremium nicht mit.

Das internationale Expertenteam unter niederländischer Leitung untersuchte nicht die Schuldfrage. Dies ist Gegenstand noch laufender strafrechtlicher Ermittlungen.

Inzwischen hat die “Stuttgarter Zeitung” den Artikel unauffällig geändert. Warum zuvor von einer ukrainischen Rakete die Rede war, konnte uns die Redaktion heute Abend nicht genau erklären. Es sei aber ein Versehen gewesen.

Mit Dank an Peter W.!

Nachtrag, 23.08 Uhr: Unter dem Artikel steht nun ein “Hinweis der Redaktion”:

In einer früheren Version dieses Artikel hieß es, die Rakete sei von ukrainisch kontrolliertem Gebiet aus abgefeuert worden. Bei dieser Aussage handelte es sich um einen redaktionellen Fehler – wir bitten alle Leser, dies zu entschuldigen.

Himmelhoch jauchzend, zu Tode vergnügt

Nun will Facebook also Emojis einführen. Statt ein Foto, ein Posting, einen Link nur zu liken, können ausgewählte Nutzer jetzt testweise ihre Zustimmung oder Ablehnung oder Überraschung durch kleine Symbole kundtun: ein Herz zum Beispiel oder ein Gesicht mit einer Träne.

Aber gibt’s das nicht schon längst woanders?

Sicher nicht ohne Stolz retweetet Kai Diekmann — nicht nur “Bild”-Chef, sondern auch Herausgeber von Bild.de –, dass Facebook bei ihm und seinem Team abkupfere.

Man könnte einwenden, dass Facebook ein entsprechendes Patent bereits im März 2013 angemeldet hat, also lange bevor Bild.de mit dem sogenannten Moodtagging loslegte. Und auch, dass in der Medienbranche beispielsweise “Buzzfeed” viel früher eine solche Funktion eingeführt hat.

Aber: Bild.de war mit dabei. Wenn es zum Beispiel ein Feuer im Flüchtlingscamp gab, und die Redaktion darüber berichtet hat, konnten die Leser mit einem Klick ihr Entsetzen ihre Freude darüber äußern:

Diese Reaktion über ein Unglück war keine Ausnahme. Ein Schwertfisch spießt einen Seemann auf? Lachen! Ein toter Porsche-Fahrer? Lachen! Gleichstellung für Homo-Ehe? Wut!















Dabei war es durchaus möglich, das Tool bei einzelnen Texten auszuschalten — zum Beispiel bei Kommentaren der “Bild”-Chefs. Wissen wir bis heute nicht, warum es nicht auch bei solchen Artikeln gemacht wurde:




Seit ein paar Wochen ist das Moodtagging bei Bild.de nicht mehr zu finden, die Redaktion hat die Funktion abgestellt.

Verurteilung in Iran, schlankes Web, Playboy

1. Events leading up to reporter Jason Rezaian’s reported conviction in Iran
(washingtonpost.com, Joby Warrick, englisch)
Jason Rezaian, der Bürochef der “Washington Post” in Teheran, ist von einem iranischen Gericht wegen Spionage verurteilt worden. Ein Strafmaß wurde noch nicht festgelegt. Festgenommen wurden Rezaian und seine Frau, ebenfalls Journalistin, bereits im Juli vergangenen Jahres. Gegen Rezaian wurde im März das Verfahren eröffnet — für etwas, das von vielen Menschen auf der Welt als “Journalismus” bezeichnet werden würde. Bei vox.com gibt es eine Linkliste zum Thema.

2. amphtml
(wirres.net, Felix Schwenzel)
Mit dem “Project AMP” versucht Google, das Web schlanker und schneller zu machen. Wer sich bisher noch nicht damit auseinandergesetzt hat, sollte es wohl spätestens jetzt tun. Denn der geschätzte Felix Schwenzel befindet: “insgesamt sehe ich das amp-projekt als eine der spannensten sachen die dem web seit dem web 2.0 passiert ist.”

3. “Störsender” — Das illegale Radio Freies Drvar
(deutschlandradio.de, Karla Engelhard, Audio, 3:24 Minuten)
Ein Generator, etwas Benzin — und schon ist “Radio Freies Drvar” auf Sendung. Von einem unbekannten Ort im Westen von Bosnien und Herzegowina aus verbreitet das Team ein- bis zweimal pro Woche sein illegales Programm. Die Namen der Macher sind bekannt; und dennoch kritisieren sie gern die korrupte Führungselite der Region. “Sie äußern das, was viele Menschen denken, was aber niemand wagt zu sagen”, so ein Hörer.

4. Blendle und Pocketstory: Das kaufen die Deutschen im Digitalkiosk
(spiegel.de, Markus Böhm)
Mitte September ist “Blendle” offiziell in Deutschland gestartet. Nach einem Monat lässt sich der Digitalkiosk in die Karten schauen und veröffentlicht eine Top 5 der meistgekauften Artikel. Auf Nachfrage von Markus Böhm enthüllt auch der Hamburger “Blendle”-Konkurrent “Pocketstory” seine fünf am häufigsten nachgefragten Texte. Passend dazu eine Zwischenbilanz von “Blendle”-Gründer Marten Blankesteijn: “In Deutschland sind wir mehr als viermal so schnell gewachsen wie im Launch-Monat in Holland. Auch vier Mal schneller haben wir den Meilenstein von 50.000 verkauften Artikeln erreicht.”

5. Nudes Are Old News at Playboy
(nytimes.com, Ravi Somaiya, englisch)
Der “Playboy” zieht die Häschen wieder an: Ab März sollen die abgebildeten Frauen nicht mehr komplett nackt sein. “You’re now one click away from every sex act imaginable for free. And so it’s just passé at this juncture”, sagte Geschäftsführer Scott Flanders. Stellt sich bloß die Frage: “If you take nudity out, what’s left?” “NYT”-Reporter Ravi Somaiya wirft einen Blick auf die Geschichte des Magazins.

6. FAQ für Besorgte Bürger
(ennolenze.de)
Warum kommen die Flüchtlinge nur zu uns? Müssen hier bald alle Burka tragen? Und wer kümmert sich um unsere Obdachlosen? Enno Lenze gibt Antworten.

Wo laufen sie denn?

Der “Fan Run” sollte der nächste Höhepunkt der selbstlosen “Wir helfen”Werbekampagne der “Bild”-Zeitung werden. Die Idee: Gemeinsam mit dem FC Bayern München einen Fünf-Kilometer-Lauf initiieren (als besonderes Leckerli dürfen die Teilnehmer im Innenraum des Bayern-Stadions eine Runde drehen), die Startgebühr von knapp 30 Euro pro Person soll — nach Abzug der Steuern — an die “Bild”-Stiftung “Ein Herz für Kinder” gehen. Und, schwups, wieder einmal den Feuerlöscher gemimt.

Seit Bekanntwerden der Pläne haben die “Bild”-Medien eifrig für den “Fan Run” getrommelt:




Klar, es gab auch Gegenwind. Gleich zu Beginn hatten Bayern-Fans in ihrem Blog “Miasanrot” moniert, dass nicht genau klar sei, wofür die Teilnahmegebühren verwendet werden, die Organisationsstruktur undurchsichtig sei und Daten der Läufer an den Axel-Springer-Verlag weitergeben würden. Einige der Punkte haben die Veranstalter ausgemerzt. Doch bis zuletzt gab es Kritik.

Alles kein Problem für die “Bild”-Profis, die direkt den Werbekonter einleiteten: Der frühere Fanliebling Hasan Salihamidzic forderte bei Bild.de:

Und “Bild”-Kumpel Lothar Matthäus jubelte:

Total super und riesig werde das alles, kündigten “Bild” und den FC Bayern an. “Tausende” Menschen würden teilnehmen:

Vergangenen Samstag fand der “Traum für alle Fans” schließlich statt. Es kamen: “über 500 Läufer”.

Mit Dank an Florian E.

Fehlalarm, Alternativmedien, Expertentum

1. Gefährliches Geschäft
(sueddeutsche.de, David Denk)
“Die Lage für Journalisten ist generell prekärer, gefährlicher geworden.” Das sagt Astrid Frohloff, die nach zwölf Jahren im Vorstand der deutschen Sektion von “Reporter ohne Grenzen” ihr Amt aufgibt. Während Journalisten in Ländern wie Syrien und dem Irak um ihr Leben fürchten müssten und auf Demonstrationen in Kiew oder Hongkong massiv in ihrer Arbeit behindert würden, zeuge der Fall von Netzpolitik.org auch hierzulande von einer “irritierenden Geringschätzung journalistischer Arbeit und des Stellenwerts der Presse durch die Politik”.

2. Terroristen unter Flüchtlingen? Wie man mit Fehlalarmen Alarm schlägt
(stefan-niggemeier.de, Stefan Niggemeier)
Viele Medien berichteten vergangene Woche besorgt über eine Aussage von Bundesinnenminister de Maizière. Der hatte in einem Interview gesagt, es gebe Hinweise, “dass sich Terroristen unter die Flüchtlinge mischen.” Was in den meisten Überschriften und Teasern allerdings nicht stand: Zwei Sätze später sagte de Maizère, dass sich “keiner dieser Hinweise” “irgendwie bewahrheitet” habe.

3. Richtig oder falsch gerechnet mit Flüchtlingen?
(scilogs.de, Markus Pössel)
“Nützt Deutschland die Migration? Manche Studien behaupten das. Aber manche Forscher wollen lieber gut als wahrhaftig sein”, kommentiert Winand von Petersdorff-Campen in der “FAS”. Markus Pössel wundert sich über dessen Kritik an den Studien von IWF, Weltbank und NGOs: “Um den Text zu verfassen, so, wie er da steht, hätte der Autor die Studien noch nicht einmal in die Hand nehmen, geschweige denn durcharbeiten müssen.”

4. Die Stimmen des digitalen Untergrunds
(nzz.ch, Markus Linden)
Im August veröffentlichte der Publizist Wolfgang Storz eine Kurzstudie über alternative Medien. Die “Querfront”-Studie ist derzeit wegen juristischer Auseinandersetzungen nicht abrufbar, unter anderem weil sich Albrecht Müller von den linken “Nachdenkseiten” zu Unrecht in einen Topf mit Jürgen Elsässer oder Ken Jebsen geworfen sah. Der Politikwissenschaftler Markus Linden analysiert die Szene in Deutschland und der Schweiz und erkennt “bei den fundamental systemkritischen Alternativmedien Überschneidungen”, die “die Links-Rechts-Unterteilung transzendieren.”

5. Mehr Grexpertise, bitte!
(ejo-online.eu, Hanno Beck)
Arturo da Silva gab sich als Berater der Uno und der Weltbank, als Professor am Milton College und als ehemaliger Berater des portugiesischen Präsidenten aus — und wurde zum gefeierten Experten und Medienstar in Portugal. Hanno Beck nimmt das zum Anlass, um die “mediale Expertenkultur zu studieren”, am Beispiel deutscher Talkshows. Sein Fazit: “Die Komplexitätsreduktionskompetenz ist das einigende Band, das alle Talkshow-Protagonisten eint: Kurze Sätze, knackige, polarisierende Statements — am besten unter 30 Sekunden.”

6. Körperliche Schmerzen: Übergeben will gelernt sein
(dwdl.de, Hans Hoff)
Hans Hoff hat manchmal Schmerzen, wenn er vor dem Fernseher sitzt. Immer dann, wenn ein ARD-Magazin wie “Panorama” zu den “Tagesthemen” überleitet (Stichwort: “Audience Flow”), ertrage er es nicht, wie die gute Absicht baden gehe: “Das ist so komplett sinnentleert, dass es mich stets aufs Neue graust.”

“Falsche Syrer”, Interviews, #aufschrei

1. “Falsche Syrer”: Wie der Innenminister Gerüchte schürt
(daserste.ndr.de, Robert Bongen & Stefan Buchen)
Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat behauptet, dass sich 30 Prozent der Asylsuchenden als Syrer ausgeben, aber eigentlich keine seien. “Panorama” kritisiert, dass für diese Zahl jeder Beleg fehlt. Auf Nachfrage bestätigt das Innenministerium, dass es dazu gar keine Statistiken gibt. Auch Bundeskanzlerin Merkel hat bei Anne Will eine Studie zu Flüchtlingen zitiert, die laut den Krautreportern “problematisch” ist.

2. Verfassungsgericht stärkt Rechte von Demonstrationsbeobachtern
(netzpolitik.org, Nikolai Schnarrenberger)
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, “dass die Dokumentation von polizeilichen Filmteams legal ist.” Wer die Arbeit der Polizei filmt oder fotografiert, dürfe dafür “nicht per se auch einer Identitätsfeststellung unterzogen werden”, schreibt Nikolai Schnarrenberger. Geklagt hatte ein Mitglied der Göttinger Gruppe „BürgerInnen beobachten Polizei und Justiz“.

3. Mit Müll zugeschüttet
(taz.de, Anne Wizorek)
Anfang 2013 verschickte Anne Wizorek den ersten Tweet mit dem Hashtag #aufschrei. Sie wollte ein Zeichen gegen Alltagssexismus setzen. Mittlerweile benutzen selbst Ulf Poschardt und Birgit Kelle den Hashtag. Wizorek fordert deshalb: „#schauhin wenn Rechtskonservative einen Hashtag wie #aufschrei kapern wollen, um ihren rassistischen Müll zu legitimieren.“

4. Das Gegenteil von Ambition: ze.tt und bento
(datenjournalist.de, Lorenz Matzat)
Byou, Bento, Ze.tt – die Jugendangebote der Verlage sprießen aus dem Boden, und nahezu täglich erscheinen neue Texte, die erklären, warum dies und jenes Portal toll/medioker/peinlich/katastrophal ist, bevorzugt aus Sicht „der Zielgruppe“ (s. Link Nr. 2). Die Kritik von Lorenz Matzat fällt weniger polemisch, dafür aber substantieller aus. Er fragt sich, warum derart schlagkräftige Verlagshäuser wie „Spiegel“ und „Zeit“ nicht mehr gewagt haben und sich auf „den abgegriffenen Mix aus Gifs, Youtube-Videos und Instagram-Bildern“ beschränken, anstatt in Datenjournalismus, mobile Reporting oder mehr Mulitmedia-Kompetenz zu investieren.

5. „Plastikwörter sind schlimme Quellen der Unbill“
(abzv.de, Mario Müller-Dofel)
Steffen Range, Wirtschaftsressortleiter und Digital-Chef bei der „Schwäbischen Zeitung“, hat in seinem Berufsleben nach eigenen Angaben bislang „weit über 1000“ Interview geführt und redigiert. Er sollte also ein Experte für Interviews sein, und dementsprechend folgerichtig erscheint es, mit ihm ein Interview über Interviews zu führen. Range gibt Tipps, wie man sich darauf vorbereitet, wie man langweilige Gespräche durch Redigieren retten kann – und lobt eine umstrittene deutsche Eigenart: „Ich verstehe die Aufregung um das Thema nicht. Die Autorisierungspraxis ist ganz vernünftig.“

6. Poschardts Kinder
(titanic-magazin.de, Oliver Maria Schmitt)
Oliver Maria Schmitt begleitet in Gedanken Ulf Poschardt durch die “Straßen von Großberlin”. Poschardt, “promovierter Polofahrer” und stellvertretender Chef der “Welt”-Gruppe, denkt über seine neusten Journalisteneinkäufe nach, die Mitglieder der “Poschardtjugend”, die “flink wie Schoßhunde, zäh wie Nappaleder und hart wie die Kronkorken von Club-Mate” sind; und über die absolute Story, für die sie ihn “endlasermäßig hart feiern” werden in Berlin.

Popstar Hitler, Nobelpreis, Satire

1. Mutig: Abdollahi zog vier Wochen ins Nazidorf
(ndr.de, Linda Luft, Video, 6:20 Minuten)
Schon das Experiment an sich ist spannend: Der deutsch-iranische “Panorama”-Reporter Michel Abdollahi wohnt vier Wochen “im Nazidorf” Jamel. Und dann das: Die Nazis sind ganz nett. Linda Luft geht in ihrem “Zapp”-Beitrag der Frage nach, ob die Berichterstattung über Rechte differenzierter werden muss.

2. “Titanic”-Chef: “Ich bin traurig, dass Benedikt nicht mehr Papst ist”
(derstandard.at, Oliver Mark)
Es gibt eine Handvoll Medien, mit denen sich der Presserat besonders häufig beschäftigen muss. Dazu gehören die “Bild”-Zeitung – und die “Titanic”. Deren Chefredakteur Tim Wolff findet das aber gar nicht so schlimm: “Ich schätze Presseräte sehr, ja, ich finde sie geradezu niedlich.” Ein Interview über den Papst, den Islam und die Grenzen der Satire.

3. Da geht noch mehr
(taz.de, Paul Wrusch)
Paul Wrusch stellt Medienangebote für Flüchtlinge vor und dabei fest, dass Radio und Fernsehen weiter sind als Printmedien. Das liege daran, dass gesprochenes Wort schneller als geschriebene Texte in verschiedene Sprachen übersetzt werden könne. Außerdem bemerkt der “taz”-Autor, dass vor allem Boulevardmedien Projekte für Flüchtlinge gestartet haben. Die seien aber meist einmalig oder zeitlich begrenzt und sollten daher eher als PR-Aktion für das eigene Haus dienen.

4. Merkel bekommt den Nobelpreis
(indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
Thomas Knüwer beschäftigt sich mit Zeitungsmeldungen über einen möglichen Friedensnobelpreis für Angela Merkel. Dabei fällt auf, dass es für diese Spekulation nur eine einzige Quelle gibt, die nicht einmal besonders gut ist (das aber auch nicht behauptet). Hinzu kommt: laut den Statuten des Komitees könnte die Kanzlerin zwar theoretisch den Friedensnobelpreis bekommen – aber jedenfalls nicht für ihr Engagement für Flüchtlinge, findet Knüwer.

5. „Ich muss mit dieser Arbeit mittlerweile meine Miete bezahlen”
(trendingtopics.at, Jakob Steinschaden)
Ein Interview mit Fritz Jergitsch, der sein Studium geschmissen hat und stattdessen Die Tagespresse leitet, das bekannteste Satireportal Österreichs.

6. GröPaZ: Warum Adolf Hitler der größte Popstar der Welt ist, aber sich keiner traut, es zu sagen.
(zebrabutter.net, Mathias Mertens und Merlin Schumacher)
Ein schwarzes Dreieck, ein schwarzes Viereck, beides richtig angeordnet, und schon sieht man: Adolf Hitler. Ob bei “Switch reloaded”, in britischen Sitcoms oder seit heute im Kino — Hitler ist noch immer ständig in der Popkultur zu finden und damit “einer der größten Popstars der Welt”, schreiben Mathias Mertens und Merlin Schumacher. Passend dazu: “taz”-Kriegsreporterin Silke Burmester in ihrer Kolumne unter anderem über eine geplante zehnteilige Hitler-TV-Serie; und der “Tagesspiegel”, der sich für eine unglückliche Hitler-Flüchtlingskrisen-Titelseite entschuldigt.

Medien sprechen Reisewarnung für Ostdeutschland aus

Große Aufregung in der vergangenen Woche:

Die Regierung in Kanada hat eine Reisewarnung für Ostdeutschland herausgegeben. Darin ist die Rede von extremistischen Jugendbanden, die in Teilen Ostdeutschlands eine Bedrohung darstellten. Mitglieder solcher Gangs seien bekannt dafür, Personen wegen ihrer Rasse oder ihres ausländischen Aussehens zu belästigen oder direkt zu attackieren. Auch habe es schon Brandanschläge auf parkende Fahrzeuge gegeben.

Die „Warnung aus Kanada konkret für Ostdeutschland“ komme „nicht von ungefähr“, schreibt das „Handelsblatt“: “Die ausländerfeindliche Pegida-Bewegung verzeichnet in Dresden in Sachsen weiter Zulauf.”

Darauf habe die kanadische Regierung also reagiert. Und das schmeckt den hiesigen Politikern so gar nicht.

Die Sachsen-CDU reagiert empört auf die Reisewarnung. „Das entspricht nicht der Realität und ist extrem rufschädigend“, sagte der Generalsekretär der sächsischen CDU und Vize-Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Michael Kretschmer, dem Handelsblatt. „Deutschland muss dieser Beurteilung entschieden entgegen treten.“

Bevor Deutschland damit loslegt, würden wir ihm raten, sich ein bisschen besser zu informieren als das “Handelsblatt” oder der Herr Generalsekretär. Die Geschichte stimmt nämlich gar nicht.

Kanada hat keine Reisewarnung für Deutschland herausgegeben. Es gelten nach wie vor die „normalen Sicherheitsvorkehrungen“, also die niedrigste Sicherheitsstufe.

Auf der Internetseite der kanadischen Regierung gibt es lediglich einige Sicherheitshinweise für Deutschland. Da wird zum Beispiel vor Taschendieben „an Bahnhöfen, auf Flughäfen und Weihnachtsmärkten“ gewarnt. Oder davor, dass Demonstrationen ohne Vorwarnung in Gewalt umschlagen könnten. Oder eben vor extremistischen Jugendgruppen, die besonders „in einigen kleineren Städten und in Teilen des früheren Ostdeutschlands“ eine Bedrohung seien.

Das „Handelsblatt“ verdreht diesen Vermerk zu einer „Reisewarnung für Ostdeutschland“. Und erweckt den Eindruck, als reagiere die kanadische Regierung damit auf „Pegida“ & Co. – aber auch das ist falsch. Die Hinweise stehen nicht erst seit Neuestem auf der kanadischen Seite (wie auch ein Blick in die Wayback-Machine verraten hätte), sondern seit zehn Jahren.

Was sich vor dem Hintergrund der Angriffe auf Flüchtlingsheime vor allem im Osten der Republik wie eine aktuelle Zustandsbeschreibung liest, stammt allerdings schon aus dem Jahr 2005.

schreibt „Zeit Online“, eines der wenigen Medien, die nicht einfach blind vom “Handelsblatt” abgeschrieben haben.

Nur ein Hinweis zu gestiegenen Flüchtlingszahlen in Europa sei am 28. September neu hinzugekommen, sagt die Sprecherin der kanadischen Botschaft in Berlin, Jennifer Broadbridge ZEIT ONLINE. Dadurch könne es zu Verspätungen an Grenzübergängen und Bahnhöfen kommen, steht in dem Absatz.

Anders gesagt: Das einzig Neue an den der Geschichte ist, dass die kanadische Regierung vor Verzögerungen im Zugverkehr warnt. Alles andere ist entweder falsch oder mindestens zehn Jahre alt.

Das muss jetzt nur noch jemand dem “Handelsblatt” erklären. Und der “Thüringer Allgemeinen”:

Und “Spiegel Online”:

Und stern.de:

Und der “tz”:

Und der “Huffington Post”:

Und den vielen, vielen anderen.

Immerhin: Es gibt noch eine Handvoll Journalisten, die erkannt haben, dass das alles Unsinn ist. Bernhard Honnigfort etwa schreibt auf der Onlineseite der „Frankfurter Rundschau“:

Tatsache ist, Kanada hat nicht vor Reisen nach Ostdeutschland gewarnt, sondern bittet seine Landsleute nur darum, aufzupassen und wachsam zu sein.

Und:

Natürlich ist das lange bekannt und der kanadische Warnhinweis ist nicht neu, sondern nur aktualisiert.

Natürlich. Und dass er das Märchen zuvor selbst ganz empört verbreitet hatte, sowohl in der “FR”

… als auch in der „Berliner Zeitung“

… im „Express“

… im „Berliner Kurier“

… und in der „Mopo“

… das erwähnt Honnigfort – natürlich – nicht.

Bei “Focus Online”, wo ebenfalls eindringlich über den Fall berichtet wird …

… haben sie sich nicht bloß auf die falschen Fakten der Kollegen verlassen, sondern selbst welche erfunden. Das Portal schreibt:

Auch vor in Brand gesteckten geparkten Autos wird gewarnt – das betreffe vor allem Berlin.

Berlin wird in den Hinweisen an keiner Stelle erwähnt.

So zieht die Geschichte munter ihre Kreise und wird mit jedem Mal ein bisschen weniger wahr.

Man will sich gar nicht vorstellen, was die kanadische Botschaft inzwischen denkt. Auf Anfrage gibt sie sich aber, klar: diplomatisch. Dem Evangelischen Pressedienst sagte die Sprecherin, man könne die ganze Aufregung zwar nicht nachvollziehen, jedoch würde die Ostdeutschland-Passage „angesichts der aktuellen Debatte” nun “geprüft und möglicherweise in den kommenden Tagen geändert“.

In den Sicherheitshinweisen schreibt die Regierung übrigens, dass man, wenn man in Deutschland unterwegs sei, „die lokalen Medien verfolgen“ solle. Auch ein Ratschlag, über den man mal nachdenken könnte.

Mit Dank an Holger S.

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